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Solschenizyn -- "Hier ist ihm alles viel zu eng" »Er wird sehr, sehr unter Heimweh leiden«

aus DER SPIEGEL 8/1974

SPIEGEL: Herr Böll, warum ist Solschenizyn zu Ihnen gekommen?

BÖLL: Ich kann das nur vermuten. Ich bin der einzige in der Bundesrepublik lebende Autor, den er wirklich persönlich kannte. Wir haben uns bei unseren beiden Begegnungen in Moskau auf den ersten Blick so gut verstanden, daß wir wohl Freunde geworden sind.

SPIEGEL: Als Solschenizyn in Moskau arretiert worden war, haben Sie auch als Präsident des internationalen PEN dagegen scharf protestiert. Ist hier ein Grund dafür zu suchen, daß er als erstes zu Ihnen kam? Und hängt das Vorgehen der sowjetischen Behörden irgendwie mit diesem Protest zusammen?

BÖLL: Ich glaube nicht. Ich weiß gar nicht, ob er von dem Protest erfahren hat. Ich halte das auch für sekundär. Ich kann nicht glauben, daß er das erfahren hat. Er war ja die ganze Nacht inhaftiert und ist sofort aus dem Gefängnis gegen 12 oder 1 Uhr mittags zum Flugzeug gebracht worden. Er hat diese Information bestimmt nicht gehabt. Und ich glaube nicht, daß ein Telegramm des PEN-Clubs diese Wirkung hat. Es tut mir leid, daß ich diese Wirkung selber niedrigschätze. Ich vermute. daß dieser Entschluß, ihn regelrecht zu vertreiben, ich nenne das so. erst im letzten Augenblick gefaßt worden ist.

SPIEGEL: Im Zusammenhang mit Solschenizyn ist natürlich die Frage aufgetaucht: Wasser auf falsche Mühlen. Mit der Frage haben Sie sich ja auch sehr viel auseinandersetzen müssen.

BÖLL: Sie wissen, daß der Fall Solschenizyn eiigentlich seit fast zehn Jahren läuft, daß er sich immer mehr verschärft, dramatisiert hat, und immer schon in dieser Atmosphäre fand die Auseinandersetzung in der Sowjet-Union statt gegen ihn und für ihn -- lange bevor die Entspannungspolitik überhaupt angefangen hat. Ich halte es für schlecht, diese beiden Dinge zu kombinieren. Ich glaube, das ist das Problem der inneren Entspannung der Sowjet-Union. Daß ein solcher Fall die Entspannungspolitik stört oder möglicherweise einen kleinen Rückschritt bedeutet, ist mir auch klar. Denn einfach unpolitisch ist ein solches Vorgehen nicht. Aber ich sehe keinen kausalen Zusammenhang.

SPIEGEL: Was denken Sie über die Zukunft Ihres Freundes Solschenizyn? Ist er nicht auf die unmittelbare Konfrontation und Gemeinsamkeit mit seiner Heimat, mit der Sowjet-Union angewiesen?

BÖLL: Das ist sehr schwer zu sagen. Wahrscheinlich wird er, wenn jetzt der Trubel vorüber ist, der unvermeidlich und auch verständlich ist, wenn seine Familie hier ist und er hat sich irgendwo seßhaft gemacht, wird er die Bitterkeit der Emigration spüren. Für einen Schriftsteller, auch wenn er total oppositionell ist zum jeweiligen politischen System, ist das Exil das Schlimmste.

Wir wissen es doch von unseren Emigranten. Selbst die überzeugtesten Kommunisten und Liberalen, die scheinbar an ihrer Heimat und dem, was man seinerzeit Vaterland nannte, nicht hingen, sind vor Heimweh zugrunde gegangen und haben Selbstmord begangen.

Ich sehe diese Alternative nicht, weil Solschenizyn als gestandener Autor herauskommt, der seiner Sprache sicher ist, seiner russischen Sprache. Für viele jüngere Autoren, die aus Polen emigriert sind, aus der Sowjetunion und seinerzeit aus Deutschland, war es schlimmer, weil sie ihre eigene Sprache noch nicht mitnehmen konnten.

Ich sehe nicht seine Arbeit als Schriftsteller gefährdet, aber er wird sehr, sehr unter Heimweh leiden.

SPIEGEL: In der Tatsache, daß die Bundesregierung ihr Einverständnis zur Aufnahme Solschenizyns der Sowjet-Union zu verstehen gegeben hat, wird auf eine Brandt-Rede hingewiesen, der sagte, daß Solschenizyn in der Bundesrepublik frei und ungehindert arbeiten könne. In dieser Tatsache haben manche Kommentare eine Komplicenschaft zwischen der Bundesregierung und den sowjetischen Organen konstruiert.

BÖLL: Ich habe das auch gelesen, und ich hafte das für das perverseste, was ich seit zwei, drei Jahren gehört habe. Wir haben ja hier einiges an ziemlich merkwürdigen Denunziationen und Auseinandersetzungen erlebt. Vergessen wir sie, unsere innenpolitischen Streitigkeiten. Diese Interpretation ist einfach pervers. Ich kann es nicht anders nennen. Inzwischen hat ja die Schweiz die »Komplicenschaft« übernommen. Und viele Länder haben ähnliches angeboten.

SPIEGEL: Es gibt die Meinung, Solschenizyns Verhalten habe der Sowjet-Union nur zwei Möglichkeiten offengelassen: entweder ihn zu verhaften oder ihn auszubürgern?

BÖLL: Es hätte noch eine dritte Möglichkeit gegeben, ihn dort zu lassen und nach einiger Zeit, nicht gerade jetzt vielleicht, wo die Polemik so heftig läuft, seine Werke zu publizieren. Nicht sofort den Archipel GULAG als erstes, sondern ihn vorzustellen mit seinen Werken in der Reihenfolge, in der sie entstanden sind ...

Man muß doch wissen, daß die Romane von ihm doch eigentlich politisch nicht viel mehr mitteilen, als Chruschtschow schon mitgeteilt hat in seiner berühmten Rede. Sie hätten also in der Sowjet-Union erscheinen können.

SPIEGEL: Nun ist aber im Zusammenhang mit dem Archipel GULAG sicher nicht ganz falsch zu sagen, daß Solschenizyn den Leninismus und die Grundlagen der Sowjet-Union angreift.

BÖLL: Ja, natürlich. Er stellt bestimmte historische Entwicklungen, die bisher als tabu galten, in Frage. Und ich finde, jeder Autor hat das Recht dazu, es hat auch jeder das Recht, diese Darstellung zu kritisieren oder sich polemisch mit ihr auseinanderzusetzen.

Aber, in einem Land, wo es überhaupt keine öffentlichen Auseinandersetzungen gibt, eigentlich nur öffentliches Lob oder öffentliche Diffamierung, herrscht ja von vornherein Unverhältnismäßigkeit der Mittel. Und er hat ja begründet, warum er den Archipel GULAG publiziert hat: Ich publiziere dieses Werk, weil es in die Hand des Staatssicherheitsdienstes gefallen ist und die Personen, die dort genannt werden, etwas über 200, leben noch, und ich möchte sie schützen, indem ich sie im Westen bekanntmache. Ich finde das legitim.

SPIEGEL: Welchen Eindruck haben Sie während der zwei Tage von Solschenizyn gewonnen?

BÖLL: Ich war schon, als ich ihn in Moskau zum erstenmal sah, unter sehr schwierigen Umständen, einmal in seiner Wohnung und ein andermal an einem, na, konspirativen Ort, erstaunt über die Präsenz, die Wachheit und den Humor, den er hat. Und er rechnet wirklich damit, daß er eines Tages in die Sowjet-Union zurückkann.

Es ist einfach eine Humordimension -- ich sage bewußt nicht humoristische Dimension -- in seinem ganzen Wesen. Er ist ein -- es gibt kein Wort dafür, optimistisch ist zu dumm -- zuversichtlicher Mensch, voller Hoffnung und Kraft. Und das teilt sich mit. Das haben wir damals schon in Moskau zu unserem Erstaunen festgestellt.

SPIEGEL: Hat sich das geändert?

BÖLL: Nein, er ist keineswegs deprimiert und auch nicht andeutungsweise melancholisch, was ja sein Recht wäre, sondern er strahlt diese Zuversicht und Kraft aus, und die hat er auch hier gezeigt während der beiden Tage.

SPIEGEL: Besteht ein möglicher Zusammenhang zwischen seiner Zurückgezogenheit und der Tatsache, daß die Familie noch in Moskau ist?

BÖLL: Nein, ich glaube das ist so: Daß seine Familie erst kommen will oder kann, sobald er einen festen und endgültigen Wohnsitz hat. Und das nicht von seiten der sowjetischen Behörden. Die würden sie sofort rauslassen. Sie müssen sich vorstellen, da kommt seine Frau, seine Schwiegermutter, es kommt noch eine Tante, es kommen drei kleine Kinder -- er möchte nicht die Familie in irgendeinem improvisierten Zustand hier haben, wo er natürlich im Lichte der Öffentlichkeit steht. Sobald das geklärt ist, wo er sich endgültig niederlassen wird, in diesem Haus, in dieser Wohnung, in dem oder jenem Lande lebe ich, wird die Familie sofort kommen.

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