Erst vereint, nun entzweit
Im Jahre 2004 wird sich die Hoffnung der Ostdeutschen erfüllen, so zu leben wie die Westdeutschen. Jedenfalls glauben sie es.
Die Jahreszahl ermittelte das Bielefelder Emnid-Institut, als es 1000 repräsentativ ausgewählte Ostdeutsche um eine Prognose bat und aus den breit gestreuten Antworten einen Durchschnitt errechnete.
Von Jahr zu Jahr sind die einstigen DDR-Untertanen und nunmehrigen Bundesbürger pessimistischer geworden. Im Herbst 1990 meinten sie noch, binnen sieben Jahren westlichen Wohlstand zu erreichen. Mitte 1991 rechneten sie bereits mit acht, nun an der Jahreswende 1992/93 sogar mit zwölf Jahren.
Und noch immer sind sie optimistischer als Politiker und Ökonomen, die das Ziel in so weiter Ferne sehen, daß sie sich nur vage äußern.
Vielen Ostdeutschen wird die Zeit zu lang. Jeder zehnte zwischen 18 und 30 Jahren wird in nächster Zeit »wahrscheinlich« in den Westen übersiedeln. Das sind 280 000 Menschen, so viele wie Bonn Einwohner hat.
Weitere 70 000 zwischen 30 und 45 Jahren sowie einige tausend Ältere haben gleiche Pläne. Wenn diese Ostdeutschen bei ihrer Absicht bleiben, folgen sie jener Million, die von Mitte 1990 bis Ende 1992 aus dem Osten in den Westen gegangen ist.
Im Schnitt waren es tausend pro Tag, halb so viele wie Mitte 1961, bevor Honecker die Mauer baute, und wie Anfang 1990, bevor Kohl die Währungsunion ankündigte.
Nun aber gibt es wiederum eine Abwanderung so vieler Arbeitskräfte, daß die Entwicklung im Osten auf mittlere Sicht gefährdet wird. Zu den Übersiedlern kommen noch 350 000 Pendler hinzu, die im Westen arbeiten, im Osten nur noch wohnen.
Niemand kann eine Prognose wagen, ob der Strom weiter abebbt (wie im vorigen Jahr), weil der Konjunktureinbruch im Westen von einem Wechsel abschreckt, oder wieder anschwillt, weil die Talfahrt im Osten weitere Zigtausende aus der Bahn schleudert.
Wer aus den neuen in die alten Bundesländer geht, wechselt noch immer aus einer ziemlich kaputten in eine ziemlich intakte Welt. Und grundverschieden sind in den beiden Teilen Deutschlands auch die Meinungen, die Stimmungen und - nach weitverbreiteter Ansicht - die Menschen.
Zum drittenmal hat Emnid jetzt erforscht, was die Deutschen vereint und was sie trennt.
Die erste Umfrage lief vor zwei Jahren und war gleichsam die Eröffnungsbilanz der gesamtdeutschen Bundesrepublik, die es seit dem 3. Oktober 1990 gibt, mit 16 Millionen neuen Bundesbürgern zusätzlich zu ihren 64 Millionen alten.
Verflogen war damals zwar schon längst die schwarzrotgoldene Begeisterung, die im November 1989 nach der Öffnung der Mauer über die Deutschen gekommen war, als Sekt und Tränen flossen und Trabi-Kolonnen nach West-Berlin und in den Westen rollten und dort umjubelt wurden.
Aber die erste Umfrage offenbarte, daß die vereinten Deutschen auch im Alltag gut zusammenpaßten. Sie stimmten in erstaunlich vielen Punkten überein, obwohl sie jahrzehntelang voneinander getrennt waren.
Die zweite Umfrage Mitte 1991 zeigte, daß mittlerweile die Meinungen auseinandergedriftet waren und sich Kontraste zwischen Ost- und Westdeutschen entwickelt hatten. Es war die Zeit der Ernüchterung nach der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990. Kanzler Kohl hatte sie gewonnen, weil er im Osten »blühende Landschaften« binnen vier bis fünf Jahren angekündigt und im Westen die Kosten der Einheit heruntergeredet hatte.
Die neue, dritte Umfrage macht deutlich, daß sich die Gegensätze verstärkt und in jüngster Zeit sogar gefährlich zugespitzt haben. Die Interviewer befragten vom 2. November bis 18. Dezember 3000 erwachsene Männer und Frauen. Einige aktuelle Fragen wurden zusätzlich in diesem Monat gestellt, die letzten - zu den Perspektiven im Blick auf Bonn - in der vergangenen Woche*.
Emnid ließ nicht nur Fragen beantworten, sondern bat darüber hinaus, »spontan ein bis zwei Sätze zu schreiben": Die Westdeutschen sollten den Ostdeutschen »einen Rat geben« und umgekehrt (Zitate Seiten 58 und 59).
Die »allgemeine wirtschaftliche Lage« in Ost und West unterscheidet sich noch immer wie Tag und Nacht. Im Westen wird sie nur von wenigen, im Osten von den meisten als schlecht bezeichnet.
Bei etwa gleichen Preisen müssen sich im Osten fast dreimal so viele Haushalte mit einem Nettoeinkommen von weniger als 1500 Mark begnügen wie im Westen. Einkünfte von mehr als 5000 Mark gaben im Westen 20, im Osten 2 Prozent der Befragten an.
Die Mieten im Osten scheinen den dortigen Deutschen hoch, weil sie im Schnitt binnen drei Jahren aufs Sechsfache gestiegen sind, den Westdeutschen niedrig, weil ihre eigenen noch immer um die Hälfte höher sind.
Gewichtiger als diese Unterschiede ist ein anderer: Die Arbeitslosigkeit ist im Osten weit stärker und bedrückender als im Westen.
Zwischen 40 und 50 Prozent liegt die Zahl derer, die ihren Arbeitsplatz verloren oder aufgegeben haben. Zu den amtlich registrierten Arbeitslosen kommen Kurzarbeiter, Umschüler, Vorruheständler, _(* Die Tabellen mit den Ergebnissen ) _(werden Interessenten auf Wunsch ) _(kostenlos zugeschickt: ) _(SPIEGEL-Dokumentation, Postfach 11 04 ) _(20, 2000 Hamburg 11. ) ABM-Beschäftigte, Übersiedler und Pendler.
Für die meisten Ostdeutschen, die keine Arbeit haben, wird es keine Rückkehr in die Berufswelt geben. Lediglich 12 Prozent sind »sicher«, daß sie wieder einen Platz finden werden, 57 Prozent sind »unsicher«, 28 Prozent sehen »kaum eine Chance«.
Und das Heer der Hoffnungslosen wird sich weiter vergrößern. Nur 8 Prozent der Westdeutschen, aber 33 Prozent der Ostdeutschen, die noch in Lohn und Brot stehen, befürchten, ihren Arbeitsplatz ebenfalls zu verlieren.
In dieser Welt des Umbruchs und der Ungewißheit, in der noch immer mehr untergeht als neu entsteht, hat sich unter den Ostdeutschen eine depressive Stimmung verbreitet, wie sie Deutschlands Demoskopen noch nie und nirgends festgestellt haben, nicht mal im Ruhrgebiet, als dort die Zechen starben.
Mehr als ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung in der Ex-DDR hat das Gefühl, »in dieser Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden": 36 Prozent, das sind viereinhalb Millionen Menschen. Die Stimmung, überflüssig zu sein, ist bei den Jüngeren unter 30 ebenso stark entwickelt wie bei den Älteren zwischen 50 und 60.
Andere Emnid-Daten bestätigen diesen Befund. Von Jahr zu Jahr ist nach der Wende der Anteil derer gestiegen, die »Angst vor der Zukunft« haben, von 33 Prozent im Herbst 1990 auf 37 Prozent Mitte 1991 und nun auf 45 Prozent.
Die Freude über die Vereinigung ist in Ost und West weithin der Sorge über deren Folgen gewichen. Und auch darüber, daß die Entwicklung »schlechter als erwartet« verlaufen sei, sind sich Mehrheiten in beiden Teilen der Bundesrepublik einig.
Auf 69 Prozent im Westen und 79 Prozent im Osten ist die Zahl derer gestiegen, die dem Statement zustimmen: »Erst nach der Vereinigung ist deutlich geworden, wie verschieden Ost- und Westdeutsche eigentlich sind.«
Aber man würde die Entwicklung verharmlosen, wollte man in ihr nur Enttäuschung und Entfremdung sehen.
Seit die Deutschen vereint sind, haben sie sich derart auseinandergelebt, daß es eine neue Spaltung und eine neue Mauer gibt, diesmal in den Köpfen.
Bevor sich Emnid entschloß, nach einer »Mauer in den Köpfen« zu fragen, sondierte das Institut bei Test-Interviews, wie die Befragten auf dieses Reizwort reagierten. Hätten es viele für übertrieben gehalten und die Frage kritisiert, statt sie zu beantworten, so hätte man auf sie verzichten müssen.
Doch das Wort traf die Stimmung. Überraschend waren nicht nur die großen Mehrheiten, die diese Frage bejahten (64 Prozent im Westen, 74 Prozent im Osten). Vor allem Ostdeutsche nutzten die Chance, ihre Meinung so deutlich zu bekunden, wie es ihnen anhand einer Skala mit sechs Werten möglich war. Am häufigsten wählten sie den äußersten: »Stimme voll und ganz zu«.
Die Mauer in den Köpfen grenzt ab von den jeweils anderen Deutschen und soll helfen, deren Ansprüche abzuwehren, im Westen auf andere Weise als im Osten.
»Viele im Westen möchten am liebsten so leben, als hätte es gar keine Wiedervereinigung gegeben.« Eine Zweidrittelmehrheit der Westdeutschen ist davon überzeugt, daß es so ist.
Ebenfalls einer Zweidrittelmehrheit, die mit der ersten ziemlich identisch ist, sind die »neuen Bundesländer« so fern und fremd geblieben oder mittlerweile wieder geworden, wie es einst die »DDR« war:
Weder waren diese Westdeutschen nach der Wende länger als ein paar Tage dort, noch wollen sie dorthin fahren, von Stippvisiten vielleicht abgesehen. Der Grund, den sie am häufigsten nannten: »Kein Interesse«.
Und noch bei einer weiteren Frage gab es im Westen eine Zweidrittelmehrheit: So viele haben im Osten allenfalls »flüchtige Bekannte« oder kennen dort »kaum jemanden«. Und auch diese Mehrheit ist mit den beiden früheren nahezu identisch.
Aber auch mancher, der die von vielen Sonntagsreden bekannten Brüder und Schwestern in der Ex-DDR hat, trauert den Zeiten nach, als die Kontakte noch übers Post- und nicht übers Finanzamt liefen.
Das Päckchen nach drüben war billiger als der Solidaritätszuschlag und die höhere Benzinsteuer. Und es ist, mit der Mauer im Kopf, auch angenehmer, sich an die Aufregung um den Kredit von einer Milliarde zu erinnern, den Franz Josef Strauß der DDR im Jahre 1983 verschaffte, als jetzt auszurechnen, daß im Schnitt jede Woche zwei Milliarden über die Elbe gehen.
Die allermeisten Ostdeutschen wünschen sich die DDR nicht zurück, den Staat mit Mauer und Mangel, SED und Stasi. Von einer DDR ohne all dies träumen allerdings viele. 49 Prozent der Befragten meinen, eine demokratische DDR hätte nicht nur wenige Monate, sondern über den 3. Oktober 1990 hinaus bestehen sollen. Aber den Wunsch hatten sie seinerzeit nicht.
Heute müssen sie erleben, daß es ein »einig Vaterland« nicht gibt, nach dem sie damals auf den Straßen gerufen haben.
Der Westen breitet sich bis Rügen und Görlitz anders aus, als sie es sich vorgestellt hatten. Und unerwartet trifft sie die Abwehr der Westdeutschen, denen die neuen Mit-Bürger nicht teuer, sondern zu teuer sind.
Da überkommt die meisten das Gefühl, doch nicht dazuzugehören. Und sie schaffen sich ihre Art von Mauer in den Köpfen: eine Identität aus Trotz, wie es der Berliner Jens Reich nennt, der einst mit Bärbel Bohley das Neue Forum gründete.
Auf die Frage, als was sie sich fühlen, antworteten die meisten: »Als Ostdeutscher«. Weit weniger sagten: »Als Deutscher« (54 gegenüber 45 Prozent).
Und mit einer so großen Mehrheit wie bei keinem anderen Thema der Umfrage (93 Prozent) stimmen sie darin überein, daß über ihre Probleme »nur mitreden kann, wer selbst hier gelebt hat«.
Anders als früher denken sie über die Beamten aus dem Westen, die im Osten arbeiten. Noch Mitte 1991 herrschte die Stimmung vor, es gebe davon »zu wenige«, nun wird am häufigsten gesagt, es seien »zu viele«.
Die neue Spaltung tritt ausgerechnet zu Beginn des schwierigen Jahres 1993 zutage, in dem es mehr noch als früher vereinter Anstrengungen, zumindest aber wechselseitigen Verständnisses bedarf, um die deutsch-deutschen Probleme zu bewältigen.
1993 wird ein Jahr der Kämpfe um die Verteilung der Lasten sein, und da stehen sich neben anderen Gruppen auch Westdeutsche und Ostdeutsche gegenüber. Knallhart haben sie ihre eigenen Interessen im Blick, und nicht etwa irgendein gemeinsames Wohl.
Als anhand einer Liste mit 15 Aufgaben Prioritäten gesetzt werden sollten, erklärte es eine Mehrheit im Osten, aber nur eine Minderheit im Westen für »besonders wichtig«, die »Wirtschaft in Ostdeutschland in Schwung zu bringen«. Dieses Ziel steht im Osten gleich nach dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit auf Platz 2 der Dringlichkeitsliste, im Westen auf Platz 13.
Deine Probleme sind nicht meine Probleme - so lebt jeder in seiner Welt. Die Mauer im Kopf schützt vor dem Mitdenken mit dem anderen. Bei fast jedem deutsch-deutschen Thema steht Mehrheit gegen Mehrheit (siehe Grafiken auf dieser und auf der nächsten Seite).
Auch an manchen Politikern scheiden sich die deutschen Geister. Die Potsdamer Ministerin Regine Hildebrandt ist im Osten populärer als alle anderen deutschen Politiker, ausgenommen nur Engholm, im Westen aber ist sie so unpopulär wie nur wenige andere.
Einheitsfronten bilden sich dann, wenn es gemeinsame Besitzstände zu verteidigen gilt. Der Pfingstmontag zum Beispiel, den Blüm als Feiertag streichen will, ist den größtenteils Gottlosen im Osten genauso heilig wie den Westdeutschen, die zumindest nach ihren Steuerkarten überwiegend rk oder ev sind.
Übereinstimmung gibt es auch in einer existentielleren Frage: wie der Abtreibungsparagraph 218 geregelt werden soll.
Schon bevor im Juni vorigen Jahres der Bundestag eine Fristenregelung mit Beratungspflicht beschloß, waren klare Mehrheiten in West und Ost gegen die damalige bundesdeutsche Indikationenregelung. Nun bejahen noch größere Mehrheiten die Neufassung des Paragraphen 218 (75 Prozent im Westen, 84 Prozent im Osten).
Wenn das Bundesverfassungsgericht demnächst die Neuregelung für verfassungswidrig erklären sollte, würde es den ostdeutschen Frauen ein Stück Freiheit und Selbstbestimmung nehmen, das sie sogar im Zwangsstaat DDR besaßen: Dort war es von 1972 an jeder Frau freigestellt, eine Schwangerschaft in den ersten drei Monaten abzubrechen. Im letzten DDR-Jahr 1989 gab es 74 000 Abbrüche und 198 000 Geburten.
Einig sind sich die meisten Ost- und Westdeutschen auch bei einem strittigen Thema, das von Bonn bislang nicht bewältigt wurde. Sie sind dafür, beim Streit um Grundeigentum im Osten das Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« umzukehren, das den Aufbau in den Städten und vor allem in deren Zentren behindert.
Sonst aber ist die gesamtdeutsche Übereinstimmung auf allgemeine Fragen beschränkt.
West- und Ostdeutsche behaupten gleichermaßen, sie wollten das Leben nicht genießen, sondern sähen es »als Aufgabe« an. Von Computern halten sie viel, von Kernkraft wenig. Hätten sie die Wahl, wäre ihnen ein höheres Einkommen lieber als mehr Freizeit. Nur Westdeutsche mit Abitur würden mehr Freizeit vorziehen.
Dem real existierenden Sozialismus trauern lediglich 13 Prozent der Ostdeutschen nach; so wenige meinen rückblickend, die DDR habe »überwiegend gute Seiten« gehabt.
»Überwiegend schlechte Seiten« sehen allerdings noch weniger Ostdeutsche (7 Prozent). Weitaus die meisten sagen der DDR »gute und schlechte Seiten« nach, ohne zu gewichten, ob mehr gut oder mehr schlecht war.
Sie blicken im Zorn zurück auf den Staat und seinen politischen Zwang, aber nicht ohne Stolz auf ihr eigenes Leben, das sie so staats- und parteifern wie möglich führten und aus dem sie das Beste zu machen suchten.
Aber der Staat übte nicht nur Zwang aus, auf kommunistische Art gab er sich auch väterlich. Er verlangte vom Verbraucher nur fünf Pfennige für ein Brötchen und acht Pfennige für eine Kilowattstunde Strom und zahlte selbst das Doppelte drauf.
Das war absurd. Schweine fraßen das billige Brot, und die DDR-Bürger vergeudeten Strom und verbrauchten mehr als die Bundesbürger. Mit Preisen von 7000 Mark für einen Farbfernseher und 13 000 Mark für einen Trabi holte der Staat einen Teil seiner Zuschüsse wieder herein.
Die Subventionen fürs tägliche Brot und andere Arten von »Grundbedarf« machten ein Fünftel des Staatshaushalts aus. Sie waren Teil der Mißwirtschaft, mit der sich die DDR selbst zugrunde richtete. Aber unter den Ostdeutschen ist die nostalgische Neigung gewachsen, das billige Leben zu den »guten Seiten« zu zählen.
Und auch in anderer Hinsicht sind sie von ihrem Leben in der DDR stärker geprägt, als sie es wahrhaben wollen.
Die meisten Westdeutschen bejahen ein System, »in dem der einzelne die Chance hat, es weiterzubringen als die meisten, aber auch das Risiko hat, hinter den meisten zurückzubleiben«. Die meisten Ostdeutschen hingegen sind für ein System, »in dem kaum jemand hoch hinauskommt oder ganz unten landet, sich das Leben also in Sicherheit und geregelten Bahnen abspielt«.
Und grundverschieden sind auch die Ansichten darüber, »wieviel Einfluß der Staat auf das Wirtschaftsleben nehmen soll«. 56 Prozent der Westdeutschen sind für wenig, 79 Prozent der Ostdeutschen für viel Einfluß.
Weil die Ostdeutschen vom Staat mehr erwarten als die Westdeutschen, ist ihre Enttäuschung über den Bonner Berg unbewältigter Probleme und über die Politik insgesamt um so größer.
An der Jahreswende 1992/93 sind Mehrheiten in Ost und West davon überzeugt, daß *___"Politiker sich nicht darum kümmern, was einfache Leute ____denken« (81 Prozent im Osten, 73 Prozent im Westen), *___"Leute wie ich keinen Einfluß darauf haben, was die ____Regierung tut« (82 und 66 Prozent).
Die SPIEGEL-Umfrage zeigt mit weiteren Daten: Es genügt nicht mehr, wie üblich von einer allgemeinen Verdrossenheit zu sprechen. Eine Vertrauenskrise hat sich entwickelt. Zu viele Bürger sind auf Distanz gegangen zum Staat, zu den Parteien und deren Politikern.
Eine Dreiviertelmehrheit der Deutschen (74 Prozent) ist davon überzeugt, »daß die Verhältnisse in Deutschland Anlaß zur Beunruhigung geben«. Das ermittelte das Emnid-Institut, als es vom 6. bis 11. Januar einige zusätzliche Fragen stellte.
Vor der Wende, im Juni 1989, hatte sich nur ein Drittel der Bundesbürger für beunruhigt erklärt. Und auch vor einem Jahr waren es noch nicht so viele (55 Prozent im Januar 1992).
»Mit der Politik von Bundeskanzler Kohl im großen und ganzen einverstanden« ist in diesem Monat nicht mal mehr ein Drittel der Deutschen (31 Prozent). Das sind weit weniger Bundesbürger, als die CDU/CSU wählen würden.
»Nicht einverstanden« sind 55 Prozent. So viele Gegner der Kohl-Politik hat Emnid noch nie festgestellt, seit es - vom Februar 1983 an - diese Frage Woche für Woche stellt.
Früher - lang ist''s her - führte sinkende Zufriedenheit mit der Regierung zu wachsender Hoffnung auf die Opposition. Aber das ist vorbei. Die meisten Deutschen sehen in der SPD keine attraktive Alternative mehr.
Daß »die SPD-Opposition es besser machen« würde, meinen lediglich 16 Prozent der Deutschen - nicht mal halb so viele, wie die SPD wählen würden. So wenige waren es bei keiner Umfrage seit dem Machtwechsel im Herbst 1982. Mithin verlieren Regierung und Opposition zur selben Zeit an Boden.
Als Emnid nach dem Vertrauen zu den Parteien fragte, offenbarten die Antworten einen Tiefpunkt, wie es ihn bislang noch nicht gegeben hat. Das gilt für den Westen, mehr noch für den Osten. Dort wechselte die Mehrheit ihre Meinung. Mitte 1991 setzten die meisten noch »geringes Vertrauen« in die Parteien, nun haben sie »kein Vertrauen« mehr (siehe Grafik).
Auf 9 Prozent ist die Zahl der Deutschen gesunken, die »überzeugte Anhänger« einer Partei sind. Ganz früher, im Juni 1986, waren es mal 36 Prozent, aber sogar im Juni 1991 noch 17 und im Mai 1992 noch 12 Prozent.
Für die meisten Deutschen macht es keinen Unterschied, ob sie bei »ihrer« Partei bleiben oder zu einer anderen wechseln, weil sie von der einen beinahe so wenig halten wie von den anderen. Und viele wandern ins politische Niemandsland der Nichtwähler ab.
[Grafiktext]
__52_ SPIEGEL-Umfrage:
_____ / Was überwiegt, wenn Sie an die Wiedervereinigung denken?
_____ SPIEGEL-Umfrage: Die Mauer ist weg, aber d. Mauer in den Köpfen
_____ wächst / 2000 Westdeutsche und 1000 Ostdeutsche äußerten sich
__53_ SPIEGEL-Umfrage: / Warum sind so viele DDR-Betriebe am Ende?
_____ SPIEGEL-Umfrage: Monatliches Netto- Haushaltseinkommen West/Ost
__56_ SPIEGEL-Umfrage:
_____ / Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung am Wohnort für
_____ Jugendliche
_____ SPIEGEL-Umfrage: Benutzen der Begriffe »Wessi« und »Ossi«
_____ SPIEGEL-Umfrage: Reisen in den Westen bzw. in den Osten im
Urlaub
_____ / Seit der Wende Herbst 1989
_____ SPIEGEL-Umfrage: Schlußstrich ziehen unter 40 Jahre DDR?
__58_ SPIEGEL-Umfrage:
_____ / Ist die Last der Westdeutschen geringer, als sie meinen?
__59_ SPIEGEL-Umfrage:
_____ / Leben die Ostdeutschen besser, als sie glauben?
__62_ SPIEGEL-Umfrage:
_____ / Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Lage in Ost und West
_____ SPIEGEL-Umfrage:
_____ / Beurteilung der heutigen wirtschaftlichen Lage in Ost und
West
_____ SPIEGEL-Umfrage: / Einstellung zu den Parteien in Ost u. West
[GrafiktextEnde]
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