DDR Erich muß
Ost-Berlins Staatspartei wußte früh, was sie an ihm hatte: einen »notorischen Verräter der Arbeiterinteressen«, einen »Gefreiten des Herrn Strauß« -- eben »eine kuriose Figur«, »politisch einfältig«, stets mit »dümmlich erstaunter Miene«, einer, der »zwangsläufig immer tiefer in die Gosse der Weltgeschichte« fällt.
So schrieb das SED-Zentralblatt »Neues Deutschland« ("ND") vor zwölfeinhalb Jahren, wenige Tage nach dem Mauerbau. Gemeint war Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeistar von West-Berlin und für das »ND« der »Schöneberger Hochstapler«, der »dumme August« oder einfach der »Judas«.
Bei dieser biblischen Betrachtungsweise wirkte es denn auch allenfalls wie eine Feuerpause zum Beerdigen der politisch Toten, als die Nachrichtensprecher der deutschen Ost-Republik nach Willy Brandts Sturz Anfang Mai mit nun gedämpfter Stimme Erich Honeckers späte Kondolation verlasen: Schon immer habe das SED-Establishment seiner »Wertschätzung für die realistischen Züge in der Außenpolitik Willy Brandts Ausdruck gegeben«.
Öfter allerdings war es Geringschätzung. Und fast immer war es der politische Holzhammer, mit dem die SED nach ihrem späteren Entspannungspartner langte -- erst nach West-Berlin und später nach Bonn. Mit der CDU/CSU teilte sie ihn sich als »Willy Weinbrandt«, ließ ihn später zum »Reklamechef für CDU-Politik« und zum »Erfüllungsgehilfen des westdeutschen Mono· polkapitals« aufrücken, prügelte ihn wahlweise als »Lügner«, »Sprücheklopfer« und »Biedermann«, der eine »Neuauflage Hitlerscher Taktik« erprobe.
Doch die Tiraden gingen ins Leere. Die von den Sowjets anbefohlene Politik der friedlichen Koexistenz machte zu Beginn der siebziger Jahre gleich ein doppeltes SED-Dilemma sichtbar: Einmal hatte die DDR-Bevölkerung trotz der jahrelangen Agi-Prop-Schläge kaum Wirkung gezeigt; bei geheimen DDR-Umfragen der SED-Demoskopen nach dem Kanzler-Besuch in Erfurt votierten fast 80 Prozent für den Entspannungspolitiker Brandt. Und zum anderen -- SED-Schock Nummer zwei -- können sie dies auch mit gutem Gewissen tun, seit KPdSU-Chef Leonid Breschnew vor einem Jahr im sozialliberalen Bonn Freundschaftsküsse getauscht hatte.
Die Einheitssozialisten behalfen sich, so gut es ging. Um der Verwirrung ihrer Funktionärskader über die nicht mehr reinlich in Gut und Böse geschiedene West-Welt Herr zu werden, gaben die SED-Ideologen die Parole aus, nunmehr die »rechte Sozialdemokratie« zu schlagen, wo immer sie -- so ein für die Genossen-Agitation zuständiger SED"Diplomgesellschaftswissenschaftler« -- ihr »verräterisches Lügenmaul aufreißt«. Willy Brandt jedoch, mittlerweile zusätzlich durch den Friedens-Nobelpreis entrückt, blieb ausgespart.
Dafür avancierte nun Helmut Schmidt rasch zu einem der Top-Watschenmänner der SED. Bereits zwischen 1969 und 1972 beim DDR-Volk als »Kriegsminister« eingeführt, nach »dem Gardemaß der einheimischen Reaktion wie des USA-Imperialismus geschneidert« und eigentlich »Mann der CDU mit sozialdemokratischem Parteibuch« ("ND"), wurde Schmidt -- neben seinem Nachfolger Georg Leber -- jetzt auf parteiamtlichen Schulungsveranstaltungen als eigentlicher Störenfried der zwischendeutschen wie der europäischen Entspannung präsentiert.
So reihten die Analytiker des Ost-Berliner »Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft« Helmut Schmidt unter jene »rechten sozialde-
* In Leipzig bei der Herbstmesse 1973.
mokratischen Führer« ein, die »offen auf die Position des Imperialismus« eingeschwenkt und für »umfassende »Gewaltanwendung gegen das werktätige Volk« seien.
Daß nun -- und ausgerechnet durch Mithilfe eines DDR-Agenten -- Helmut Schmidt in Bonn vorzeitig an die Macht gelangte, hat für die SED denn auch überwiegend negative Aspekte. Ost-Berlin kann bei der neuen Bonner Mannschaft kaum noch auf jenen Verständigungs-Bonus rechnen, mit dem Brandt sein Jahrhundertwerk »neue Ostpolitik« mitunter zu fördern bereit war. »Wir werden wieder Vorleistungen erbringen müssen«, seufzte ein Regierungsmitarbeiter in Ost-Berlin kurz nach dem Brandt-Rücktritt. Und ein in der DDR-Hauptstadt akkreditierter Ostblock-Diplomat sah es, am Tage der Schmidt-Vereidigung, ähnlich: »Jetzt müssen unsere deutschen Genossen den Schmidt bei Laune halten.«
Die SED-Genossen reagierten prompt. Kaum war DDR-Premier Horst Sindermann von einem
-- deutschlandpolitischen Privatissimum bei Sowjet-Chef Leonid Breschnew nach Ost-Berlin zurückgekehrt -- in Bonn debattierten Koalition und Opposition noch über Schmidts Regierungserklärung -, da ließ Partei-Chef Erich Honecker am Dienstag vergangener Woche einen Außenamts-Sprecher verkünden, die DDR wolle jetzt wieder mit sich reden lassen: über die vor einem halben Jahr auf zehn
(für Ost-Berlin) und zwanzig Mark (für die übrige DDR) verdoppelte Mindestumtauschgebühr für westdeutsche und West-Berliner DDR-Besucher ebenso wie über einen Energieverbund unter Einschluß West-Berlins und andere »Fragen der Entwicklung und Sicherung der Wirtschaftsbeziehungen«.
Warum Ost-Berlin nun beinahe eilfertig bereit ist, den Bonner Verhandlern bei Komplexen Hoffnung zu machen, wo die DDR-Position bislang unerschütterlich schien -- schon für das mittlere Funktionärs-Korps der SED ist das längst eine entschiedene Frage. »Der Erich«, verriet ein Partei-Journalist bereits vor dem Honecker-Angebot, »muß den (sowjetischen) Freunden jetzt beweisen, daß Guillaume kein europäisches Porzellan zerschlagen hat.«