»ERHEBEN WIR UNS!«
Die Frage meiner Freiheit sind gezählt. Auf der Schwelle zur Unfreiheit wende ich mich jetzt an jene Menschen, deren Namen mir nicht aus dem Sinn wollen: Hört mich an!
Ich bin 38 Jahre alt; ich wurde als zehntes Kind einer Wäscherin und eines Tagelöhners in Daugavpils (Dünaburg) geboren. Nach dem Abitur studierte ich an der staatlichen lettischen Pjotr-Stutschka-Universität. Dann arbeitete ich als Mitteischullehrer auf dem Lande, als Schulinspektor, als Vorsitzender der Kolchose »Jauna gvarde« im Bezirk Kraslava. Gegenwärtig arbeite ich als Heizer im Sanatorium »Belorussija« in Jurmala, Lettische SSR. Ich war zehn Jahre lang Komsomol- und acht Jahre lang Partei-Mitglied (am 13. März 1968 ausgeschlossen).
Ich wuchs in einem Milieu auf, in dem der Name Lenins mehr galt als irgendein anderer; in dem uns beigebracht wurde, die Wahrheit über alles zu stellen. Anfang 1942 fiel hei Moskau mein Bruder Kasimir Jachimowitsch, Träger des Ordens des Roten Sterns; bei der Verteidigung Leningrads kam mein Schwager Nikolaij Kirchenstein ums Leben, ein Neffe des ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Sowjet der Lettischen SSR. Mein Onkel Ignat Jachimowitsch, ein alter Revolutionär, verbrachte unter der bürgerlichen Regierung Lettlands acht Jahre im Zuchthaus ...
1956 fuhr ich als Komsomol-Freiwilliger in ein Neuland-Gebiet. Dort lernte ich meine künftige Frau kennen, obwohl wir zu Hause an derselben Fakultät -- der historisch-philosophischen -- studiert hatten. Sie war im ersten, ich im fünften Studienjahr. 1960 heirateten wir.
Ich muß von mir erzählen, weil ein Strom von Lügen und Verleumdungen über mich wohl demnächst aus den Gerichtssälen dringen wird. Ich muß von mir erzählen, weil mein Schicksal das Schicksal meines Volkes ist und meine Ehre -- seine Ehre.
Ich bin laut Paragraph 183 Absatz I des Strafgesetzbuches der Lettischen SSR angeklagt, unwahre Erfindungen verbreitet zu haben, die angeblich das sowjetische Staats- und Gesellschaftssystem verunglimpfen. Die Höchststrafe darauf sind drei Jahre Freiheitsentzug oder ein Jahr Zwangsarbeit im Straflager oder 100 Rubel Buße.
Mein Brief an Suslow*, den ich an die Adresse des Zentralkomitees der KPdSU gesandt hatte und der auch im Westen bekannt wurde, soll antisowjetisch gewesen sein. Der Appell von P. Litwinow und L. Bogoras** an die öffentliche Meinung der Welt, den ich verbreiten half, soll verleumderisch gewesen sein.
Am 27. September wurden bei der Durchsuchung meiner Wohnung Zeitungen, Zeitschriften, Exzerpte aus Werken Lenins, zwei Hefte mit meinen Notizen über die Ereignisse in der CSSR, das Tagebuch meiner Frau, ein nicht abgesandter Brief in Verteidigung P. Litwinows, ein Referat P. G. Grigorenkos über den Beginn des Krieges 1941-45 beschlagnahmt. Die Haussuchung geschah unter dem Vorwurf. ich hätte in meiner Bank über 19 000 Rubel geraubt, obwohl zu dem Zeitpunkt der tatsächliche Bankräuber schon gefaßt war und alle Polizeistationen die Anweisung erhalten hatten, die Fahndung einzustellen.
Am 5. Februar, am 19. und 24. März wurde ich zum Untersuchungsrichter der Staatsanwaltschaft des Rigaer Lenin-Bezirks, E. Kakitis, vorgeladen, obwohl ich in Jurmala wohne. Aus dem negativen Rapport, den der erste Sekretär des Parteikomitees des Bezirks Kraslava, G. M. Kirilow, und der Leiter der Produktionsdirektion, A. I. Oralow, über mich ausstellten, aus den Angaben des Dozenten der Landwirtschaftsakademie Jelgava, Genosse Pakalnietis (der behauptet, ich hätte angeblich erklärt, in Moskau P. Lit-
* Mitglied des Politbüros, Chefideologe der KPdSU.
** Larissa Bogoras-Daniel, Ehefrau des seit 1966 inhaftierten Sowjetdichters Julij Daniel.
*** Sowjetdichter Solschenizyn.
winow besucht zu haben, und ich hätte meinen Brief an Suslow auf Tonband gesprochen, um ihn ins Ausland zu schicken), und aus einer ganzen Reihe weiterer ähnlicher Indizien wurde mir eines klar: Wenn früher die Alternativen hießen, ob man mich vor Gericht stellen solle oder nicht, und wenn vor Gericht stellen, dann -- einsperren oder nicht, so ist jetzt nur noch eine Hälfte davon übrig: vor Gericht stellen und einsperren ...
Bertrand Russell, Sie sind ein Philosoph -- vielleicht ist es Ihnen begreiflicher, worauf sie ihre Anklage gründen? Von welchen Positionen gehen sie aus? Vom Klassenstandpunkt? Ich bin doch meiner sozialen Herkunft nach Arbeiter, und jetzt bin ich es auch meiner tatsächlichen Beschäftigung nach.
Welche Gesetze habe ich verletzt? Die Verfassung der Lettischen SSR und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gewähren die Freiheit, zu schreiben, zu verbreiten, zu demonstrieren und so weiter.
Vielleicht wird befürchtet, ich sei drauf und dran, Kapitalist zu werden? Als Kolchos-Vorsitzender besaß ich aber weder ein Stück Gartenland noch eine Kuh noch ein Schaf, nicht einmal ein Huhn, sondern lebte von meinem Arbeitslohn. Ich habe kein eigenes Haus, kein Auto, kein Sparbuch. Mein einziges Kapital sind meine Bücher und drei Kinder. Vielleicht glaubt man, ich arbeitete und arbeite immer noch nicht für den Sozialismus? Wenn nicht -- für welches System arbeite ich dann? Wen bedroht meine Freiheit, und warum soll sie mir unbedingt entzogen werden?
Genosse Alexander Dubcek, als am 25. August sieben Menschen mit den Losungen »Hände weg von der CSSR« und »Für Eure und für unsere Freiheit« auf den Roten Platz gingen, bis aufs Blut geschlagen und Antisowjetler«, »Saujuden« und so weiter gerufen wurden -- da konnte ich nicht bei ihnen sein, aber ich war auf Ihrer Seite und werde es bleiben, solange Sie Ihrem Volke treu dienen.« Seid standhaft, die Sonne wird wieder aufgehen ...«
Alexander Issajewitsch***, ich bin glücklich, Ihre Werke gelesen zu haben. Einen »Tag voll Herz und Wein« wünsche ich Ihnen!
Pawel (Litwinow) und Larissa (Bogoras-Daniel), wir begrüßten Euren Mut, wie es die Gladiatoren taten: »Ave Caesar, morituri te salutant!« Wir sind stolz auf Euch. »In den Tiefen sibirischer Gruben bewahrt Eure stolze Geduld ... Vergebens sind nicht Eure Leiden noch der Höhenflug Eurer Gedanken« (Puschkin).
Jewgenij Michailowitsch, alter Freund und Mitkämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg -- meine Verhaftung soll dich nicht unvorbereitet antreffen. Glaub's ihnen nicht, glaub's nicht! Ich kann kein Feind der Sowjetmacht sein.
Bauern der »Jauna gvarde«, ich habe acht Jahre unter Euch gearbeitet -- lange genug, um einen Menschen verstehen zu lernen. Urteilt selbst -- und laßt Euer Urteil der Wahrheit dienen, laßt Euch nicht hinters Licht führen.
Arbeiter von Leningrad, Moskau, Riga! Schauerleute von Odessa, Liepaja, Tallinn! Der Arbeiter Wladimir Dremljuga hat, indem er auf dem Roten Platz der Besetzung der Tschechoslowakei sein »Nein« entgegenwarf, die Ehre seiner Klasse gerettet -- und wurde ins Gefängnis geworfen (Murmansk 9. Postfach 241/17).
Unter dem Vorwand angeblicher Verletzung polizeilicher Anmelde- und Aufenthaltsbestimmungen wurde der Transportarbeiter Anatolij Martschenko ins Gefängnis geworfen (Gebiet Perm, Bezirk Tscherdyn, Postamt Nyrob, Postfach Sch 320/16 t). Sein Brief deckte die Falschheit der führenden Kreise auf -- ihre Einmischung in die inneren Angelegenheiten der CSSR. Zuvor hatte er, auf die Anzeige eines Spitzels hin, sechs Jahre in den Lagern im Mordwinischen Gebiet geschmachtet und dort Gehör und Gesundheit verloren.
Wer hilft einem Arbeiter, wenn nicht die Arbeiter? Einer für alle, alle für einen!
Genosse Grigorenko*, Genosse Jakir**! Erfahrene Kämpfer für die Wahrheit! Möge das Leben Euch der guten Sache erhalten!
Krimtataren! Wer ein ganzes Volk seiner Heimat beraubt, wer ein ganzes Volk, von den Säuglingen bis zu den Greisen, verleumdet hat, der ist aller
* Aus der Sowjetarmee entlassener General, der gegen die Prag-Intervention protestiert hat.
Sowjetischer Historiker, Sohn eines unter Stalin hingerichteten Generals.
Völker Todfeind. Auf Eure Heimat, die Krimtatarische Autonome SSR! Auf Eure Töchter und Söhne, die man in Gefängnisse wirft! Auf Eure Rechte, die man mit Füßen tritt!
Ich wende mich an die Letten, deren Land mir zur Heimat wurde, deren Sprache ich von Kindheit auf spreche wie Polnisch und Russisch ... Vergeßt nicht, daß in den Lagern Mordwiniens und Sibiriens Tausende Eurer Landsleute schmachten! Fordert ihre Rückführung nach Lettland! Verfolgt aufmerksam das Schicksal jedes einzelnen, der aus politischen Gründen der Freiheit beraubt wurde ...
Akademiemitglied Sacharow, ich habe von Ihren Gedanken gehört und bedaure, daß ich nicht mehr dazu kam, Ihnen zu antworten. Ich bleibe Ihr Schuldner. »Es gibt viel Böses in der Welt, dabei so wenige Menschen, die darob erstaunt sind« (Jussuf Has-Hadschib Balassagunski).
Kommunisten aller Länder, Kommunisten der Sowjet-Union! Ihr dient einem Herrn und einem Befehlshaber -- dem Volk. Das Volk aber besteht aus lebendigen Menschen, aus konkreten Schicksalen. Wenn Menschenrechte verletzt werden, und dies noch im Namen des Sozialismus, im Namen des Marxismus, dann kann es nicht zweierlei Meinung geben. Dann müssen Euer Gewissen und Eure Ehre Euch befehlen: Kommunisten, vorwärts! Kommunisten, vorwärts!
Vor allem ist es für die Sowjetmacht selbst gefährlich, wenn man Menschen um ihrer Überzeugung willen der Freiheit beraubt, denn so wird es nicht lange dauern, bis auch sie der Freiheit beraubt ist.
Die Mächtigen dieser Welt sind stark, weil wir auf unseren Knien liegen. Erheben wir uns!
I. A. Jachimowitsch,
Lettische Sozialistische Sowjetrepublik, Jurmala 10, Bulduru prospekts 18, Wohnung 4.
24. März 1969.