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ERINNERUNG, RACHE, PHANTASIE

aus DER SPIEGEL 18/1964

Auf den Wiesen mag im Frühjahr der

letzte Schnee schmelzen, in den Buchläden - kaum. Bücher, die das Weihnachtsgeschäft zugeschneit hat, die seitdem unter einer Eisdecke von Bestsellern begraben liegen, dringen auch jetzt kaum noch an die Oberfläche. Und wer nur um ein paar Monate zurückblickt, auf ein Buch des vergangenen Herbstes, der wirkt schon lästig, stört nur den zügigen Konsum, denn ungestört möchte sich die neue Saison in neue Favoriten verlieben.

Außerdem, dieser neuerdings wiederaufgelegte Roman des Pariser Armendoktors und Exfaschisten Céline gehört nur scheinbar in den letzten Herbst. Schon 1937 erschien eine deutsche Ausgabe, denn gleich nach seinem Debüt, der »Reise ans Ende der Nacht« von 1932, lief Célines Ruhm über die Grenzen. Doch die alten Jahreszahlen täuschen, denn der Schatten Célines, des 1961 Gestorbenen ist immer noch lang, fällt über nahezu alles, was uns heute als aktuell an unserer. Literatur einleuchtet. Kaum zufällig war der erste, den ich von »Tod auf Kredit« erzählen hörte, der Autor der »Blechtrommel«. Auch Wolfgang Koeppen hat, wie man weiß, bei Céline studiert, und Martin Walser taufte ihn den »Proust der kleinen Leute«. Viel von Peter Weiss und Arno Schmidt, das Beste von Jakov Lind weist zurück auf diesen rabiaten Außenseiter. Sein Kredit unter den Auguren und sein Mißerfolg beim deutschen Publikum halten sich brüderlich die Waage.

Ganz unbegreiflich ist das nicht.

Genügend an Céline, auch an diesem

Buch, stellt sich quer zur herrschenden literarischen Mode. Während im Moment die biedere und die kühne Handwerklichkeit, der gekonnte Zugriff bis ins letzte Detail, allgemein geschätzt wird, scheint die Suada dieses Erzählers auf den ersten Blick so form wie absichtslos. El will durchaus nicht vom Fach sein, er schnaubt vor Dilettantismus. Roh und rüde ist sein Erzählstoff, hier eine kleinbürgerliche Jugend im Paris der Jahrhundertwende, autobiographisch wie alles von Céline, und dieses frühe Leben schüttet er über uns aus wie einen Mülleimer, Buntes, Grauei, Faules gemischt.

»Ich krieche unter den Trümmern meiner selbst hervor«, sagt er einmal, und das tut er Seite für Seite. Grell, dissonant scheint da das Leben selbst auf die Oberfläche der Sprache zu treten, durch keinerlei Form, kein Sentiment oder Bewußtsein filtriert. Alles ist Szene, Aktion, Rede und Gegenrede, die Innenansicht der Figuren dagegen wie ausgelöscht. Und jede Seite ist vollgehagelt mit jenen ominösen drei Pünktchen, die hinter zusammengestürzten Sätzen anzeigen: Hier geht nichts zu Ende, wird nichts durch Form befriedet und gerundet, kein Satz und kein Gedanke.

»Manchmal«, gesteht Céline und untertreibt damit nur, »geht mir die Luft aus. Die Gedanken stolpern und wälzen sich am Boden.« Er läuft wie um die Wette mit seiner Erinnerung, holt sie nie ein. »Meine Qual ist der Schlaf«, sagt er. »Hätte ich gut geschlafen, ich hätte nie eine Zeile geschrieben.« Das wird man ihm aufs Wort glauben müssen. So wie hier, verzweifelt mit müden und doch weit aufgerissenen Augen, zwischen Alptraum und genauem Blick, so schreibt nur einer, der nicht ins Bett, nicht zur Ruhe findet. Wenn es schon Sonntagsmalerei ist, Frieden stiftet sie nicht.

»Der wahre Haß kommt von ganz tief unten, er kommt aus der Jugend, der

wehrlos beim Schuften verlorenen« - das ist ein Programmsatz. Denn Rache gehört erklärtermaßen zu den Absichten dieses Protokolls, Rache durch Erinnerung, Sprache, Humor, die nachträglich über das Elend und den Ekel eines engen, stickigen Milieus triumphieren mochten. Ein einziger Motor treibt alle Handlungen dieses Romans, reizt und verdirbt die Hoffnungen seiner Figuren: der alltägliche, lächerliche Raubzug nach Geld, Kampf ums sogenannte Existenzminimum.

Aber so nackt und materiell dieses

Motiv sein mag, so blühend wuchern aus ihm die Abenteuer. Hier gerät alles, Eintreibung von Mietzinsen, Ausflug über Land, Preisausschreiben für Erfinder, alles gerät zur monströsen Odyssee, und Schiffbruch ist unweigerlich das Ende. Ohne Katastrophe und Tohuwabohu, ohne daß sich das Unterste zuoberst kehrt und die Welt, verleumdet als ein »Misthaufen«, der »bis zu den Sternen summt«, dem Erzähler zu Füßen liegt, ohne solches Fazit kommt bei Céline keine Geschichte zur Ruhe. Nackte Tendenz zu Macht und Genuß, blindes Eigeninteresse entdeckt er an allen Handelnden, die Tendenz zur Katastrophe in allen Handlungen. Darüber Bescheid zu wissen, wütend und achselzuckend, nichts mehr »mit Seele zu bekleckern« oder schönem Stil, empfiehlt er sich und seinen Zuhörern: »Ich will nicht als Dummkopf krepieren! Mit einer poetischen Fresse!«

Schon reden, behauptet Céline, bedeutet, sich auf die Welt einlassen. Sein Held also, der vom Leben früh verprügelte Halbwüchsige, beschließt, auf Monate hinaus zu schweigen: »Notwendig ist nur, der Welt den Mut zu nehmen, sich mit einem zu befassen ... Man muß sich in sich zurückziehen, wenn man winzig ist ... Öffne nur dein Maul, sie fahren gleich in dich hinein ... Man ist nicht stark! Also wird man zäh!«

Wegtauchen unter alle Vernunft und Sprache, bloße Kreatur sein, listig, stumm, das wär's: Erlösung nämlich, wenn die Welt als ein Hobbes'scher Schlachthof begriffen wird, wie hier. Wo jeder nur jeden tritt und betrügt, muß man sich unsichtbar machen oder aber der jeweils Tretende und Betrügende sein. Mehr und Tieferes an Lebensphilosophie - und ähnliches tönt, allerdings hinterlistig, dialektisch, auch aus den Songs der »Dreigroschenoper« - läßt sich aus der Oberfläche dieses Buches nicht abzapfen.

Doch zu unserem Glück und seinem

Unglück bleibt der Erzählende ja seiner mausgrauen, knochenharten Doktrin durchaus nicht treu. Er beteuert zwar, nichts an seinen Figuren mehr zu hassen und zu verachten als ihre Gefühle und ihre Rhetorik, jede Ausflucht aus der erbärmlichen Realität. »Sie glaubte nicht an Gefühle«, sagt er von jemandem, »sie urteilte niedrig, sie urteilte richtig.« Er, Céline, möchte das auch, möchte vielleicht nur hämisch und misogyn danebenstehen, doch im Erzählen geht auch mit ihm immer die Phantasie - durch, ein herrliches und fürchterlich erfinderisches Jägerlatein, das alle Realität in seinen Netzen zugleich schmückt und abwürgt. Ein Rhetoriker und Pathetiker scheint er, ein Held des Geredes und einer noch auf der Flucht kühnen Phantasie, genau wie seine Figuren auch, die sich immer nur redend über ihrer Misere aufblähen, die immer noch redend, Glanz und Rechtfertigung bis zuletzt auf der Zunge, endlich zusammenbrechen.

Erzählend also jagt er zwar scheinbar seiner Erinnerung nach, ist aber zugleich auf der Flucht vor ihr, vor dem nämlich, wie es »wirklich« gewesen ist. Kein Wunder also, wenn dieser Jagende und Gejagte so atemlos scheint, so reich an Einfällen und doch so machtlos. In hämmernder Parataxe, die sich kein Legato, keine Übersicht gönnt, der Angst und Unfreiheit die Feder führen, kämpft dieser Erzähler mit dem, was ihm alles Erzählen doch immer wieder aus der Hand schlägt, mit dem Vergessen und der Vergänglichkeit.

Uhren faszinieren Céline und seine Figuren nicht umsonst: »Der große Zeiger behexte ihn... der, der schnell läuft. Stundenlang starrte er ihn an, ohne sich zu rühren.« Dagegen und auch dagegen, wie er im Leben »unterwegs Leute verliert ... Kerle, die man nie ... nie mehr wiedersehen wird«, möchte Céline sich wehren, allerdings ohne Aussicht: »Ich wollte sie am Rock festhalten ... eine Schnapsidee... damit sie stehenblieben ... sich nicht mehr rührten! ... Ein für allemal haltmachten! ... Und man sie nicht mehr fortgehen sieht.«

Festhalten möchte er, und ist doch selbst auf der Flucht - Rache nehmen, und würgt nur an Abschiedsgefühlen. Das Beste an Céline reimt sich immer in Widersprüchen. Noch seine Blasphemien verraten hinterrücks Frömmigkeit. »Wenn ich den lieben Gott zu Hause antreffen sollte«, sagt er, »stäche ich ihm das Innere des Ohrs auf - ich hab's gelernt. Möchte mal sehen, ob ihm das Spaß macht?« Und einige Sätze weiter: »Man muß dem Herrn ein schönes, mit Geschichten besticktes Schweißtuch überreichen.« Genau das hat er versucht.

Doch auch zu frommem Augenaufschlag läßt er uns keine Muße. Der Fall Céline, des literarischen Antisemiten und Kollaborateurs unter dem Vichy -Regime, hat politischen Beigeschmack. Er bringt, wie Pound oder Hamsun oder Benn (und man muß sogar ergänzen: wie Brecht), alle linientreuen Liberalen in Verlegenheit. Gern möchten sie das poetisch Reine herausdestillieren aus dem politischen Ärgernis und unterscheiden zwischen Zeilen, die falsches Engagement verdorben hat, und solchen, die trotzdem und jenseits davon sozusagen unschuldig bleiben.

Das scheint mir so leichtfertig wie fruchtlos. Célines Werk und Leben ist so unteilbar wie das eines anderen, und auch »Tod auf Kredit« kann als Dokument und Kommentar zu seiner politischen Karriere gelesen werden. Es erinnert, wieder einmal, daran, wieviel gestauter Kleinbürgerhaß und -gestank, wieviel Jahrhundertwenden-Misere sich in der historischen Orgie des Faschismus verklärte. Denn was hier erzählt wird, läuft nicht zufällig und nicht nur zeitlich parallel zu Hitlers Wiener Jahren. Doch Céline beweist immerhin, was jedem politischen Fanatismus wie Gift schmecken muß: Humor.

So haben die Rotstifte der bequemen Schöngeister und Pharisäer auch an ihm nichts zu streichen und zu heilen. Céline und seine Bücher verdienen genauso rücksichtslos beim Namen genannt zu werden, wie er die Welt, schimpfend oder unter Gelächter, beim Namen genannt hat. Für unsere gütige Nachsicht ist er sicherlich zu groß.

Rowohlt

Verlag

Reinbek

440 Seiten

25 Mark

Céline

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