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Artikel 7 / 82

Moritz Pfeil ERHARD IST UND BLEIBT KANZLER

aus DER SPIEGEL 48/1966

Wer der deutschen Politik auch nur einen winzigen Stoß aus Verklemmung oder Heuchelei ins Freie geben will, darf nicht mit den christlichen Parteien koalieren. Sie wollen im Irrtum verharren, am meisten da, wo sie vorgeben, nach neuen Wegen zu suchen.

Mit Frankreich und Amerika gleich gute Beziehungen zu unterhalten, ohne doch die Beziehungen zu den Kommunisten zu verbessern, ist die neue Quadratur, an der sich Kiesinger und Strauß versuchen.

Derselbe Schröder, der von 81 Leuten der CDU/CSU-Fraktion als Kanzler für gut befunden wurde, soll nach Kiesinger und Strauß nicht einmal mehr als Außenminister tauglich sein. Statt dessen ein Traumkonzept, in dem de Gaulle die Rolle des Perseus zu übernehmen hätte, der die Bundesrepublik aus den Banden des verlorenen Krieges befreit.

Frankreich, das nicht daran denken kann, der Bundesrepublik den physischen Mitbesitz oder eine Teilhabe an Atomwaffen einzuräumen, jetzt nicht, später nicht und auch ganz spät nicht, wird aufgefordert, sich auf eine europäische Atomstreitmacht gefaßt zu machen (an der dann die Bundesrepublik mal wieder- »gleichberechtigt« partizipieren könnte). Damit diese »europäische Lösung« offengehalten wird, die es zu unseren Lebzeiten nicht geben kann, soll der Atomsperrvertrag zwischen den USA und der Sowjet-Union, den Frankreich mittlerweile für wünschenswert hält, abgelehnt werden.

Mit Frankreich, das keinerlei: Union eingehen kann noch will, soll, wieder einmal auf militärischer Grundlage, ein Sonderklub ohne England gegründet werden. Die USA haben sich mit der Aufgabe zu bescheiden, Berlin zu schützen und die gegen sie gerichtete Wirtschaftseinheit der Franco-Teutonen zu garantieren, ja zu beschirmen. Es gibt in dieser verwahrlosten Union tatsächlich Königsmörder und Königsmacher, die den Amerikanern die Möglichkeit weiterer Investitionen in Europa bestreiten, von ihnen aber die Verpflichtung zu wirksamem Schutz erwarten. Das nennen sie dann »unsere nationalelf Interessen verstärkt zur Geltung bringen«.

Daß dieser sinnlosen Protesterei, diesem nationalen »Provo"tum kein Erfolg beschieden sein kann, jeder CDU-Mann müßte es wissen, und jeder Nicht-CDU-Mann weiß es. Dabei gibt es Komponenten der französischen Politik, die uns weiterführen könnten. Freilich, sie würden uns den USA gar nicht einmal entfremden, könnten uns den Sowjets näherbringen, würden voraussichtlich unsere wirtschaftlichen Schwierigkeiten mildern. Nur eine neue Koalition, und sei sie noch so knapp, bringt ein bescheidenes Maß Handlungsfähigkeit.

Vor dieser Frage scheut die Christo-Demokratie zurück wie der Teufel vor Beelzebub: Sie will keinesfalls die krassen Unterschiede zwischen Bonn und Paris in der Beurteilung der politischen Lage zur Sprache bringen. Dem ehernen Grundsatz Bonns - »Sowjets, so gefährlich wie eh und je« - steht die Grunderkenntnis de Gaulles entgegen, daß die Sowjets militärisch niemanden (mehr) bedrohen.

Man ahnt, warum Kiesinger, Strauß, Gerstenmaier, Schröder und Barzel die französische Einsicht nicht diskutieren wollen. Erkennt man de Gaulles These an, daß der kalte Krieg zu Ende ist - sie wird de facto, wenn auch nicht verbal, von den Amerikanern geteilt -, so bleibt der als kalter Krieger in der Kälte, der die Existenz und Fortdauer der SED-Regimes schon als kalten Krieg betrachtet.

Anzuerkennen, was ist, heißt in diesem Fall: Einzusehen, daß man durch 17 Jahre erfolgreichster Politik bereits isoliert ist. Bonn zieht es vor, 'das Frösteln in den Fingerspitzen nicht auf die Kälte zurückzuführen - dagegen ließe sich ja etwas tun -, sondern auf die Treulosigkeit der schnöden Welt (die bekanntlich nicht zu ändern ist, so daß man im Trotz verharren kann).

Liest man in alten Bundestaggprotokollen, wie Kiesinger und Strauß und Fraktion uns die unersättliche Eroberungsgier des gottlosen Bolschewismus nahezubringen wußten, so begreift man wohl, daß sie Hemmungen haben, die Lagebeurteilung ihrer französischen Freunde anzuerkennen. Rekapitulieren wir für die besonders Langsamen unter den Abgeordneten:

Ein begrenzter Krieg, ein konventioneller Krieg, wie er uns angeblich von Kennedy, Johnson und McNamara angesonnen wird, würde in den ersten drei Tagen vier bis sechs Millionen Menschen töten. Er würde nämlich, was von den christlichen Wehrexperten beflissen unterschlagen wird, mit taktischen Atomwaffen von dreifacher Nagasaki-Sprengkraft bestritten.

Daß solch ein »konventioneller« Krieg gute Chance hätte, sich zum »Doomsday«, zum Tag des großen Schlußmachens, auszuweiten, kann ganz unberücksichtigt bleiben. Fragen muß man jedoch, welches Motiv die Sowjets haben könnten, solch einen begrenzten Krieg zu beginnen, sie, die noch nie einen großen Krieg begonnen haben?

Die Antwort: Es gibt für sie kein denkbares Motiv. Sie haben genug, sie haben zuviel. Sie müssen froh sein, wenn die europäische Entwicklung ohne Sprünge verläuft. Sie können ganz froh sein, daß die Amerikaner in Berlin sind, und wären die Amerikaner nichtmehr in Berlin, so würde keine europäische Macht, Bundesrepublik inklusive, wegen Berlin einen auf vier Millionen Tote zu veranschlagenden »begrenzten« oder »konventionellen« Krieg riskieren.

Dies ist die Lage heute. Morgen, das heißt in den nächsten zehn Jahren, sieht sie eher ungefährlicher aus. Entweder nähern sich beide Teile Deutschlands einander an, dann verringert sich die Kriegsgefahr, oder die östlichen Staaten gewinnen an Selbständigkeit, oder beides. In jedem Fall wird der begrenzte Krieg unwahrscheinlicher, und er ist schon unwahrscheinlich genug. Wenn die USA und China keinen Krieg anfangen, so gibt es nach menschlichem Ermessen auch keinen Krieg in Europa, keinen jedenfalls, an dem eine Großmacht beteiligt wäre.

Prüfen wir die Lage seit 1945, so stellen wir fest, daß die Sowjets zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen wären, nach Westen überzugreifen. Was man uns vorerzählt hat, war teilweise gutgläubig, teilweise Taktik, um die Bundesrepublik aufzurüsten.

Daß die Sowjets derzeit imstande wären, die Bundesrepublik auszulöschen, ist unbestritten. Aber daran läßt sich in keinem Fall etwas ändern. Weder die Bundesrepublik noch beide Deutschland zusammen würden für die nächsten 30 Jahre imstande sein, die Sowjet-Union auszulöschen. Also, so what?

Es ist nicht wahr, daß in Mitteleuropa ein Machtvakuum entstehen kann, das den Sowjets einladend erschiene. Solch ein Machtvakuum kann nur in Berlin entstehen, wenn man den deutschen Gaullisten nämlich erlaubte, die Kommunisten weiter zu verteufeln und die Amerikaner aus Europa zu vergraulen. Der große Mann in Paris sollte seinen Namen gegen seine deutschen Anhänger patentieren und schützen lassen.

Deutschland hat keine Chance, wenn es sich weigert, mit den Kommunisten, wie de Gaulle es tut, »system-immanent« zu verkehren, das heißt, sie als Leute zur Kenntnis zu nehmen, die auf ihrem Gebiet politische Konsequenzen aus früheren politischen Taten zu ziehen haben. Klammert man die DDR aus den gesellschaftlichen Evolutionen im kommunistischen Osteuropa bewußt und willentlich aus, so nagelt man die Sowjets weiter an der Elbe fest; so hindert und verspätet man die europäische Verselbständigung, die, wenn man Frankreichs Ziele derzeit ernst nimmt, das erklärteste Ziel des Franzosen de Gaulle ist.

Die Bundesrepublik muß aufhören, sich für einen militärisch bedrohten Staat zu halten, dann ist auch sogleich ihr Haushalt in Ordnung. Dann werden die Alliierten nicht länger versuchen, ihr allein Kosten aufzubürden, die von allen gemeinsam getragen werden müßten. Dann kann sie sich erfolgreich weigern, für den Devisenabfluß aufzukommen, der den Amerikanern durch ihre Investitionen in Europa entsteht. Von der CDU/CSU ist so ein Konzept nicht zu holen.

Nicht oft genug, nicht penetrant genug kann demonstriert werden, daß die Krise aus dem Erlöschen der christdemokratischen Scheinwelt aufbricht. Es gibt keine Konstellation, in der die CDU/CSU regierungsfähig sein könnte, sie ist koalitionsunfähig geworden. Wer immer sich derzeit mit ihr einläßt, muß sich infizieren, die FDP sterblich, die SPD erblich - keine Bayern-Wahl kann das ändern.

Schröder ist nicht weniger im Irrtum festgenagelt als Strauß, er hat nur den Vorteil, das parlamentarische Regierungssystem nicht als einen Tummelplatz grinsender Verlogenheit erscheinen zu lassen. Kiesinger, wahrhaftig mit 18 Monaten Internierungshaft beladen, wahrhaftig schon binnen einer Woche als mit den Augen rollender strammer Max lächerlich geworden,

wäre ohne Autorität, Strauß und Schröder zum gemeinsamen Bekenntnis ihrer bis 1962 ja auch gemeinsamen Irrtümer zu bewegen. Kiesinger, der den Boden der Tatsachen lange genug mit seinem Salböl steril gemacht hat, wäre der Mitläufer beider, wenn der eine hinter Traum-Amerika, der andere hinter Traum-Frankreich herläuft. Kiesingers Partner-Partei müßte so gelenkig sein wie er selbst, sonst würde sie sich die Glieder ausrenken.

Das tapferste Schneiderlein ist die CDU: Gerstenmaier, Barzel, Erhard, Kiesinger, alle auf einen Streich. Würde Strauß oder Schröder Fraktionsführer und Barzel Minister, es würde nichts ändern. Der Offenbarungseid, oder, mit Adenauer zu reden, die Situation ist da. Die Union hat keinen Mann, der die Bundesregierung führen kann.

Schlimmer noch als die Alten ist die Junge Union, dieser Großväterklub, der Kontakte mit kommunistischen Jugendgruppen weiterhin ablehnt. Diplomatische Beziehungen zu den östlichen Staaten, man staune, sollen nach dem Willen dieser Funktions-Greise »nur dann aufgenommen werden, wenn sie zugleich den berechtigten deutschen Interessen förderlich sind und der Annäherung der europäischen Völker und Staaten dienen«. Das nennt sich »Motor der Union«.

Sind wir destruktiv, Wenn wir nicht schminken? Sind wir negativ, wenn wir uns weigern, zu barzein? Haben wir nichts anzubieten, keinen Ausweg, keinen Vorschlag, nichts?

Doch, der Weg aus der Krise ist einfach, wenn man einen Augenblick vergißt, daß wir in Bonn sind; wenn man den politischen Anstand zu Rate zieht.

Herr Erhard ist der überzeugend gewählte Kanzler der Bundesrepublik ("Bestätigung meiner Persönlichkeit"). Er hat, aus was für Gründen immer, das Vertrauen des gesamten Bundestags von rechts bis links verloren. Warum tritt er nicht zurück? Warum macht er den Weg nicht frei, entweder für Neuwahlen, oder, wenn er das nicht will, für die Wahl eines neuen Kanzlers, sei es mit absoluter, sei es, im dritten Wahlgang, mit relativer Mehrheit?

Keine Krankenbahre müßte ins Parlament getragen werden, und die tatsächliche Mehrheit, zu der wir die Berliner Abgeordneten ja wohl ohne Rücksicht auf De-jure-Einwände zählen müssen, wäre in jedem Fall absolut.

Wenn Erhard im Amt als »Bundeskanzler (out)« verfaulen will, oder nach dem Willen seiner Partei verfaulen soll, so trifft die Verantwortung für allen dadurch entstehenden Schaden ihn und seine Partei. Fehlt es zum konstruktiven Mißtrauensvotum an ein oder zwei Abgeordneten, so kann man den anderen Parteien nur raten, Ludwig Erhard weiterregieren zu lassen, bis er zurücktritt.

Warum tut er, warum tut die CDU/ CSU den Schritt nicht, der aus der Krise herausführte?

Ich weiß es. Weil die Führer der CDU/ CSU, gleich den Geistern der auf den Katalaunischen Feldern Gefallenen, sich noch in den Lüften der Opposition streiten würden mit Messer und Dolch. Weil sie nicht erkennen wollen, wie sehr sie am Ende sind, sind sie nun auch gleich ganz am Ende. Warum aber dann die anderen, warum wir?

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