»Er weiß, daß er die Wahl verloren hat«
Am Tisch des Kanzlers ging es rund. Norbert Blüm brüllte Franz Josef Strauß an: »Sie können mich nicht beeindrucken, auch nicht durch Ihre Schreierei.« Strauß konterte knapp: »Büttenredner.« Darauf Blüm: »Vokabular des politischen Gegners.«
Friedrich Zimmermann fetzte gegen Heiner Geißler: »Beleidigung«, das Benehmen des CDU-Generalsekretärs sei »unerhört und empörend«. Geißler: »Ich habe nichts zurückzunehmen.« Der CDU-General hatte den CSU-Bundesministern öffentlich Versagen vorgeworfen, die »Leistungsträger dieser Regierung«, so Geißler im SPIEGEL, seien ausschließlich »CDU-Leute« gewesen.
CSU-Chef Strauß leitete aus dem miserablen Abschneiden der Union bei der Bundestagswahl die Schicksalsfrage für Helmut Kohl ab: »War das ein Ausrutscher, oder signalisiert das einen Trend?« - abwärts bis zum Machtverlust? Was nun, Herr Kohl?
Am vorigen Mittwoch, als Spitzenpolitiker der schwarzen Schwestern CDU und CSU im Kanzleramt erstmals zusammengekommen waren, um über die Wahl zu debattieren und die Koalitionsgespräche mit den Freidemokraten vorzubereiten, saß einer meistens schweigend dabei - Helmut Kohl, der Vater des traurigen Sieges.
Hämte Strauß hinterher: Der Regierungschef sei »sehr zurückhaltend« gewesen, habe »wenig gesagt«. Und: »Kohls Dispositionsfreiheit ist nicht größer geworden. Er weiß innerlich, daß er die Wahl verloren hat.«
Der Titelverteidiger, der seiner Union mit 44,3 Prozent das mieseste Ergebnis seit 1949 beschert hatte, wollte in der vergangenen Woche vor allem eins: nicht auffallen, nur ja keinen Anlaß für Diskussionen zur Person bieten.
Vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion streifte Kohl kurz den Wahlausgang und redete lieber davon, daß die Deutschen mehr Kinder bräuchten, daß er beeindruckt gewesen sei von Erich Honeckers Neujahrskonzert, daß mehr zu geschehen habe in Bonns auswärtiger Kulturpolitik.
Im CDU-Präsidium vermied Kohl jedes Wort der Kritik an dem Baden-Württemberger
Lothar Späth oder dem Nordrhein-Westfalen Kurt Biedenkopf in deren Ländern die CDU besonders schlecht abgeschnitten hatte.
Das war nicht der Riese aus der Pfalz selbstbewußt und selbstgerecht. Kohl backte kleine Brötchen. FJS berichtete über sein Vier-Augen-Gespräch am Mittwoch mit dem Kanzler, Kohl sei »sehr nachdenklich« gewesen, trotz seines nach außen gezeigten »gegenteiligen Habitus«. Der Kanzler habe darum gebeten, »die Schuldzuweisungen aufzugeben«.
Nach seinem Sieg am 6. März 1983 hatte er noch Programm und Personal nach eigenem Gutdünken bestimmt Jetzt brauchte er Hilfe.
Schon am Wahlabend hatte sich CDU-Generalsekretär Geißler ins Gefecht geworfen und in rüden Attacken die Schuld am Wahldebakel der bayrischen Schwesterpartei zugeschoben, vor allem ihrem Vorsitzenden Strauß. Hauptzweck der Vorwärtsverteidigung Geißlers: den wahren Verantwortlichen, den CDU-Chef Kohl, so gut es ging, aus dem Schlamassel herauszuhalten, eine Kanzler-Diskussion zu vermeiden.
So drosch er auf die Bayern ein: Sie hätten die FDP hochgeschimpft. Über das Lieblingsthema des Franz Josef Strauß, die Bundewirkung der Ostverträge für eine gesamtdeutsche Regierung, spottete Geißler: Es sei »ungefähr politisch so relevant wie die Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben«.
Die Ablenkungsangriffe zeitigten, einstweilen, die beabsichtigte - und von Strauß, einem der Mitschuldigen des Wahldebakels, insgeheim durchaus gewünschte - Wirkung. Die CSU reagierte gereizt, scharte sich um ihren attackierten Vorsitzenden.
Der CSU-Generalsekretär Gerold Tandler konterte im »Bayernkurier« auf Geißler: »Wer gar noch nach der Wahl wie der Generalsekretär der CDU im SPIEGEL, die Behauptung aufstellt, die CSU habe im Wahlkampf die Entspannungspolitik in Frage gestellt, übernimmt die Argumentation des politischen Gegners.«
Eine Spalte daneben stieß Edmund Stoiber ins gleiche Horn: »Dreister geht es kaum mehr«, urteilte er über die Attacken Geißlers und höhnte, der CDU-General »wäre außerordentlich gut beraten, zunächst einmal lange nachdrücklich und gründlich vor der eigenen Tür zu kehren«.
Doch Geißler ließ das alles kalt. »Bestimmte Dinge« würden »von der CDU nicht akzeptiert«, erklärte er am Mittwoch und wiederholte seinen Vorwurf: Aussagen führender CSU-Politiker seien »Wasser auf die Mühlen der FDP« gewesen.
Das erboste Strauß noch mehr: »Geißler benimmt sich flegelhaft«, rügte er.
Der CDU-General stand beim CDU/ CSU-Spitzengespräch nicht allein. Auch Norbert Blüm sprang dem Kanzler bei und profilierte sich als entschiedener Gegner jeglicher Rechtstendenzen, wie sie der Arbeitsminister in Straußens Kampagne für großzügige Waffenexporte, gegen Hans-Dietrich Genschers Entspannungspolitik und für das Apartheid-Regime in Südafrika ausgemacht hatte.
Laut verlas Blüm Kostproben aus einer gemeinsam mit Geißler erarbeiteten Sammlung von CSU-Zitaten, die gegen das verabredete gemeinsame Wahlkonzept der C-Parteien verstoßen und die umworbenen Wähler der Mitte zur FDP getrieben hätten. Strauß hielt sarkastisch dagegen: »Die Getreidebauern und Schweineproduzenten in Niederbayern sind aus Rücksicht auf die Entspannungspolitik davon abgehalten worden, uns zu wählen« (siehe Seite 22).
Wahlkampfexperten im Bonner Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale, waren sich am Ende voriger Woche nach dem ersten Zusammenprall der Bonner und der Münchner sicher: Wenn Geißler und Blüm nicht für Kohl in die Bresche gesprungen wären, hätte es schlimm ausgesehen für den Kanzler. Geißler rühmte sich: »Ich habe eine Abwehrschlacht für den Kohl geschlagen.« Was der gereizte Strauß wiederum bezweifelt: »So g'scheit ist der net.«
Geißler und Blüm beide vom sozialreformerischen Flügel der CDU, hatten am Mittwoch rasch verstanden, daß Franz Josef Strauß nicht nur daran lag nachzukarten. Ihm ging es vor allem um den künftigen Kurs der Union. Die CDU/CSU könne, so der Bayer am Kanzlertisch, künftig nur mehrheitsfähig bleiben, wenn sie von der Mitte bis zum rechten Rand der Wählerschaft alles abdecke. Strauß klagte, an den Flügeln machten sich Gruppen selbständig, weil die Integrationskraft der großen Volksparteien zurückgehe.
Welche Sorge ihn plagt, hatte er tags zuvor den alten und neuen Abgeordneten der CSU-Landesgruppe dargelegt. Warnendes Beispiel sei die Entwicklung der SPD, an derem linken Rand sich »eine linksextremistische Partei«, die Grünen, »diese Chlorophyllkommunisten«, dauerhaft zu etablieren scheine.
Es werde nicht mehr lange dauern, so Strauß, bis sich auch auf dem rechten Rand eine Partei bilde, die ,dann die Union in größere Schwierigkeiten bringt«. Ohne im Wahlkampf besonders aufzufallen, sei die NPD von 90000 auf mehr als 200000 Stimmen angewachsen. Und Franz Schönhubers Republikaner, die bei der bayrischen Landtagswahl aus dem Stand drei Prozent erzielten, hätten laut Strauß, wären sie bundesweit angetreten,
die Union »unter 44 Prozent« gedrückt.
Im engsten Vertrauten-Kreis war der Bayer letzte Woche in Bonn noch deutlicher geworden: In Kohl habe die Union keine überragende Integrationsfigur, deren Charisma bis in den rechten Randbereich abstrahle. So könne die Partei unter diesem Mann »ohne Führungskraft«, der zu »hirnrissigen« Ausfällen neige, leicht zu einem konturlosen Gebilde werden, das erst auf 42 Prozent und dann auf 39 Prozent schrumpfe.
CDU-Mann Blüm konterte bei der Krachsitzung im Kanzleramt das Untergangsszenario des Bayern: Die Union sei eine Partei der Mitte, von Kapitalismus und Sozialismus gleich weit entfernt. Wenn er sich recht erinnere, so Blüm stamme diese »Definition von Franz Josef Strauß«. Die Unionsklientel sei nicht ideologisch fixiert. Eine unter Oskar Lafontaine nach links rückende SPD mache in der Mitte bei klassischen Arbeitnehmerwahlern Platz für die Union.
Der Arbeitsminister widersprach der Strauß-These, die Union müsse ganz weit nach rechts ausholen. Die Integrationskraft der Volkspartei habe Grenzen: »0,3 Prozent rechts weniger ist nicht so schlimm wie drei Prozent in der Mitte.« Blüm setzte noch eins drauf: »Ich bleibe dabei, in der Mitte haben wir verloren mit rechten Themen.« Strauß: »So ein Quatsch«, der Minister solle sich seine »Belehrungen sparen«. Und gleich darauf: »Reden S' doch, was Sie wollen.«
Dann versuchte FJS den CDU-Mann festzunageln: »Sind wir Rechtsrucker oder nicht?« Blüm: »Was ist denn das? Das Wort kenne ich nicht.« Anstelle von Blüm bejahte Geißler die Frage: Strauß' Eintreten für freien Waffenexport und gegen die Entspannungspolitik hätte, das zeigten die Umfragen in der letzten Wahlkampfphase eindeutig, wie ein Rechtsruck gewirkt.
Strauß hielt dagegen: Nicht er habe im Wahlkampf der FDP Stimmen zugetrieben. Kohl und Geißler hätten es doch von Anfang an darauf angelegt, die FDP langfristig als Koalitionspartner hochzupäppeln, anstatt sie mit profilierter Unionspolitik zu bekämpfen.
Erneut blockten ihn die beiden Kohl-Verteidiger ab: Sie hätten »keinen Nachholbedarf«, sich von der FDP abzugrenzen. Eher wohl Strauß selbst. Denn schließlich mache er gemeinsame Sache mit den Liberalen. Früher hätten sie einträchtig die steuerliche Zwangsabgabe auf Top-Einkommen abgelehnt, heute seien sie sich einig darin, den Spitzensteuersatz für die Reichen zu senken (siehe Seite 21).
So geriet die vorgesehene Wahlanalyse zur Putz- und Flickstunde der Unionschristen: statt gemeinsamer Strategie für die Zukunft Streit um die Richtung.
Nicht etwa aus Liebe zu Kohl haben sich Geißler und Blüm für ihren Kanzler geschlagen. Die beiden riskierten die große Lippe gegenüber Franz Josef aus Eigennutz. Sie hofften, sich auf diese Weise den Kanzler zu verpflichten und ihn für ihre politischen Ziele in der 11. Legislaturperiode zu gewinnen.
Während der zurückliegenden viereinhalb Jahre hatten sie sich oft genug dem Spardiktat des Finanzministers und dem Regierungschef fügen müssen. In den kommenden Jahren, verlangte das Duo müßten die sozialpolitischen Ziele Vorrang haben. Blüm und Geißler wollen Kohl auf ihre Seite ziehen, wenn es darum geht, die große Steuerreform so zu gestalten, daß genügend Spielraum bleibt für ein Bukett von Wohltaten für Familien, Jugendliche, Frauen, Behinderte. Außerdem wollen die beiden verhindern, daß die Steuergeschenke die finanziellen Reserven für die fällige Rentenreform aufbrauchen.
Aber es geht Geißler noch um mehr. Ihn plagen, wie Strauß, Sorgen um die Zukunft seiner »guten CDU«, die er als einzige Partei für »strukturell mehrheitsfähig« hält. Doch nach dieser Wahl kommen auch ihm Zweifel.
Im CDU-Präsidium widersprach er nicht, als der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht feststellte, die Parteienlandschaft habe sich grundlegend verändert. Nach dem neuerlichen Erfolg der Grünen sei klar: Schon vier Parteien hätten sich dauerhaft etabliert.
Die CDU-Häuptlinge mußten sich eingestehen, daß auch die Union mit ihren traditionellen Politik-Angeboten nicht länger automatisch bei ihrer bisherigen Stammkundschaft ankommt. Die Wähler sind sensibler und mobiler geworden.
»Schon heute sind die grünen Gefühle«, so Warnfried Dettling, ein Bonner Polittheoretiker der CDU, der lange im Adenauer-Haus für Geißler gearbeitet hat, »weiter verbreitet als die grünen Prozente - sie reichen bis tief in die Mitte der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft hinein« (siehe Seite 20).
»Die übliche Aussitzerei nutzt nicht mehr viel«, befand einer der CDU-Patriarchen, der frühere Arbeitsminister Hans Katzer. Doch unter Kohl wird weiter ausgesessen - personalpolitisch und programmatisch.
Dagegen will Geißler um jeden Preis verhindern, daß es der Union ähnlich ergeht wie der SPD. Die CDU könne nur überleben, wenn sie künftig weiche und grüne Themen betone und weniger laut über Waffenexporte oder neue Raketen räsoniere.
Kohl aber soll sich als Kanzler und Parteichef einer Reform-CDU bewähren. Gemessen wird der Kanzler demnächst am Ergebnis der Koalitionsverhandlungen, speziell an der Sozialpolitik. »Kohl muß dafür sorgen, daß sich der Inhalt des CDU-Programms in der Regierungserklärung wiederfindet. »Denn wir«, so ein führender Christdemokrat, »haben in diesem Jahr Landtagswahlen vor uns, nicht die CSU.«
Kohl weiß genau, daß sein Überleben im Kanzleramt gefährdet ist, wenn die Union in diesem Jahr auch noch die Mehrheit im Bundesrat verlieren sollte und damit Steuer- und Rentenreform sowie die Kostendämpfung im Gesundheitswesen in Gefahr gerieten. Verlöre die Union ihre Regierungsmacht im Mai in Rheinland-Pfalz oder im September in Schleswig-Holstein an eine rot-grüne Mehrheit (Strauß: »Die Sozis müßten von allen guten Geistern verlassen sein, wenn sie da nicht gewinnen. Aber die rutschen ja offenbar wie mit genagelten
Stiefeln auf der Rodelbahn immer tiefer hinab"), die Vorwürfe gegen ihn, jetzt noch zurückgehalten, würden sogleich erhoben werden.
Insgeheim läuft schon längst wieder die Diskussion über das Risiko Kohl. Die CDU-Landesverbände haben sich ausbedungen, die politischen Schwerpunkte in ihren Wahlkämpfen selbst setzen und mit Landesthemen auf Distanz zur Politik der Kohl-Regierung gehen zu können.
Kein Unionsministerpräsident will sich nach den Erfahrungen im Bundestagswahlkampf durch Helmut Kohl, für fatale Überraschungen immer gut, entscheidende Prozente nehmen lassen.
Derweil macht sich Strauß vor der CSU-Landesgruppe über den Kanzler lustig. Der Bayer erinnerte daran, daß Kohl zuerst Erich Honecker eingeladen dann aber der DDR Konzentrationslager angedichtet habe: »Das war so, wie wenn einer irgendwo eingeladen ist und die Dame des Hauses begrüßt, ja mei, was ham S' für einen schönen Kropf!«