RICHTER Erstklassige Beerdigung
Als der Kieler Jurist Wolff-Eberhard Bill, Jahrgang 1941, alt genug war für die Bundeswehr und in die Uniform steigen wollte, zog er ein Freilos.
Was anderen als die Gunst des Zufalls erschienen wäre, empfand der wehrwillige Bill als persönliche Herausforderung. »Ich war bereit«, sagt der Amtsrichter heute, »in irgendeiner anderen Weise staatsbürgerliche Pflichten zu erfüllen.« Und die Gelegenheit bot sich: Richter Bill wurde aufgenommen im Kreise jener Juristen und Beamten, die als Kriegsrichter Planspiele für den nächsten Weltkrieg abhalten.
Inzwischen allerdings liegt Staatsbürger Bill mit der Obrigkeit über Kreuz: »Der Bundesjustizminister läßt mich im Regen stehen und tut nichts für uns Wehrstrafrichter. Ich werde möglicherweise meine Konsequenzen ziehen und für die Militärgerichtsbarkeit nicht länger zur Verfügung stehen.«
Amtsrichter Bill hat schlechte Erfahrungen beim Kriegsspiel gemacht. Als erster Richter in der Bundesrepublik war er in einem Kieler Rechtsfall, bei dem es um die Demonstration gegen ein Bundeswehrmanöver ging, vom Angeklagten mit der Begründung als befangen abgelehnt worden, er nehme heimlich und, weil ohne gesetzliche Grundlage, auch rechtswidrig an Militärrichterübungen teil (SPIEGEL 25/1984).
Das Ablehnungsgesuch war gespickt mit bösen Sottisen - Grund genug für Richter Bill, gegen seine Verfasser, die Kieler Rechtsanwälte Jochen Liebe und Holger Otten, seinerseits per Strafanzeige wegen Beleidigung und übler Nachrede vorzugehen. Gegen sich selber hat er ein Disziplinarverfahren beantragt, »damit festgestellt wird, ob ich meinen Diensteid als Richter verletzt habe«.
Schützenhilfe erhält Bill von seinem obersten Dienstherrn, dem Justizminister in Kiel. Der will, so sagt ein Ministerialer, »sich von Bonn nicht sein gutes Dutzend Richter und Staatsanwälte kaputtmachen lassen«, die bislang an den heimlichen Kriegsspielen teilnahmen. Notfalls soll ihnen die Erlaubnis zu dieser militärischen Nebentätigkeit entzogen werden, »dann ist Schluß mit dem Spektakel und auch mit den durchsichtigen politischen Angriffen der Linken gegen die Wehrstrafgerichtsbarkeit«.
Tatsächlich wird der heimliche Umgang deutscher Juristen mit Waffe und Recht ein baldiges Ende finden. Das ist nicht liberalem Rechtsstaatsempfinden der christlich-konservativen Kieler Justizverwaltung zu danken. Vielmehr haben der Fall des Amtsrichters Bill und ein einschlägiges Buch des Hildesheimer Richters Ulrich Vultejus ("Kampfanzug unter der Robe") inzwischen so viel Publizität geschaffen und Kritik ausgelöst, daß die langjährige und juristisch fragwürdige Bonner Prozedur nicht mehr länger im verborgenen betrieben werden kann. Andererseits gibt es in Bonn auch keine Neigung, den rechtsstaatlichen Geburtsfehler nachträglich auszubügeln. Regierungsrat Jörg Reinbothe, Sprecher von Bundesjustizminister Engelhard (FDP), rechnet mit einer »erstklassigen Beerdigung« der gesamten Materie.
Die heimlich betriebenen Kriegsspiele sind mit dem Verfassungsgebot der Rechtsstaatlichkeit kaum zu vereinbaren. Zwar kann der Bund, gemäß Artikel 96, »Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte« als Bundesgerichte etablieren, die dann »im Verteidigungsfalle« tätig werden. Doch schreibt das Grundgesetz zwingend vor, »das Nähere« sei durch ein Bundesgesetz zu regeln - und eben dieses Gesetzgebungsverfahren ist umgangen worden. Nur organisatorisch und haushaltsrechtlich waren die Kriegsrichter-Vorschriften abgesegnet. Die Textentwürfe wurden nie publik, die Vorschriften sollten ganz bewußt nicht einmal den Status eines Referentenentwurfs erlangen, denn dann hätte der jeweilige Bundesjustizminister sie billigen müssen. Gerade das aber wollte keiner, oder traute sich nicht - bis heute.
Was immer dann in der Praxis exekutiert wurde, geschah im Zwielicht der fehlenden gesetzlichen Absicherung. Organisatorische Vorkehrungen für die Einrichtung von 31 Wehrgerichten und acht Oberwehrgerichten wurden getroffen, 232 Richter und Staatsanwälte - sämtlich Freiwillige - benannt, dazu noch 294 Beamte des mittleren und 230 des gehobenen Dienstes.
Zwischen 1967 und 1982 wurden Informationstagungen veranstaltet, zehn bis zwölf pro Jahr - »in reizvollen Hotels«, mit Vorträgen über Kriegsvölkerrecht und Waffenpraxis. Gelegentlich durften die künftigen Kriegsrichter auch Nato-Stützpunkte auf Kreta und Sardinien besuchen. Die Juristen konnten das Pistolenschießen üben und auch mal mit dem Sturmgewehr fuchteln, denn nach Ansicht der Erfinder dieses Gerichtsmodells sollten sie Kombattanten-Status haben.
Seit 1979 finden keine Übungen mehr statt, und 1983 wurden auch die Info-Tagungen und Kontaktbesuche bei der Truppe eingestellt. Unter den Sozialliberalen wuchs das Unbehagen, die Kriegsspielgelder wurden gekürzt. Standen 1978 noch 345 000 Mark dafür zur Verfügung, waren es 1982 nur noch 181 000 Mark. Im vergangenen Jahr gab es lediglich 50 000, und für 1984 hat der Haushaltsausschuß sämtliche Mittel gesperrt - nicht aus Mangel an Geld, wie Insider wissen, sondern »aus Mangel an Courage«.
Im Juni brachte der FDP-Politiker Burkhard Hirsch im Bundestag eine kleine Anfrage zum Thema ein. Letzte Woche erteilte die Regierung Antwort - intern bewertet als »die Ankündigung des nahen Todes«. Schon unter der früheren Bundesregierung seien »die Vorarbeiten nicht mehr fortgeführt worden«. Das Konzept bedürfe der Überprüfung im Verteidigungs- und Justizministerium, dann werde entschieden, ob die Bemühungen um die Wehrstrafgerichtsbarkeit überhaupt noch fortgesetzt werden sollen. Unterhalb der Ministerebene sind sich die Experten in beiden Ministerien einig: »Die Sache ist mausetot. Nur den Beerdigungstermin will man noch nicht verkünden.«