Zur Ausgabe
Artikel 25 / 74

CHEMIE Erst die Leiche

Die Massenchemikalie Formaldehyd hat sich im Tierversuch als krebserregend erwiesen. Gesundheitsminister Geißler verzögert Schutzvorschriften für Menschen. *
aus DER SPIEGEL 27/1984

Im Schwarzwaldstädtchen Schramberg boykottierten, am Montag vergangener Woche, Berufsschüler den Unterricht, weil sie ihre Gesundheit »akut bedroht« sehen: Die Wände der Schule dünsten Formaldehyd aus, ein stechend riechendes Gas. Seit Jahren klagen Schüler und Lehrer über Hautausschläge, Kopfschmerzen und Übelkeit.

Im holsteinischen Wasbek bei Neumünster schimpfen Eltern, die Luft im Kindergarten mache ihre Kleinen krank: Die Erzieherinnen berichten über Hustenreiz und Atembeschwerden, Kinder bekamen Pusteln.

Fälle, wie sie immer wieder vorkommen: In Köln und im Landkreis Harburg mußten Spanplatten aus den Klassenzimmern herausgerissen werden - die Schüler hielten den Gestank nicht aus. Und wo immer Hausbesitzer mit formaldehydhaltigem Material Dachböden oder Hohlräume zur Wärmedämmung ausschäumten, klagten sie alsbald über Kopfschmerzen, Tränen und Konzentrationsstörungen.

Doch Formaldehyd, eine ebenso billige wie vielfältig verwendbare Massenchemikalie, verursacht nicht nur Hautreizungen, Nasenbluten oder Allergien. In Tierversuchen, darauf hat jetzt der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hingewiesen, stellte sich die Substanz als eindeutig krebserregend heraus. Ratten, die Formaldehyd einatmen mußten, bekamen Nasentumore. Bonn müsse, forderten die Umweltschützer, »unverzüglich« handeln, schließlich sei die gefährliche Chemikalie allgegenwärtig.

Allein zwei Millionen westdeutsche Arbeitnehmer sind in Betrieben beschäftigt, die Formaldehyd herstellen oder weiterverarbeiten. Und auch die Verbraucher haben kaum eine Chance, dem »Tausendsassa« ("Zeit") der Chemie zu entgehen. Formaldehyd wird, als wässrige Lösung, zu Leimharz in Spanplatten verarbeitet, macht Baumwolle knitterfrei und Plastikknöpfe hart; er wird beim Gerben von Leder wie beim Fixieren von Filmen verwendet, ist in Haushaltsreinigern und Badezusätzen enthalten, in Schuhwichsen und Fußsprays, in Nagelhärtern und Autoshampoos - wegen der zahllosen Kontaktmöglichkeiten hält es der BUND für »unverantwortlich«, aus den Ergebnissen der Tierversuche nicht Konsequenzen zu ziehen.

Freilich streiten Experten darüber, inwieweit sich aus den Experimenten mit Ratten auch ein Krebsrisiko für den Menschen ableiten läßt. Die Frage ist, ob Formaldehyd als Substanz »mit begründetem Verdacht auf krebserzeugendes

Potential« oder als »eindeutig krebserzeugend« einzustufen ist.

Das vergleichsweise geringere Risiko veranschlagt eine Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Richtwerte für den Umgang mit gefährlichen Substanzen am Arbeitsplatz festlegt: die »Maximale Arbeitsplatzkonzentration« (MAK-Wert), die laut Definition »die Gesundheit der Beschäftigten nicht beeinträchtigt«. Der MAK-Wert für Formaldehyd beträgt derzeit 1 ppm. _(ppm = parts per million. 1 Teil ) _(Formaldehyd auf eine Million Teile Luft. )

Die MAK-Kommission sieht keinen Anlaß, den Stoff als krebserzeugend einzustufen - Voraussetzung dafür, daß die Betriebe besondere Schutzmaßnahmen ergreifen mübten, Vorsorgeuntersuchungen der Belegschaft Pflicht würden und der Stoff als Krebssubstanz zu kennzeichnen wäre.

Anderer Ansicht waren die zuständigen Bundesbehörden, das Umweltbundesamt (UBA), das Bundesgesundheitsamt (BGA) und die Bundesanstalt für Arbeitsschutz. Sie kamen im Oktober letzten Jahres »übereinstimmend« zu der Auffassung, daß »Formaldehyd mutagene Eigenschaften besitzt und als krebserzeugend zu bezeichnen ist«.

Seitdem gibt es ein Gerangel ohne Beispiel zwischen Wissenschaftlern, Ämtern und Industrie. Dabei fühlen sich beamtete Experten »so exzessiv wie nie zuvor unter Druck gesetzt«, ihre Aussagen zu überprüfen.

Von dem Votum der drei Behörden hatte alsbald das Chemie-Unternehmen BASF in Ludwigshafen erfahren, der größte deutsche Hersteller, der mit 250 000 Tonnen etwa die Hälfte der westdeutschen Jahresproduktion herstellt. Die BASF-Toxikologen erklärten, das Urteil der Ämter zeuge von »Oberflächlichkeit«.

Der Konzern machte vor allem deutlich, welch ein Wirtschaftsfaktor Formaldehyd ist. Das Gas sei allein bei der BASF in 400 verschiedenen Produkten enthalten und werde in über 30 Industriezweigen benötigt. Die BASF mache mit Formaldehyd eine Milliarde Mark Umsatz im Jahr, alle anderen Formaldehyd-Hersteller und die weiterverarbeitenden Industrien bringen es zusammen auf ein Vielfaches davon. Dies alles nicht bedacht zu haben zeige die »Leichtfertigkeit« der Behörden.

Außerdem, betont die BASF, seien noch nie durch Formaldehyd verursachte Tumore beim Menschen nachgewiesen worden - ein Argument, das die amtlichen Aufseher nicht gelten lassen wollen: »Wenn das Voraussetzung wird, brauchen wir immer erst die Leiche auf dem Tisch, ehe wir Schutzmaßnahmen ergreifen können.«

Um der »Schaffung vollendeter Tatsachen vorzubeugen«, wandte sich die BASF an den Ludwigshafener CDU-Stadtrat Julius Hetterich und der wiederum an einflußreiche Parteifreunde, etwa den Wahlkreis-Abgeordneten Helmut Kohl. »Umgehend«, drängte der Lokalpolitiker, möge sich der Kanzler »des brisanten Problems annehmen«. Kohl leitete denn auch unverzüglich das Schreiben an Gesundheitsminister Geißler weiter und trug dem »lieben Heiner« auf: »Prüfe diese Angelegenheit bald.«

Geißlers Antwort fiel beschwichtigend aus. Anders als etwa der BUND sah der Minister keinen Grund zur Eile. Vielmehr, schrieb er an Kohl, solle ein neues Gremium die Entscheidung der Bundesämter überprüfen. Selbst wenn deren Urteil dabei bestätigt wird, passiert nichts: Dann will Geißler den Befund erst noch mit den EG-Partnern abstimmen, was sicher Jahre dauert. Zugleich

wurden die Ämter von Bonn auf Kurs gebracht. Fertige Formaldehyd-Berichte von UBA und BGA werden nicht veröffentlicht. Vielmehr sollen, laut Gesundheitsministerium, beide gemeinsam einen neuen »abgestimmten« Bericht vorlegen.

Das BGA hat seine Haltung schon modifiziert. »Aus der Sicht des Gesundheitsschutzes« hält es das Amt nunmehr für »nicht zwingend erforderlich«, den Stoff als krebserzeugend einzustufen. Allenfalls sei der MAK-Wert zu überprüfen. Die BUND-Chemiker verlangen eine hundertmal kleinere Richtgröße: Nur »eine Konzentration von 0,01 ppm« könne »ein Krebsrisiko durch Formaldehyd im wesentlichen vermeiden«.

Weitere Maßnahmen haben BGA und UBA in internen Berichten bereits vorgegeben. So fordern sie *___in geschlossenen Räumen den Höchstwert auf 0,1 ppm zu ____begrenzen, *___Arzneien und Haushaltsmittel, die mehr als 0,05 Prozent ____Formaldehyd enthalten, zu kennzeichnen oder ____Formaldehyd-Zusätze überhaupt zu verbieten, *___das Reizgas generell soweit wie möglich durch andere ____Stoffe zu ersetzen.

Der Streit um Einstufung und Grenzwerte belegt die Unzulänglichkeit des Chemikaliengesetzes, das kaum eine Handhabe gegen Substanzen bietet, die, obschon lange auf dem Markt, sich erst später als gefährlich erweisen.

Wäre Formaldehyd ein neuer, gerade erfundener Stoff, hätte er keine Chance, zugelassen zu werden. »Damit«, räumt selbst ein Industrietoxikologe ein, »würden wir nie in die Produktion gehen.«

ppm = parts per million. 1 Teil Formaldehyd auf eine Million TeileLuft.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 25 / 74
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten