RHEIN-ARMEE Erster Schritt
Staatssekretär Carstens vom Bonner Außenamt schlug Alarm. Er informierte seinen wahlkämpfenden Minister Schröder und beorderte den Bonner Abrüstungs-Botschafter Schnippenkötter von Genf zurück in die Bundeshauptstadt. Außerdem wies er den deutschen Nato-Botschafter Professor Grewe an, beim Rat der Pakt-Mächte zu intervenieren. Und am letzten Donnerstag bat er den britischen Botschafter zu einer Aussprache.
Grund für den diplomatischen Wirbel: eine Mitteilung des englischen Verteidigungsministers an die Nato, daß Großbritannien seine beiden gegenwärtig in der Bundesrepublik stationierten »Corporal«-Raketen-Regimenter auf mittlere Feldartillerie umrüsten wird.
Bereits im nächsten Monat soll das bei Dortmund liegende 47. Königliche Artillerie-Regiment nach England zurückgeführt und mit 15,5-Zentimeter-Geschützen ausgerüstet werden. Ihre beiden Raketenwerfer überlassen die 47er dem gleichfalls bei Dortmund beheimateten 27. Artillerie-Regiment.
Aber auch den Kanonieren dieses Verbandes hat das Ende der Raketen-Zeit bereits geschlagen. In etwa 18 Monaten werden sie ebenfalls konventionelle Geschütze bekommen. Dann, wird die »Corporal«-Rakete von den Engländern außer Dienst gestellt und verschrottet. Sie ist veraltet.
Die einstufige Flüssigkeits-Rakete für Bodenziege wurde bereits Anfang der fünfziger Jahre von den Amerikanern entwickelt und ist seit 1956 bei der Truppe. Das knapp 14 Meter lange Projektil hat eine Reichweite von 120 Kilometer und kann Sprengköpfe bis zu 40 KT ins Ziel tragen - das Doppelte der Hiroshima-Bombe.
Der Abschuß bedarf aber umständlicher Vorbereitungen. Der flüssige und sehr leicht entzündbare Treibstoff muß mit Tankwagen in die Feuerstellung gefahren und dort in die Rakete gepumpt werden - im atomaren Gefecht eine Unmöglichkeit.
Von den Amerikanern wird die »Corporal« schon seit einigen Jahren durch die Feststoff-Rakete »Sergeant« (10,50 Meter lang, Reichweite 150 Kilometer) ersetzt. Auch die Bundeswehr besitzt bereits drei »Sergeant-Bataillone«; ein viertes wird zur Zeit in Schleswig-Holstein aufgestellt. Diese deutschen Raketen sollen in Zukunft die Ziele mit abdecken, die jetzt noch im atomaren Feuerplan für die britischen »Corporal« -Raketen vorgesehen sind.
Im Bundeskabinett, am Mittwoch letzter Woche, meldete Verteidigungsstaatssekretär Gumbel schwere Bedenken gegen das britische Vorhaben an: Die Engländer gefährdeten durch den atomaren Rückzug das ausgewogene Verhältnis zwischen konventionellen und atomaren Mitteln im Schwerpunkt der nordatlantischen Abwehrfront - in der Norddeutschen Tiefebene, die von der Rhein-Armee verteidigt werden soll.
Wie immer, wenn die mit Bonn verbündeten Angelsachsen Veränderungen auf militärischem Gebiet vornehmen, unterstellt die Bundesregierung unlautere Motive. So auch diesmal. Bonn ist überzeugt, daß die Engländer nicht, wie von London behauptet, aus rüstungswirtschaftlichen Gründen, sondern um politischer Ziele willen die Raketen-Regimenter umrüsten wollen.
Im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium glaubt man, es handele sich um den ersten Schritt zu einer atomaren Verdünnung des Nato-Vorfeldes Bundesrepublik. Dies wird von der in London regierenden Labour -Party schon seit Jahren propagiert.
In der Tat entspräche ein Herauslösen der atomaren Gefechtsfeldwaffen aus den Frontverbänden den Auffassungen des britischen Verteidigungsministers Denis Healey. Er hält einen begrenzten Atomkrieg in Europa für unmöglich. Nach Healeys Meinung kann ein Krieg um Europa entweder nur konventionell oder mit strategischen Atomwaffen geführt werden.
Als Indiz für solche Pläne des »perfiden Albions« wurde auf der Sitzung des Bundeskabinetts gewertet, daß die Briten weder während des Bonn-Besuchs von Premierminister Wilson und Healey im Frühjahr
noch während der Verhandlungen über eine Kredithilfe für die Stationierungskosten der Rhein-Armee im Juni (SPIEGEL 28/1965) von einem Abzug der Atomraketen gesprochen hätten. In
Wirklichkeit beabsichtigt allerdings auch Healey nicht, seine in der Bundesrepublik stationierten Truppen völlig ohne atomaren Feuerschutz zu lassen, solange die Rote Armee mit taktischen Atomwaffen ausgerüstet ist und solange die gültige Nato-Strategie solche Waffen erforderlich macht. Wie die Bundeswehr, verfügt auch die Rhein-Armee weiterhin über Geschütze, die Atomgranaten verschießen können, deren Reichweite und Sprengkraft allerdings wesentlich geringer ist als die der »Corporal«.
Die finanz- und devisenschwachen Engländer können es sich nur nicht leisten, in dem Raketenrennen mitzuhalten. Deshalb sind die Informationen aus London glaubwürdig, daß in einigen Jahren auch die drei mit »Honest John« -Raketen (8,3 Meter lang, 40 Kilometer Reichweite) ausgerüsteten Bataillone der Rhein-Armee ihre dann veralteten 16 Raketenwerfer ersatzlos verlieren.
»Corporal«-Rakete am Rhein Mit Tankwagen ins Gefecht