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Artikel 52 / 78

»Er wird uns alle abschlachten«

aus DER SPIEGEL 7/1971

1. Fortsetzung

Der Divisionskommandeur Dmitrij Schmidt, Alt-Bolschewist, Trotzki-Anhänger und Veteran des russischen Bürgerkrieges, kam 1927 nach Moskau, um am Parteitag der KPdSU teilzunehmen. Da sah er Josef Stalin, der gerade den Kreml verließ. Der stets zum Bramarbasieren aufgelegte Rotarmist, in einen schwarzen kaukasischen Mantel mit silberbeschlagenem Gürtel gehüllt, führte eine Posse auf, die tödliche Folgen haben sollte.

Die Pelzmütze schief auf dem Ohr, marschierte er auf Stalin zu und beschimpfte ihn, halb im Scherz, halb im Ernst, in der zügellosen Soldatenart jener Zeit. Er tat, als wolle er seinen großen Krummsäbel gegen den KP-Chef ziehen, und drohte ihm grinsend, eines Tages werde er ihm die Ohren abhacken.

Stalin entgegnete kein Wort. Er hörte bleich und mit -zusammengeprellten Lippen zu. Der Zwischenfall wurde als schlechter Witz behandelt, als Beleidigung, die nicht ernst gemeint sei und ganz sicher keine politische Bedeutung habe. Doch der Diktator konnte nie die Szene vergessen, in der ihn ein Genosse ungeahndet provoziert hatte.

Die Stunde der Rache kam, als sich Stalin im Sommer 1936 anschickte, die letzten Oppositionsgruppen zu beseitigen, die sich ihm auf seinem Weg zur

© 1971 Curtis Brown Ltd., London, und Droste Verlag, Düsseldorf.

* Bei den Reichswehrmanövern 1932.

schrankenlosen Alleinherrschaft noch entgegenstellten. Mit dem Schauprozeß gegen die Linksabweichler Sinowjew und Kamenew hatte er jene Große Säuberung eingeleitet, die seine Diktatur zementieren sollte.

Bei der Vorbereitung eben dieses Prozesses hatten die Geständnis-Manipulatoren des NKWD Belastungsmaterial konstruiert, in dem auch der alte Trotzki-Freund Schmidt auftauchte. Einer der Mitangeklagten Sinowjews, der Trotzkist Mratschkowski, hatte ausgesagt, er habe den Divisionskommandeur Schmidt und den Luftwaffenoffizier Kusmitschew dazu angestiftet, den Verteidigungskommissar Klimentij Woroschilow zu ermorden. Stalin schlug zu.

Am 5. Juli 1936 wurde Schmidt, damals Kommandeur eines Panzerverbandes im Wehrkreis Kiew, verhaftet. Von Anfang an war jedoch klar, daß Schmidts Festnahme kein isolierter Vorfall war. Stalins Aktion richtete sich gegen die einzige organisierte Macht in der UdSSR, die in das Herrschaftssystem des Diktators noch nicht voll integriert war: die Rote Armee.

Es war allgemein aufgefallen, daß die Sowjetarmee den ersten Säuberungsexzessen Stalins keinen Beifall gezollt hatte. Als Stalin im September weitere Trotzkisten wie das prominente Zentralkomitee-Mitglied Pjatakow und Rußlands führenden Journalisten Karl Radek verhaften ließ, erhoben sogar führende Militärs im ZK Einwendungen gegen die Säuberung. Stalin mußte eine Opposition der Armee befürchten. Er setzte zum Angriff auf die Militärs an, Zug um Zug geriet die Rote Armee in den Sog der Säuberungsmaschine.

Bald wurde deutlich, daß Stalins neue Verhaftungswelle nicht einzelnen Militärs galt, sondern der ganzen Institution. Nach Schmidt war auch sein vermeintlicher Komplice Kusmitschew verhaftet worden, ihm folgte der Divisionskommandeur J. Sablin.

Im Januar 1937 kamen Pjatakow und Radek vor Gericht. In dem Prozeß fiel ein neuer Name aus dem Offizierskorps der Roten Armee: Witowt Putna. Generalmajor Putna, Militärattaché in London, galt als einer der engsten Vertrauten des Vize-VerteidigungskOmmissars Marschall Michail Tuchatschewski, der für die sowjetische Armee Führer und Idol zugleich war.

Am 24. Januar erklärte der Angeklagte Radek vor Gericht wie beiläufig, daß Putna »mit einer Anfrage von Tuchatschewski« an ihn herangetreten sei. Ankläger Andrej Wyschinski tat überrascht.

Wyschinski: »Angeklagter Radek, ich möchte wissen, in welchem Zusammenhang Sie Tuchatschewskis Namen erwähnt haben.«

Radek: »Tuchatschewski war von der Regierung mit einer Aufgabe betraut worden, für die er nicht das notwendige Material fand. Ich allein war im Besitz dieses Materials. Er rief mich an und fragte, ob ich dieses Material hätte. Ich hatte es, und er schickte deshalb Putna, um das Material von mir zu erhalten. Natürlich hatte Tuchatschewski weder eine Ahnung von Putnas Spiel noch von meiner verbrecherischen Rolle.«

Wyschinski: »Und Putna?«

Radek: »Er war Mitglied der (trotzkistischen) Organisation. Er kam jedoch nicht, um über die Organisation zu sprechen, doch ich benutzte seinen Besuch, um dieses Gespräch zu führen.«

Wyschinski: »Putna suchte Sie also auf, weil er von Tuchatschewski in einem offiziellen Auftrag geschickt worden war, der in keiner Beziehung zu Ihren Angelegenheiten stand, da Tuchatschewski keinerlei Verbindungen zu diesen hatte?«

Radek: »Tuchatschewski hatte niemals irgendwelche Verbindungen zu unseren Angelegenheiten.«

Wyschinski: »Verstehe ich Sie recht, daß Putna Beziehungen zu den Mitgliedern Ihrer trotzkistischen Untergrundorganisation hatte und Sie Tuchatschewski nur deshalb erwähnten, weil Putna in offiziellem Auftrag auf Tuchatschewskis Befehl kam?«

Radek: »Ich bestätige das, und ich sage, daß ich niemals irgendwelche Beziehungen mit Tuchatschewski im Zusammenhang mit konterrevolutionären Tätigkeiten hatte oder haben konnte, weil ich wußte, daß Tuchatschewskis Einstellung zur Partei und Regierung die eines unbedingt ergebenen Mannes war.«

Ein erfahrener NKWD-Offizier las den Bericht über diesen Dialog und prophezeite seiner Frau, daß Tuchatschewski verloren sei. Wie sei das möglich, fragte die Frau, wenn Radeks Aussage ihn doch so nachdrücklich entlaste? Der Offizier erwiderte: Seit wann braucht Tuchatschewski ein Leumundszeugnis von Radek?

Das ganze unbeholfene Kreuzverhör muß ein vorher sorgfältig geplantes Manöver gewesen sein, zweifellos von Stalin selbst diktiert. Damit waren bereits die Fundamente für die weitere Untersuchung gelegt, zumal sich Wyschinski in seinem folgenden Plädoyer darüber beklagte, daß die Angeklagten vieles von ihren kriminellen Verbindungen, aber nicht alles gestanden hätten.

Denn: Auch mit Tuchatschewski hatte Stalin eine alte Rechnung zu begleichen. Der Streit um die Verantwortlichkeit für die sowjetische Niederlage in der Schlacht um Warschau im polnisch-sowjetischen Krieg von 1920 war noch nicht ausgestanden.

Damals war Tuchatschewski nördlich der polnischen Hauptstadt mit der Masse der sowjetischen Kräfte vorgestoßen, während Frontkommandeur Jegorow und sein Kommissar Stalin mit der südlichen Front, zu der Budjonnys Reiterarmee gehörte, in Richtung auf Lemberg angegriffen hatten. Befehle, Budjonny nordwärts in Richtung Warschau schwenken zu lassen, waren nicht befolgt worden. Die Schlacht von Warschau ging verloren. Offensichtlich hatten Stalin und seine Kommandeure sich örtlichen Ruhm auf Kosten des Gesamtziels sichern wollen.

Die meisten sowjetischen Militärkritiker urteilten später mit Tuchatschewski, daß Stalin, Jegorow und Budjonny der Offensive mutwillig jede Chance genommen hätten. Lenin scheint der gleichen Meinung gewesen zu sein. Die Affäre wurde in militärischen Vorträgen öffentlich behandelt. Es läßt sich nicht bezweifeln, daß dies heftig an Stalin fraß; als er die vollständige Herrschaft über die Geschichtsbücher gewann, wurde die ganze Episode als ein strategisch vernünftiges Unternehmen hingestellt, das aus verräterischen Gründen von Tuchatschewski sabotiert worden sei.

Zunächst hatte freilich auch Stalin den Aufstieg Tuchatschewskis an die Spitze der Armee nicht verhindern können. Tuchatschewski war jung, ideenreich und beliebt Er hatte, zusammen mit einer Gruppe ihm ergebener Offiziere, aus den bandenähnlichen Bürgerkriegstruppen eine schlagkräftige moderne Armee entwickelt.

Das mußte ihn bei Stalin verdächtig machen. Tatsächlich war die Armee viel eher als die abgewirtschafteten Oppositionspolitiker in der Lage, einen Staatsstreich zu versuchen. Es erschien Stalin durchaus vorstellbar, daß nur wenige Dutzend entschlossener Männer den Kreml besetzen und die Führer der Partei festnehmen könnten.

Später, im Prozeß gegen den Rechtsabweichler Bucharin, war denn auch die Rede von Tuchatschewskis »Lieblingsplan«, der Besetzung des Kremls und der Tötung seiner Führer durch eine Offiziersgruppe. Es sind jedoch keinerlei Beweise dafür vorhanden, daß es wirklich irgendeine Verschwörung gegeben hat. Auch die Marschälle scheinen, wie die oppositionellen Parteiführer, überzeugt gewesen zu sein, daß Stalins Herrschaft trotz all ihrer Fehler legitim sei.

Inzwischen war der Divisionskommandeur Schmidt unter den harten Verhören zusammengebrochen. Doch sein Vorgesetzter, Armeegeneral Jakir, Befehlshaber im Wehrkreis Kiew, reiste nach Moskau, um die Beschuldigungen nachzuprüfen. Er bestand darauf, mit Schmidt im Gefängnis zu sprechen. Schmidt war grau und mager geworden, er wirkte apathisch und sprach lustlos.

Jakir erklärte, Schmidt habe wie »ein Marsmensch«, wie ein Wesen von einem anderen Planeten gewirkt. Doch als Jakir ihn fragte, ob seine Geständnisse auf Wahrheit beruhten, widerrief sie der Häftling. Jakir veranlaßte Schmidt, in einem Brief an Woroschilow alle Anklagen zu bestreiten. Er brachte diesen Brief zu Woroschilow und sagte ihm, daß die Beschuldigungen ganz offensichtlich falsch seien.

Jakir fuhr nach Kiew zurück. Doch bald darauf rief ihn Woroschilow an und sagte ihm, Schmidt habe bereits am nächsten Tag seine Geständnisse bestätigt und dabei den Wunsch geäußert, man möge Woroschilow und Jakir davon unterrichten, daß sein früheres Geständnis der Wahrheit entspreche.

Kaum aber hielt Stalin das endgültige Schmidt-Geständnis in Händen, da zog er die Schrauben gegen die Armee weiter an. Auf der Plenarsitzung des ZK im März 1937 sprach Stalin kurz darüber, welchen Schaden »einige wenige Spione in der Roten Armee« anrichten könnten. Und Stalin-Paladin Molotow warf den Militärs vor, den Kampf gegen »Feinde des Volkes« zu vernachlässigen.

Am 28. April 1931 kam ein neuer Schlag: Die »Prawda« rief die Rote Armee auf, stärkeres politisches Bewußtsein zu entwickeln und den inneren Feind ebenso zu bekämpfen wie den äußeren. Diese kraftvolle, wenn auch versteckte Geste verstand das bereits erschütterte Oberkommando: Jetzt ging es in voller Breite gegen die sowjetische Armee.

Bei der Mai-Parade traf Tuchatschewski als erster auf der für die Armeeführer reservierten Tribüne ein. Er wanderte allein, die Daumen in den Gürtel geschoben, zu dem Platz, an dem die Parade abgenommen wurde. Nach ihm erschien Marschall Jegorow, der ihn jedoch weder ansah noch grüßte. Armeekommissar Jan Gamarnik, der Chefpolitruk der Roten Armee, begab sich ebenfalls zu der schweigenden Gruppe. Eine düstere und eisige Atmosphäre umgab die Militärs. Als die militärische Parade zu Ende war, wartete Tuchatschewski nicht mehr auf den zivilen Vorbeimarsch, sondern verließ zu Fuß den Roten Platz.

Wenige Tage darauf war er entmachtet. Woroschilow, kalt und förmlich, rief ihn zu sich und teilte ihm seine Abberufung vom Posten des Stellvertretenden Verteidigungskommissars mit. Er wurde als Chef des Wehrkreises Wolga nach Kuibyschew versetzt -- ein Hinterwäldlerkommando mit drei Infanteriedivisionen und geringen Panzer- und Artillerie-Einheiten.

Diese Versetzung, der andere folgten, wurde am 11. Mai bekanntgegeben. Das Revirement unter den hohen Offizieren bewies Stalins Haß gegen die Armeeführung. Auch Gamarnik wurde als Stellvertretender Verteidigungskommissar abgelöst. Jakir sah sich von Kiew nach Leningrad versetzt.

Gleichzeitig stellte ein Erlaß das alte System des »Doppelkommandos« wieder her: Die Macht der politischen Kommissare wurde gegenüber der Truppenführung stark erhöht. Ursprünglich hatten die Politkommissare so große Macht erhalten, weil die Militärspezialisten des Bürgerkriegs überwiegend ehemalige zaristische Offiziere waren, die man als nicht vertrauenswürdig betrachtete. Die Wiedereinführung dieses Systems bei einem kommunistischen Offizierskorps aber war eine ungewöhnliche Demonstration mangelnden Vertrauens.

Am 9. Mai wurde eine »Instruktion« herausgegeben, die das Militär zu größerer Wachsamkeit aufrief. Zwei Tage später folgte der erste Schlag gegen die fernöstliche Armee: Ihr Luftwaffenchef, der Generalleutnant Lapin, wurde verhaftet; er soll nach seiner Folterung im Gefängnis von Chabarowsk Selbstmord begangen haben. Dann wurde der bis dahin Ranghöchste festgenommen: Generaloberst Kork von der Frunse-Militärakademie.

Das bedeutete, daß bis Mitte Mai 1937 alle Vorbereitungen für den Hauptschlag gegen die Armee getroffen waren. Tuchatschewski konnte nicht mehr im Zweifel sein, daß letztlich er und die Armeeführung gemeint waren. Doch noch ehe Stalin mit dem großen Ketzergericht begann, erlaubte er den Erzfeinden des Kommunismus, den deutschen Nationalsozialisten, eine bescheidene Rolle bei der Entfesselung des Terrors zu spielen.

Im Mai 1937 erhielt Stalin eine Akte aus Berlin, die beweisen sollte, daß Tuchatschewski ein deutscher Spion sei. Die Akte war in einer Fälscherwerkstatt von SS-Gruppenführer

* Auf der unteren Tribüne: Marschall Tuchatschewski, General Below, Volkskommissar Woroschilow, Marschälle Jegorow und Budjonny.

Reinhard Heydrichs Sicherheitsdienst (SD) angefertigt worden.

Die Intrige hatte vermutlich in Paris begonnen. Dort lebte ein russischer Emigrant, General Skoblin, der als Doppelagent gleichzeitig für den nationalsozialistischen und den sowjetischen Geheimdienst arbeitete. Über ihn wurden Informationen zwischen SD und NKWD ausgetauscht

Skoblin lancierte auch einen Bericht des NKWD nach Berlin, aus dem hervorging, das sowjetische Oberkommando und insbesondere Tuchatschewski hätten mit dem deutschen Generalstab eine Verschwörung gegen Stalin angezettelt. Obwohl der Bericht im SD als NKWD-Falle aufgefaßt wurde, war Heydrich entschlossen, ihn zu benutzen, um der Roten Armee einen tödlichen Schlag zu versetzen.

Wahrscheinlich wurde Ende 1936 in einem Gespräch zwischen Hitler und Himmler das Für und Wider einer Lähmung der Roten Armee erörtert und eine Entscheidung getroffen. Im März 1937 ließ Heydrich eine Akte anfertigen, die einen Briefwechsel zwischen Offizieren des deutschen Heeres und Tuchatschewski enthielt. Das war überwiegend die Arbeit des deutschen Graveurs Franz Putzig, der seit langem von deutschen Geheimdienststellen für die Herstellung falscher Pässe benutzt wurde. Die Akte bestand aus 32 Seiten; beigeheftet war eine Photographie, die Trotzki mit deutschen Offizieren zeigte.

Der SD besaß echte Unterschriften Tuchatschewskis aus der Zeit, in der die Rote Armee und die Reichswehr eng zusammengearbeitet hatten. Unter Benutzung dieser Unterschriften wurde ein Brief gefälscht, der Tuchatschewskis Stil nachahmte. Der Brief erhielt echte deutsche Stempel. Die Unterschriften der deutschen Offiziere waren von Bankschecks kopiert worden.

Hitler und Himmler sahen die Akte im Mai und genehmigten das Unternehmen. Der SD spielte das Material dem NKWD zu; anscheinend gelangte die Akte über zwei festgenommene NKWD-Agenten Mitte Mal in Stalins Hände.

Dieser endgültige »Beweis« für den Verrat hat Stalin offenbar den Entschluß erleichtert, den Schlag gegen die Generale der Roten Armee zu unternehmen. Die Anklage wegen Verrats sollte der Hauptpunkt sein, während die Beschuldigung wegen Trotzkismus und Terrorismus zwar nicht aufgegeben, aber an die zweite Stelle gerückt wurde.

Am 20. Mai wurde Dmitrij Schmidt heimlich und ohne weitere Umstände erschossen. Ein Funktionär, der Rußland am 22. Mai verließ, erklärte, nun habe wirklich Panik das Offizierskorps ergriffen.

Am 22. Mai verhafteten Geheimpolizisten eine weitere führende Persönlichkeit des angeblichen Militär-Komplotts: den Generaloberst Ejdeman. Er wurde aus einer Parteisitzung im Säulensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses herausgerufen und vom NKWD abgeführt. Man legte ihm zur Last, eine Parteibürgschaft für Generaloberst Kork unterschrieben zu haben. Dann war der Verwaltungschef der Roten Armee, Generalleutnant Feldman, an der Reihe.

Tuchatschewski erfuhr von Feldmans Festnahme und rief: »Welch eine ungeheuerliche Provokation!« Er wußte, daß man ihn eingekreist hatte.

Als Tuchatschewski zum Bahnhof fuhr, um nach Kuibyschew zu reisen, riet ihm sein Chauffeur, er solle an Stalin schreiben, um die offensichtlichen Mißverständnisse aufzuklären. Der Marschall entgegnete, er habe bereits geschrieben. Bei seinem Eintreffen in Kuibyschew am 26. Mai hielt Tuchatschewski vor der Militärkonferenz des Wehrkreises eine kurze Ansprache. Zur nächsten Sitzung erschien er nicht.

Er war aufgefordert worden, auf dem Weg zu seinem Hauptquartier in der Dienststelle des Gebietskomitees der Partei vorzusprechen. Nach einer Weile kam Generaloberst Dybenko mit blassem Gesicht heraus und erzählte seiner Frau, Tuchatschewski sei verhaftet worden.

Armeegeneral Uborewitsch war der nächste. Er befand sich auf einer Sitzung in Minsk, als ihm sein Adjutant einen Zettel hinschob, der ihn dringend nach Moskau rief. Er entschuldigte sich und ging zum Bahnhof. Als er den Zug bestieg, wurde er verhaftet.

Am 30. Mai telephonierte Woroschilow mit Armeegeneral Jakir, dem Wehrkreisbefehlshaber in Kiew, und befahl ihm, unverzüglich zu einer Sitzung des Obersten Kriegsrates zu kommen. Jakir erbot sich zu fliegen, doch Woroschilow ordnete an, er solle den Zug nehmen ein deutlicher Hinweis darauf, daß der Verteidigungskommissar die Pläne des NKWD in allen Einzelheiten kannte.

Jakir nahm am selben Tag den Zug 13.15 Uhr ab Kiew. Im Morgengrauen des nächsten Tages hielt der Zug in Brjansk, wo NKWD-Männer einstiegen und Jakir verhafteten. Sein Adjutant wurde nicht festgenommen; über ihn konnte Jakir seiner Frau und seinem Sohn eine Nachricht schicken, daß er unschuldig sei.

Der General ließ sich den Haftbefehl vorlegen und wollte den Beschluß des Zentralkomitees sehen. Man beschied ihn, das habe Zeit, bis er in Moskau sei. In einem Gefangenenwagen wurde er im Hundert-Kilometer-Tempo nach Moskau gefahren. Man brachte ihn in eine Einzelzelle der Lubjanka, wo ihm seine Litzen und Orden abgerissen wurden.

Am 31. Mai war der letzte der »Verschwörer« fällig. Am nächsten Tag wurde bekanntgegeben,. »das frühere Mitglied des Zentralkomitees, J. B. Gamarnik, das sich in Verbindungen mit sowjetfeindlichen Elementen verstrickt und offensichtlich gefürchtet habe, verhaftet zu werden«, habe »Selbstmord begangen«. Nach Angabe eines höheren Offiziers der Roten Armee setzte Gamarnik seinem Leben ein Ende, weil man von ihm verlangt hatte, er müsse über die Generale zu Gericht sitzen.

Jakir schrieb aus seiner Zelle in der Lubjanka unverzüglich an das Politbüro und forderte seine sofortige Freilassung oder eine Unterredung mit Stalin. Statt dessen wurde er einem neun Tage dauernden Verhör unterzogen; er erfuhr, »das ganze Jakir-Nest« sei ausgehoben worden.

Die ihm vorgetragenen Beschuldigungen waren so ernst, daß im Vergleich dazu das frühere Beweismaterial wie amateurhafte Erdichtungen wirkte. Dennoch versicherte er Stalin in einem Brief seine völlige Unschuld: »Mein ganzes bewußtes Leben habe ich in selbstloser und ehrlicher Arbeit unter den Augen der Partei und ihrer Führer verbracht. Jedes Wort, das ich sage, ist aufrichtig, und ich werde mit Worten der Liebe für Sie, für die Partei und das Land sterben, mit grenzenlosem Glauben an den Sieg des Kommunismus.«

Auf diesen Brief schrieb Stalin: »Schuft und Hure.« Woroschilow setzte hinzu: »Eine völlig zutreffende Bezeichnung.« Molotow schrieb seinen Namen darunter, und Kaganowitsch fügte hinzu: »Für den Verräter nur eine Strafe -- das Todesurteil.«

Vom 1. bis 4. Juni hielt der Oberste Kriegsrat im Verteidigungskommissariat zusammen mit Mitgliedern der Regierung eine außerordentliche Sitzung ab. Zu der Sitzung war Jakir eingeladen worden, ohne zu wissen, daß die Tagesordnung aus einem einzigen Punkt bestand: der Aufdeckung der konterrevolutionären militärisch-faschistischen Organisation, über die Stalin persönlich berichtete.

Der Diktator legte allerdings die Akte Heydrichs nicht auf den Tisch. Statt dessen stützte er sich in seiner Erklärung auf gefälschte Aussagen verhafteter und unter Druck gesetzter Militärs. Er forderte die Hinrichtung der Angeklagten und beschuldigte ferner eine Anzahl anderer Offiziere des Hoch- und Landesverrats.

Die Akte der Nazis scheint die Funktion gehabt zu haben, dem kleinen Kreis um Stalin und dem neuen NKWD-Chef Nikolai Jeschow die angemessene Empörung und ein Gefühl für die Dringlichkeit einer Säuberung der Armee einzuflößen. Da der sowjetische Schriftsteller Nikulin berichtet, daß Stalin die Akte benutzte, »um die Richter anzuweisen, Tuchatschewski zum Tode zu verurteilen«, ist es möglich, daß man ihnen die Dokumente gezeigt oder ihnen davon erzählt hat.

Doch offiziell wurde die Akte nicht verwendet. Stalin scheint zu der Ansicht gelangt zu sein, daß er schließlich auch ohne sie fertig werden würde und das gut erprobte System der Geständnisse alle notwendigen Beweise erbringen werde.

Es wäre selbst in einem geheimen Verfahren peinlich gewesen, wenn einer der Offiziere den Betrug vielleicht durch irgendeine Kleinigkeit hätte aufdecken können, die Jeschows Aufmerksamkeit entgangen war.

Jedenfalls befand das militärische Sondertribunal, das gegen Tuchatschewski, Jakir, Uborewitsch, Kork, Eideman, Feldman, Primakow und Putna am 16. Juni verhandelte, die Angeklagten »auf Grund der mündlichen Erklärungen Stalins vor dem Kriegsrat« für schuldig, ohne daß die Frage der NS-Akte auftauchte.« Das Kriegsgericht«, so erzählte später Chruschtschow, »tagte hinter verschlossenen Türen. Augenzeugen, die miteinander übereinstimmen, berichten, daß Tuchatschewski zu einem der Angeklagten, der über seine Verbindungen mit Trotzki redete, sagte: »Haben Sie das alles geträumt?"«

Das Gericht bestand neben dem Armee-Militärjuristen Ulrich, der den Vorsitz führte, aus den Marschällen Budjonny und Blücher, den Armeegenerälen Below« Schaposchnikow, den Generalobersten Alxnis, Dybenko und Kaschirin und dem Generalleutnant Gorjatschow. Nur der zweite und vierte Beisitzer überlebten die Säuberungen. Die militärischen »Richter« hatten offensichtlich nichts zu sagen; man nimmt an, daß ihre Unterschriften erst nach der Hinrichtung in einer Konferenz mit Jeschow unter das Urteil gesetzt wurden.

Am 12. Juni 1937 erfuhr das sowjetische Volk aus einer »Tass«-Meldung, Tuchatschewski und sieben Generale der Roten Armee seien zum Tode verurteilt worden, weil sie »staatsfeindliche Beziehungen zu führenden militärischen Kreisen einer ausländischen Macht unterhielten, die eine der UdSSR feindliche Politik betreibt. Die Angeklagten arbeiteten für den Spionagedienst dieser Macht«.

Zu dieser Zeit waren die Führer der Roten Armee bereits tot. Sie waren berichtet ein Chronist, im Hof des NKWD-Gebäudes in der Dserschinski-Straße 11 erschossen worden -- an dem Tag, da die Motoren der NKWD-Lastwagen auf hohen Touren liefen, um das Geräusch der Schüsse zu übertönen. Marschall Blücher sei blaß und erschüttert gewesen; man habe ihn gezwungen, die Hinrichtung zu leiten.

Der Führer des Exekutionspelotons des NKWD soll Iwan Serow gewesen sein, damals noch ein junger Offizier, der aus der Armee in den NKWD versetzt worden war. Später diente Serow als Leiter des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit (1954 bis 1958) und war noch 1963 Chef der militärischen Abwehr.

Doch Stalin hetzte den NKWD weiter auf das Offizierskorps. Die Generalleutnants Garkawy und Gekker wurden am 1. Juli erschossen, 20 jüngere Generale allein aus Moskau ebenfalls hingerichtet. Fast die ganze Führung der Kreml-Militärschule sah sich verhaftet. Durch die Frunse-Militärakademie, die Kork geleitet hatte, fegten die Liquidationskommandos.

In den Provinzen war es das gleiche: Im Wehrkreis Kiew sollen 600 bis 700 Offiziere des »Jakirnests« zu dieser Zeit verhaftet worden sein. Gamarniks Politische Verwaltung hatte noch mehr zu leiden als die eigentliche Wehrmacht. Seine Stellvertreter wurden verhaftet, außerdem alle 17 Armeekommissare, dazu 25 von den 28 Korpskommissaren. Auf der Brigadekommissar-Ebene überlebten zwei von 36.

Diese Säuberung unter den Politkommissaren erstreckte sich auch auf die Einheiten von Armee und Flotte. Anfang 1938 war nur noch ein Drittel der Planstellen politischer Funktionäre in den Streitkräften besetzt. Da die Zahl der noch im Amt befindlichen etwa 10 500 betrug, liegt der Schluß nahe, daß mindestens 20 000 Politkommissare umgekommen sind.

Überall erschütterte die Säuberung die Kommandostruktur. Bald verschwanden sogar schon die Generale, die gerade befördert waren, um die entstandenen Lücken auszufüllen. In den Jahren 1941 bis 1945 bekam das Land die Auswirkungen des Terrors gegen seine militärischen Führer zu spüren. Nach einer neuen sowjetischen Berechnung fielen der Säuberung zum Opfer:

* 3 von den 5 Marschällen,

* 14 von den 16 Armee-Befehlshabern I. und II. Ranges,

* 8 von den 8 Admiralen I. und II. Ranges,

* 60 von den 67 Kommandierenden Generalen,

* 136 von den 199 Divisionskommandeuren und

* 221 von den 397 Brigadekommandeuren.

Alle 11 Stellvertretenden Verteidigungskommissare wurden entfernt und 75 von den 80 Mitgliedern des Obersten Kriegsrats. Doch der große Terror traf nicht nur die oberen Ränge. Das halbe Offizierskorps, etwa 35 000 insgesamt, wurde erschossen oder eingesperrt.

Die Folge: Unerfahrene Kommandeure mußten befördert werden, um die freigewordenen Stellen einzunehmen. Bereits 1937 gehörten 60 Prozent der Führungskader in Schützeneinheiten, 45 Prozent in Panzereinheiten und 25 Prozent in Luftwaffeneinheiten dieser Kategorie an. Überdies wurde der Führungskader, der im spanischen Bürgerkrieg und im Fernen Osten militärische Erfahrungen gesammelt hatte, fast vollständig liquidiert.

Diese Atmosphäre mußte die Disziplin der Armee beeinträchtigen. Chruschtschow erklärte 1956 in seiner Geheimrede: »Die Politik, Repressalien in großem Maßstab gegen militärische Kader zu ergreifen, führte auch zur Untergrabung der militärischen Disziplin, da Offiziere aller Dienstgrade und sogar einfache Soldaten In den Partei- und Komsomolzellen jahrelang angehalten wurden, ihre Vorgesetzten als verkappte Feinde zu 'entlarven'. Natürlich übte dies einen negativen Einfluß auf die militärische Disziplin in der ersten Phase des Zweiten Weltkrieges aus.«

Nach der Säuberung standen an den Schlüsselstellungen Offiziere, die nicht die geringsten Fähigkeiten für strategisches Denken bewiesen. Durch die Starrheit der militärischen Maschinerie entstand bei jedem Versagen an der Spitze Verwirrung.

Im Finnlandkrieg von 1939/40 stürzte die Unfähigkeit der neuen Führung die Rote Armee buchstäblich in die Katastrophe. Neben diesem Versagen auf höchster Ebene fehlte der »Schwung«, den Tuchatschewski von den jungen Kommandeuren gefordert hatte; Unabhängigkeit des Geistes war von der Säuberung vernichtet worden.

Der Generalstab des deutschen Heeres bezeichnete die Rote Armee in einer geheimen Beurteilung Ende 1939 als »ein gigantisches militärisches Instrument«. Die »Grundsätze der Führung« seien gut, »die Führerschaft selbst aber zu jung und unerfahren«. 1940 warnte die deutsche Abwehr vor einer Unterschätzung der Roten Armee, vertrat allerdings den Standpunkt, daß es vier Jahre dauern werde. ehe diese Armee das Leistungsniveau des Jahres 1937 wieder erreicht habe.

Die Warnung war nicht unberechtigt. Während der ganzen Zeit der Säuberung hatte Armeegeneral Schaposchnikow, einst zaristischer Oberst, Stalins Vertrauen nicht verloren. Er brachte es fertig, begabte Offiziere zu suchen und zu befördern. Als Chef des Generalstabes waren seine Vollmachten beschränkt, doch er besetzte die hohen Kommandoposten mit einer Reihe von tüchtigen Offizieren -- freilich nicht genug, um ein Gegengewicht gegen jene Männer zu schaffen, die durch die Launen Stalins und Woroschilows befördert worden waren.

Nach Woroschilows Versagen in Finnland wurde der Kiewer Wehrkreis-Befehlshaber Timoschenko zum Volkskommissar für Verteidigung ernannt. Gleichzeitig erhielt Georgij Schukow den gerade eingeführten Rang eines Kommandierenden Armeegenerals, danach den Sonderwehrkreis Kiew, und im Januar 1941 ernannte Stalin ihn schließlich zum Generalstabschef.

Die Reformen zwischen 1940 und dem deutschen Angriff von 1941 waren unzureichend, doch ohne sie wäre die Rote Armee wahrscheinlich in den ersten Wochen von Hitlers Ansturm völlig vernichtet worden. Timoschenko versuchte im wesentlichen die Lage, wie sie unter Tuchatschewski bestanden hatte, wiederherzustellen.

Und so war denn tatsächlich die Rote Armee bei Kriegsausbruch umfangreicher an Zahl, stärker in den Versorgungsgütern und technisch mindestens so gut gerüstet wie der deutsche Angreifer. Es gab nur ein einziges Element, in dem die Heere nicht vergleichbar waren: Das deutsche Oberkommando, der Generalstab und das Offizierskorps im allgemeinen waren weit überlegen.

Als die den Deutschen gegenüberstehenden Armeen zusammenbrachen. reagierte Stalin prompt. Der Befehlshaber der Westfront, Pawlow, sein Stabschef Klimowskich und sein Nachrichtenkommandeur wurden erschossen. Generalmajor Korobkow, der die zerschmetterte Vierte Armee führte, folgte ihnen. Das rettete allerdings die drei Armeen und die vier motorisierten Korps nicht mehr, die zwischen Minsk und Bialystok in der Zange der deutschen Armeen saßen.

Große Teile der sowjetischen Luftwaffe, die der deutschen zunächst zahlenmäßig weit überlegen war, wurden auf dem Boden überrascht und in den ersten Stunden zerstört. Stalins Reaktion: Er verfügte die Hinrichtung von General Rytschagow, dem Luftflottenbefehlshaber der Nordwestfront. General Kopez beging Selbstmord, da er 600 Maschinen verloren hatte, während er der deutschen Luftwaffe nur unbedeutenden Schaden zufügte.

Während auch jetzt noch hohe Offiziere wegen »verräterischer Betätigung« hingerichtet wurden, durften gelegentlich andere aus der Verbannung zurückkehren; manche der Rehabilitierten leisteten gute Dienste, andere freilich waren durch die seelischen und physischen Leiden bereits ruiniert.

Die Sowjets konnten die totale militärische Niederlage nur aus zwei Gründen vermeiden: Sie hatten erhebliche Reserven, und es gelang ihnen, im Lauf der endlosen Schlachten des großen Rückzugs nach und nach bessere Kommandeure einzusetzen.

Die Unfähigen, die 1937/1938 an die Stelle leistungsfähiger Führer getreten waren, wurden von der Katastrophe ausgemerzt. Eine neue und tüchtige Führung entstand durch natürliche Selektion im Kampf. Sie wurde mit dem Tod von Hunderttausenden russischen Soldaten, mit Hunderten von Kilometern russischen Bodens und einer wesentlichen Verlängerung des Krieges erkauft.

Tuchatschewskis militärische Lehren tauchten in den Anweisungen der Stawka, des Obersten Hauptquartiers, für die Gegenoffensive in Moskau im Jahr 1941 wieder auf. Die Wende war gekommen. Doch war es auf die Säuberungen zurückzuführen, daß die Straße nach Berlin über den langen und schmerzlichen Umweg von Stalingrad führte.

Der Schlag gegen die Rote Armee im Sommer 1937 war freilich nur ein, wenn auch der spektakulärste Teil der blutigen Säuberungswelle, die Rußland überspülte. Nicht nur Zentralkomitee, Regierung und Generalität wurden mehrfach dezimiert, überall im Land, bis in die fernste Provinz, wurden die Parteikader zerschlagen.

Gerade in den ländlichen Organisationen der Partei witterte Stalin noch manchen Widerstand gegen seine Alleinherrschaft. Stalins engste Vertraute, Männer wie Kaganowitsch, Malenkow, Jeschow und Berija, reisten immer wieder in entlegene Gebiete der Sowjet-Union, um die Parteiorganisationen zu »vernichten« oder zu »zermalmen« (russisch: rasgromitj), wie der Terminus für diese Art des Terrors lautete.

Besonders gefürchtet waren die Vorstöße des »schwarzen Tornados«, wie man das Politbüro-Mitglied Lasar Kaganowitsch nannte. Anfang Juni 1937 kam er nach Iwanowo in Zentralrußland und telegraphierte an Stalin unmittelbar nach seiner Ankunft: Erste Kenntnisnahme des Materials zeigt, daß Gebietssekretär Jepanetschnikow unverzüglich verhaftet werden muß. Ebenso ist es notwendig, Michailow zu verhaften, den Leiter der Propagandaabteilung des Gebietskomitees.«

Dann schickte er ein weiteres Telegramm: »Nähere Kenntnis der Situation zeigt, daß die rechtstrotzkistische Sabotage hier weiten Umfang angenommen hat -- in Industrie, Landwirtschaft, Versorgung, Gewerbe, Gesundheitsämtern, Erziehungs- und parteipolitischer Arbeit. Der Apparat der Gebietseinrichtungen und das Gebietskomitee der Partei sind gründlich infiziert.«

Er klagte die gesamte Parteiorganisation an, sich zu isolieren und sich der allgemeinen Linie fernzuhalten. Bei einer Plenarsitzung des Gebietskomitees etikettierte er die Mehrzahl der Exekutivfunktionäre ohne jeden ·Grund als »Feinde des Volkes«.

Ende Juni erschien Kaganowitsch in einer eigens zusammengerufenen Versammlung des Westgebietskomitees in Smolensk und verkündete, daß der Erste Sekretär Rumjanzew, dessen Zweiter Sekretär Schulman und eine große Gruppe der alten Führerschaft »Verräter, Spione des deutschen und japanischen Faschismus und Mitglieder der rechtstrotzkistischen Bande« seien. Die Beschuldigten verschwanden spurlos. Unter Rumjanzews Nachfolger D. Korottschenko hatte die Provinz dann unermeßlichen Terror zu erdulden.

So wurde etwa in der Kleinstadt Bely der Erste Sekretär, Kowaljow, von seinen untergebenen Genossen angeprangert, weil er 1921 mit einer Trotzkistin gelebt und sich wie ein lokaler Diktator benommen habe. Bald packte eine hysterische Welle von Verhaftungen und Anklagen die kleine Stadt.

Am 26. Juni fand eine Sitzung statt, auf der Kowaljow und alle anderen örtlichen Führer heftig angegriffen wurden. Dabei fiel die gesamte Führerschaft Kowaljows; und am 18. und 19. September fand eine Plenarsitzung des Bezirkskomitees statt, die alle übrigen Anhänger Kowaljows vernichtete.

Der neue Stadtsekretär Karpowski wurde beschuldigt, ein Agent Rumjanzews gewesen zu sein, früher zu einer Straßenräuberbande gehört, Verwandte im Ausland zu haben und Beziehungen zu einer Schwester zu unterhalten, die einen früheren Kaufmann geheiratet hätte.

Karpowski verteidigte sich: Er selbst habe mehrere Straßenräuber getötet; was die Verwandten angehe, so habe er einen einzigen Brief von einer Tante aus Rumänien erhalten; und sowohl seine Schwester als auch ihr Mann, der früher Kaufmann war, seien jetzt mit nützlicher Arbeit beschäftigt.

Seine Argumente blieben ohne Wirkung: Karpowski und alle seine Gefährten fielen, Ende des Jahres war eine völlig neue Führungsmannschaft im Amt, sämtlich in Bely fremd. Die Mitgliederzahl der Partei, die am 1. September 1934 einen Bestand von 367 gehabt hatte, war jetzt auf etwa 200 gesunken.

Fast ebenso auffallend wie die Terrorforderungen von oben war die hysterische Lynchstimmung in einem immer entscheidenderen Teil der untersten Parteiorganisationen. Während die oberen und mittleren Gruppen der Partei ausgelöscht wurden, fanden Moskaus Abgesandte überall Denunzianten, die ihnen »Beweismaterial« gegen ihre Opfer lieferten.

Begonnen hatten die Säuberungen des Jahres 1937 mit einer umfangreichen Pressekampagne gegen jene Elemente, denen es an »demokratischem« Wohlverhalten mangelte. Die Kampagne wurde eingeleitet mit einem Artikel in der »Prawda« ("Innerparteiliche Demokratie und bolschewistische Disziplin") von Boris Ponomarjow, dem heutigen Sekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Partei.

In Leningrad war seit der Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Kirow ununterbrochen gesäubert worden. Dabei hatte Stalins Intimus Schdanow, der Erste Sekretär, der hier die Säuberungen selbst besorgte, Stalins alte Methode angewandt, die Kader von unten her zu erschüttern. Zunächst waren die Parteimitglieder auf den kleinen Posten ausgewechselt worden.

Damit wurden die Funktionäre der oberen Gebietsebene isoliert, jene mit Kirow besonders eng verbundenen Männer, die am Mordtag zuerst die Leiche ihres getöteten Chefs gesehen hatten und sich seither Gedanken über manche verdächtige Begleitumstände machten.

Die nächste Säuberungswelle in Leningrad traf nun den Zweiten Sekretär, seinerzeit Vertreter Kirows, und den Bürgermeister der Stadt. Es folgten die meisten anderen Mitglieder des Parteibüros und Hunderte der aktivsten Parteifunktionäre, die Kommandos der Streitkräfte mit dem Wehrkreisbefehlshaber General Dybenko und dem Befehlshaber der Baltischen Flotte, A. K. Siwkow. Gleichzeitig fielen auch die Chefs aller großen Unternehmen.

Von den 154 Leningrader Delegierten beim XVII. Kongreß wurden lediglich zwei zum XVIII. Kongreß wiedergewählt. Selbst von den 65 Mitgliedern des Leningrader Gebietskomitees, die am 17. Juni 1937 gewählt worden waren, erschienen ein Jahr später lediglich neun wieder.

Nachdem die alten Kader vernichtet waren, beförderte Sehdanow seine eigenen Männer. Einige von ihnen wurden 1950 im Zusammenhang mit einem späteren »Leningradfall« erschossen. Andere blieben bis zum heutigen Tage am Leben wie der jetzige Ministerpräsident Alexej Kossygin, der eine aktive Rolle als Mitglied des Parteibüros des Wyborg-Bezirks in Leningrad spielte und im Jahr 1937 als Direktor der Textilfabrik »Roter Oktober« eingesprungen war. Im Oktober 1938 wurde er Bürgermeister von Leningrad.

Als die Verhaftungen durch das Gebietskomitee Rostow fegten, begann der junge Parteifunktionär Michail Suslow seinen sensationellen Aufstieg. In den Jahren 1933/1934 hatte er einer Kommission angehört, die in einer Reihe von Provinzen die Partei säuberte. Nun war er zu einem der Gebietssekretäre von Rostow ernannt worden.

1939 wurde er Erster Sekretär des Regionalkomitees Stawropol, 1944 Vorsitzender des ZK-Büros für das eben

* Bei einer Sitzung des Obersten Sowjet, Januar 1938; r.: Woroschilow, Chruschtschow.

wieder besetzte Litauen. Er erzwang dort die Sowjetherrschaft gegen erbitterten Partisanenwiderstand. Seit 1947 ist er Sekretär des Zentralkomitees.

In den Provinzen herrschte indessen der Terror mit ungeminderter Härte weiter. Selbst der alte NKWD-Leiter Jewdokimow, Parteichef des Gebiets Rostow, soll sich in Moskau beklagt haben, daß die Säuberung allzuweit gehe. Bald darauf verschwand er.

Jossif Warejkis, ein Vertrauter des Diktators und Erster Sekretär der Region Fernost, rief im September 1937 Stalin an und erkundigte sich nach den Gründen für die Verhaftung gewisser Kommunisten. Dabei fragte er auch, warum Tuchatschewski festgenommen worden sei, mit dem er zusammen im Bürgerkrieg gekämpft hatte.

Stalin schrie: »Das geht dich nichts an. Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nicht betreffen. Der NKWD weiß, was er tut. Nur ein Feind würde Tuchatschewski verteidigen.« Damit warf er den Hörer hin. Warejkis war erschüttert.

Am 30. September erhielt er ein Telegramm, das ihn aus dienstlichen Gründen in die Hauptstadt rief. Am 9. Oktober wurde er einige Stationen vor Moskau verhaftet, seine Frau vier Tage später. Er wurde 1939 erschossen.

Aus den Säuberungen in den Republiken und Provinzen ergibt sich ein charakteristisches Bild: Ein in Moskau geplantes Unternehmen, das von Abgesandten aus dem Zentrum ausgeführt wird, vernichtet fast überall die alte Partei und läßt dabei aus der Masse der Mitglieder eine besondere Auswahl von Begeisterten für eine neue Organisation von Terroristen und Denunzianten emporwachsen.

Am meisten fällt dabei das Ausmaß der Veränderungen auf, die Vollständigkeit, mit der die alte Hierarchie liquidiert wird. Im Zentrum hatte Stalin bereits seine Kader geschaffen und sie in die höchsten Posten geschleust. In den kommenden Monaten sollten auch in Moskau die Verheerungen groll sein, doch es gab eine Kontinuität, gesichert durch eine Handvoll Männer an der Spitze und eine Gruppe von jungen Männern in den Maschinen der Macht, die Stalin neu ernannt hatte.

In den Provinzen entwurzelte der »schwarze Tornado« tatsächlich die Stalinisten der alten Parteilinie, die Veteranen, die eine, wenn auch noch so geringe Kontinuität mit der alten Partei des Untergrunds, des Jahres 1917 und des Bürgerkriegs aufrechterhielten. Eine neue Partei, eine neue Sowjet-Union entstand: die Autokratie Josef Stalins.

IM NÄCHSTEN HEFT

Volkskommissar Ordschonikidse stellt Stalin zur Rede und stirbt plötzlich -- Zwei Millionen Russen werden liquidiert, sieben Millionen verschwinden in Lagern -- Geheimpolizeichef Jeschow stürzt und wird verhaftet

Robert Conquest
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