PROZESSE Ermittlung e. D.
Seit letztem Mittwoch macht Kurt Georg Kiesinger, vormals Nationalsozialist (Parteieintritt 1. Mai 1933) und ehemaliger stellvertretender Chef der Rundfunkpolitischen Abteilung des NS-Außenamtes, sich nicht mehr des Meineids verdächtig, wenn er behauptet. über Judendeportation und Judenmord nur gewußt zu haben, »was alle möglichen Deutschen damals erfahren hatten«.
Unter dem Aktenzeichen 8 Js 339/71 stellte die Bonner Staatsanwaltschaft am Mittwoch letzter Woche Ermittlungen ein, die dem früheren Kanzler nach der Erwartung von 29 Bundesbürgern bewußt falsche Aussagen vor dem Frankfurter Schwurgericht im Sommer 1968 hätten nachweisen sollen.
Vom Zeugen Kiesinger hatte sich der damals in Frankfurt der Beihilfe zum Mord an 30 000 Juden angeklagte ehemalige Legationssekretär Fritz-Gebhardt von Hahn Beistand für die These versprochen, ausländische Nachrichten über Judenverfolgungen seien seinerzeit unglaubhaft gewesen. Denn, so erinnerte sich der 1942/43 im AA-Judenreferat D III beschäftigte Hahn, auch Kiesingers Rundfunkpolitsche Abteilung habe ja immer nur von »Greuelpropaganda« gesprochen.
Im Zeugenstand berief sich Kanzler Kiesinger dann auf einen 1942 entlassenen Redakteur des Abhör-Sonderdienstes »Funkspiegel«. der ihm noch jetzt versichert habe, bis 1942 könne er sich nicht an Meldungen über Judendeportationen erinnern. Kiesinger vor Gericht: »Ich selber habe keine Erinnerung an solche Meldungen.«
Erst später, nach 1942, wollte der Zeuge Kiesinger »von vielen Seiten« gehört haben, »was viele Leute gehört haben: Ich habe gehört, daß viele Juden weggeholt worden sind«.
Diese so späte Erkenntnis des Dr. Kiesinger bezweifelt einer seiner früheren Untergebenen, der zu den 29 Bürgern zählt, die nach dem Zeugenauftritt des CDU-Kanzlers Strafanzeige wegen Verdachts des Meineids und falscher Aussage stellten: Dr. Wilhelm Duwe, von 1941 bis 1943 Lektor und wissenschaftlicher Hilfsarbeiter des AA in der Abhörstelle aller ausländischen Sender im »Seehaus« am Wannsee, hält nämlich »für ganz unmöglich«, daß der damalige AA-Angestellte Kiesinger im Range eines Ministerialdirigenten »als mein Abteilungsleiter darüber nur soviel wie jeder andere Deutsche auch gewußt hat«.
Duwe, der freilich seinen Abteilungsleiter nie zu Gesicht bekommen hat, über Kiesingers Mitwisserei: »Genau wie mich mußte es sicher auch ihn immer wieder frappieren, was alles von diesen grauenerregenden Abscheulichkeiten dem neutralen und feindlichen Ausland bekannt war und über den Rundfunk verbreitet wurde.«
Doch Bonns Ermittlungsbehörde sah in Duwes Hinweis eine gedankliche Fehlleistung: »Entgegen verschiedenen
* Im Juli 1968 vor dem Schwurgericht in Bonn.
Darstellungen hat Dr. Kiesinger nämlich nicht generell behauptet, er habe hiervon nur soviel gewußt wie jeder andere Deutsche auch, und er habe diesbezügliche ausländische Rundfunkmeldungen für Greuelpropaganda gehalten.« Vielmehr, so der 69 Seiten lange Beschluß über das Ende der Ermittlungen, habe Kiesinger nur bis 1942, und zwar »unwiderlegt«, jegliche Kenntnis vom Schicksal der Juden bestritten, während er eine spätere Kenntnis »nicht in Abrede gestellt hat«.
Die Staatsanwaltschaft zieht dazu Kiesingers Zeugen-Aussage vorn Juli 1968 heran: »Bestimmt hatte ich im Laufe der Jahre das Gefühl, daß da nicht alles stimmt, daß da nicht nur evakuiert und deportiert wird, sondern mehr geschieht. Bis zum Ende des Krieges hat sich dies bei mir ganz deutlich eingestellt.« Wann genau sich dem AA-Angestellten Kiesinger der Verdacht einstellte, »daß da mehr sein könnte als nur Deportationen«, blieb freilich bislang ungeklärt.
Die Bonner Staatsanwaltschaft bescheinigt denn auch dem Ex-Bundeskanzler eine Vergangenheit, die seine Kenntnisnahme von NS-Verbrechen nicht ausschließt. So sind die Staatsanwälte davon überzeugt. daß Kiesinger während seiner AA-Zeit nicht nur gehört, sondern von einem gewissen Zeitpunkt an auch gewußt hat, daß Juden nicht nur in den Osten deportiert, sondern auch ermordet worden sind. Doch gelang es nicht, nachzuweisen, daß Kiesinger »dienstliche Meldungen« über die NS-Juden-Behandlung zugegangen sind.
Handikap für die Bonner Ermittler: Kiesingers damaliger Vorgesetzter, der Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung, Gesandter Gerd Rühle, und Kiesingers Referatsleiter Professor Mahr fielen als Auskunftspersonen aus: Beide sind tot.