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»Erschieß mich, ich will nicht mehr leben«

aus DER SPIEGEL 6/1979

Martin, der Angeklagte, ist 20 Jahre alt. Ingo, das Opfer, war 20 Jahre alt, als er getötet wurde. Die Zeugen, auf deren Aussagen es in dieser Sitzung ankommt, sind um die 20 Jahre alt. Und es wird vor einer Jugendkammer des Landgerichts Hannover verhandelt, denn einer Reifeverzögerung wegen soll Martin noch als Jugendlicher anzusehen sein. Es wird also vor einem Gericht verhandelt, das ständig mit jungen Leuten zu tun hat.

Fragen werden gestellt, Vorhalte gemacht. Doch zwischen den jungen Leuten und den Verfahrensbeteiligten kommt kein Gespräch in Gang. Keine Frage erreicht die jungen Leute, kein Vorbehalt beeindruckt sie. Es ist, als würden die Angehörigen eines Volkes, dessen Land vom Feind besetzt wurde, von Vertretern der Besatzungsmacht befragt und konfrontiert.

Keiner der Verfahrensbeteiligten ist ein Greis, zwischen 40 und 50 Jahren sind die meisten alt. Doch zwischen ihnen und den 20jährigen, denen sie Fragen stellen und Vorhalte zu machen haben -- ist nichts.

Man kann nicht einmal sagen, daß die jungen Leute nicht antworten wollen, daß sie sich den Fragen und Vorhalten widersetzen. Sie antworten schon, doch wie sie antworten. Hat es Reibereien in der Gruppe, in der Clique der jungen Leute gegeben? Reibereien »waren immer da«. Worum ging es? »Lappalien.« Wer hatte »das Sagen«? Achselzucken. Wie merkte man, daß der Angeklagte unter Alkohol stand? »Schwer.«

Die Zeugen sind Auszubildende, Bauschlosser, Stenokontoristin, Schüler oder Speditionskaufmann, und sie sind um die 20 Jahre alt. Einer von ihnen ist von einem von ihnen getötet worden. Vor dem Saal oder außerhalb des Gerichts, wenn sie unter sich sind, sieht man sie reden, gestikulieren sogar. Doch ist ein Älterer in der Nähe, so sind sie stumm.

Georg-Martin Schulze, 20, er wird Martin genannt, hat in den frühen Morgenstunden des 12. Mai 1978 den Elektrotechniker Ingo Grünig, 20, seinen besten Freund, wie er sagt, durch sechs oder sieben Schüsse aus einem Kleinkalibergewehr getötet.

Ingo soll zu Martin gesagt haben: »Martin, erschieß mich, ich will nicht mehr leben.« Und Martin hat geschossen, sechs- oder siebenmal. Beim ersten Schuß will er noch gedacht haben, die Waffe sei nicht geladen. Aber als er dann getroffen hatte, als Ingo, der schon gestürzt war, sich noch einmal aufrichtete und sagte, er solle noch mal schießen -- da hat er weitergeschossen. Er hat dabei jede Patrone einzeln nachgeladen.

Martin und Ingo hatten Alkohol getrunken. Bei dem Getöteten wurde ein Blutalkoholgehalt von 2,8 Promille festgestellt. Für Martin werden maximal 3,1 Promille errechnet. Doch Martin und Ingo hatten nicht zum ersten Mal getrunken. Nichts spricht dafür, daß sie bis zur Besinnungslosigkeit betrunken waren. Eine Schuldunfähigkeit Martins im Sinne des Paragraphen 20 kann der Gerichtsmediziner Professor Zink, Hannover, nicht erkennen.

Die Hoffnung, der Alkohol könne die entsetzliche Szene dieser Tötung zugänglich machen, erfüllt sich nicht. Doch zuletzt bleibt dem Gericht nur der Alkohol, denn in der Verhandlung ist nichts sichtbar geworden, was Einblick gibt. Martins Biographie ist ein Jammer -- doch für die täglichen Arbeitsstunden, die er als Bote einer Bank geleistet hat, ist er mit den Schäden, die ihm diese Biographie zufügte, zurechtgekommen. Vorgesetzte und Kollegen haben fassungslos von seiner Tat gehört, niemand hat ihm so etwas zugetraut, niemand sah derartiges kommen.

Man kann das, man darf das nicht ausbreiten: Martins Mutter hat ausgesagt, und ihre Aussage war der Bericht über ein Martyrium. Martins Vater ist Trinker, zumindest ist er es gewesen, er lebt ja noch und besucht abwechselnd mit der Mutter den Sohn in der Strafanstalt. Vielleicht hat er sein Teil begriffen und auf sich genommen, und wer weiß denn auch, warum er ein Trinker geworden ist. Warum einer zwischen sich und den Alltag Schnapsflaschen wie Fender hängt -- dafür ist selten schierer Leichtsinn der Grund.

Martins Mutter hat mit Tränen und Tabletten versucht durchzuhalten. »Der Geruch, der ekelhafte, und die Schnarcherei Und die Szenen, die Schläge, die Versprechungen und Enttäuschungen ... Gespielt hat Martins Vater auch. Das Geld wurde vertan. Die Mutter ließ sieh scheiden. Sie ließ sich aber auch zur Wiederheirat bewegen. »Er bettelte immer wieder.«

Daß Martin schon früh an den Alkohol geriet, ist kein Wunder, das ist fast selbstverständlich. Und daß er aus dem Haus wollte, noch selbstverständlicher. Eine Weile lebt er bei seiner Schwester, an der Kindheit und Jugend in diesem Elternhaus auch nicht spurlos vorübergegangen waren. Seit Februar 1978 hatte er dann eine Wohnung für sich allein.

Es war ihm gelungen, sich von seiner Familie abzusetzen, und er meinte wohl, er habe sich befreit, er könne die Toten ihre Toten begraben lassen. Doch seiner Familie entrinnt keiner, man kann nur aus ihr herauswachsen und versuchen, das, was sie für einen bedeutet, produktiv zu machen.

Unter den jungen Leuten, mit denen er in seiner Freizeit zusammen ist, stellt er nun etwas ganz Besonderes dar. Er hat eine Wohnung für sich allein -- er hat das geschafft, wovon die anderen träumen. Der Erste Staatsanwalt Horst Plessner, 46, hat das in Hannover erwähnt und in seiner Bedeutung gewürdigt, als er seinen Strafantrag begründete (und soviel auch sonst gegen seine Begründung zu sagen ist, da hat er wirklich etwas entdeckt).

Die Bedeutung, die es heute für die jungen Leute hat, nicht mehr bei ihrer Familie zu wohnen, belegt auf das drastischste die Anteilnahme, die Martins eigene Wohnung unter seinen Altersgenossen auslöst. Sie besuchen ihn, sie helfen ihm, die Wohnung zu richten, in der später Ingo getötet gefunden wird.

Martin war plötzlich jemand unter den jungen Leuten, mit denen er sich in seiner Freizeit traf. Man besuchte ihn nicht nur und half nicht nur beim Ausbauen seiner Insel der Seligen und übernachtete nicht nur bei ihm -- man orientierte sich auch immer stärker an ihm.

In der Gruppe, die man nun eine Clique nennt, unter den 10 bis 20 jungen Leuten, die sich nach ihrem Arbeitstag zu treffen pflegten, war bis dahin wohl eher Ingo die Person gewesen, nach der man sich richtete. 1,88 groß, ein athletischer Kerl, gutmütig und bedächtig mit dem Wort, war er schon, was die körperliche Kraft anging, bestimmend.

Gerade Ingo aber lebte noch zu Hause. Seine Eltern, zutiefst getroffen vom gewaltsamen Tod ihres Sohnes, untröstlich und unversöhnbar (aber wie denn auch), traten in Hannover als Nebenkläger auf. Sie haben ausgesagt, doch es verbietet sich, ihre Aussage zu deuten. Es darf nur gesagt werden, daß Ingo behütet aufgewachsen ist und daß gerade er mit 20 Jahren noch besonders behütet lebte. Die Eltern schliefen nicht ein, bevor er zu Hause war.

In der Gruppe, die man nun eine Clique nennt, muß es zu Spannungen gekommen sein. »Das Sagen« hat, wenn man die jungen Leute in einer Gruppe fragt, nie einer von ihnen. Sie erliegen der Illusion, es sei möglich, eine Gruppe und nichts als eine Gruppe zu sein; eine Gruppe, in der jeder den gleichen Raum hat und keiner ein Quentchen mehr.

Sie bemerken als Opfer dieser Illusion (die auch ich für ein Ziel halte, doch für ein noch nicht erreichtes, für ein vorerst nur unter optimalen Umständen zu erreichendes Ziel) die Kräfte nicht, die in Konflikt geraten, die miteinander ringen. Plötzlich prallen dann Ansprüche aufeinander, jählings gerät ein Durchsetzungswille an einen anderen.

Das Gericht in Hannover hat Martin wegen einer vorsätzlichen Rauschtat zu vier Jahren Jugendstrafe verurteilt. Es hat nichts als den Alkohol gehabt, als es ans Urteilen ging. Es hatte sich, da ihm anderes nicht zur Verfügung stand, an die Einlassung des Angeklagten zu halten. Die war nicht widerlegt worden.

Doch da gab es eine Nebenhandlung, die nicht ausgeschöpft, die nicht einmal behandelt worden ist. Wochen vor Ingos Tod sind Mitglieder der Gruppe, die man nun Clique nennt, auf der Rückreise von einem Nordseeinsel-Aufenthalt in Bremen gewesen. Nach Besuch einer Diskothek trafen sie einen Homosexuellen, der sie in seine Wohnung einlud. Sie nahmen die Einladung an, verließen jedoch die Wohnung, als sie bemerkten, worum es dem Gastgeber ging.

Dann aber kehrten sie in die Wohnung zurück. Und sie schlugen ihren Gastgeber nicht nur zusammen, sie nahmen auch Wertgegenstände aus der Wohnung mit. Ingo war nicht dabei, die Inselreise hatte ohne ihn stattgefunden, doch Martin ist dabeigewesen. Ingo hat man nur später von dem erzählt, was in Bremen geschehen war. Wie hat er reagiert?

Der Bremer Vorgang war in Hannover nicht angeklagt. Die Staatsanwaltschaft hat von ihm erst während der Sitzung erfahren. Der Verteidiger kannte ihn nicht. Daß er sich jedem Versuch widersetzte, ihn beiläufig einzuführen, war seine Pflicht. Dem Rechtsanwalt Börner, der sich gewiß in einem schweren Konflikt befand, ist hoch anzurechnen, daß er unnachsichtlich auf dem angeklagten Thema bestand. Und auch das Gericht hat nur seine Pflicht getan, als es sich weigerte, den Bremer Vorgang anders als durch eine Nachtragsanklage anzunehmen.

Die Staatsanwaltschaft hat sich zu einer Nachtragsanklage nicht entschließen können. Wir hatten den Eindruck, daß der Erste Staatsanwalt Plessner wie alle Beteiligten vor den Folgen einer Nachtragsanklage scheute. Die Verhandlung hätte ausgesetzt werden müssen, noch einmal wäre alles zu Lasten des Angeklagten, aber auch der Zeugen zu erörtern gewesen. Und vor allem wäre möglicherweise ein anderes, härteres Ergebnis herausgekommen.

Wenn die jungen Leute nicht mit uns reden, wenn wir sie nicht erreichen, selbst und gerade dann nicht, wenn einer von ihnen von einem von ihnen getötet wurde -- so ist das wohl auch darauf zurückzuführen, daß Änderungen im Ergebnis der Beweisaufnahme, die Millimeter ausmachen, Änderungen in der strafrechtlichen Würdigung um Kilometer nach sich ziehen können.

Sie mißtrauen unserer Behauptung, es ginge uns im Umgang mit jugendlichen oder noch als Jugendliche anzusehenden Angeklagten vor allem um Hilfe, Bewahrung und Rettung. Sie mißtrauen uns so sehr, daß sie uns nicht einmal erst ignorieren müssen.

Haben sie unrecht, verkennen sie uns? Was« sich zwischen Martin und Ingo abgespielt hat, ist nicht geklärt worden, nicht einmal von ferne. Ein rechtskräftiges Urteil liegt vor: ein Urteil, das Martin eine größere Chance läßt als ein härteres Urteil, denn unser Vollzug, auch und gerade der« mit Jugendlichen, ist nicht so ausgestattet, daß er viele Möglichkeiten hätte (und seine Wirkungen werden mit der Dauer der Haft nur immer geringer).

Als Sachverständiger wurde in Hannover auch der Psychiater Professor Finzen, Wunstorf, gehört. Martin hat ihm keine Mitteilungen über seine Tat gemacht. Professor Finzen ist ein engagierter Mann. Er hätte wohl mehr sagen können, als er gesagt hat. Doch streng wie nie hielt er sich daran, dem Gericht nichts als die möglichen Deutungen vorzutragen und ihm die Entscheidung zu überlassen. Auch er, wenn wir das richtig gesehen haben, schreckte davor zurück, das Ergebnis der Beweisaufnahme um jene Millimeter zu beeinflussen, die Kilometer nach sich ziehen können.

Wir weichen in unsere Jugendgerichtsbarkeit aus. Es wären Beispiele in Fülle anzuführen. Und so steht man denn vor Urteilen, über die man ihrer Beschränkung im Strafmaß wegen froh sein muß -- deren lückenhafte Feststellungen jedoch der Therapie keinen Ansatz bieten. Verträgt unsere Bereitschaft, jungen Leuten zu helfen, nur Bruchteile der Tatsachen?

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