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NATO »Es geht um Glaubwürdigkeit«

Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer über die künftige Rolle des Bündnisses in den Krisengebieten Irak, Afghanistan und Kosovo
Von Dirk Koch und Alexander Szandar
aus DER SPIEGEL 25/2004

Der 56-jährige ehemalige Vorsitzende der Christdemokraten ist der dritte Niederländer an der Spitze des Verteidigungspakts. Als Außenminister unterstützte er den US-Kurs gegen den Irak, wollte aber die Rolle der Uno gestärkt wissen. -------------------------------------------------------------------

SPIEGEL: Herr Generalsekretär, Hand aufs Herz, würden Sie das Gipfeltreffen der 26 Staats- und Regierungschefs der Nato am 28./29. Juni in Istanbul nicht am liebsten verschieben?

de Hoop Scheffer: Überhaupt nicht. Warum denn?

SPIEGEL: Weil wenig dabei herauskommen dürfte.

de Hoop Scheffer: Wenn Sie das schon wissen, dann wäre die Verschiebung vielleicht eine gute Idee. Aber dafür gibt es keinen Grund. Wir werden über wichtige Themen sprechen wie zum Beispiel die Operationen der Nato, die bessere Einsatzfähigkeit unserer Truppen und natürlich unser außenpolitisches Umfeld, etwa den Irak ...

SPIEGEL: ... eben. Durch die Folterfotos ist die Lage desaströs, auch für die Nato, die in der muslimischen Welt mit den Amerikanern gleichgesetzt wird.

de Hoop Scheffer: Die Folterbilder aus dem Gefängnis Abu Ghureib haben natürlich einen negativen Effekt. Aber wir haben inzwischen die Resolution des Uno-Sicherheitsrats. Auf dieser Grundlage wird die Übergangsregierung einen Tag nach unserem Gipfel auch formell die Souveränität im Irak übernehmen. In Istanbul werden die Regierungschefs über den Irak und über die Rolle der internationalen Gemeinschaft reden.

SPIEGEL: Sind Sie als Nato-Generalsekretär dafür, dass sich das Bündnis im Zweistromland engagiert?

de Hoop Scheffer: Wenn die irakische Regierung oder die Uno oder beide zusammen die Nato bitten würden, dort eine Rolle zu spielen, dann sage ich: Wir können der irakischen Regierung nicht die Tür vor der Nase zuschlagen. Es wäre sehr eigenartig, wenn die Nato über solche Wünsche nicht ernsthaft beraten würde.

SPIEGEL: Der deutsche Kanzler meint, es gäbe keinen Zugewinn an Sicherheit, wenn die Nato sich im Irak engagiert. Der französische Präsident sagt es ähnlich.

de Hoop Scheffer: Die beiden haben auf dem G-8-Treffen auf Sea Island aber nicht gesagt, dass sie gegen eine Debatte darüber sind.

SPIEGEL: Umso mehr müssen Sie bedauern, dass Ägyptens Präsident Hosni Mubarak, einer der einflussreichsten arabischen Führer, an einer solchen Debatte nicht teilnimmt - er hat die Einladung nach Istanbul abgelehnt. Wie übrigens auch Russlands Präsident Wladimir Putin.

de Hoop Scheffer: Über Einladungen haben wir in der Nato gar nicht diskutiert.

SPIEGEL: Die wurden nicht ausgesprochen, weil klar war, dass keiner kommt. Und aus der großen Initiative in Istanbul für den Nahen und Mittleren Osten wird auch nichts.

de Hoop Scheffer: Der Gipfel wird in einer Erklärung den Staaten der Region Zusammenarbeit anbieten. Das ist ein bescheidener Anfang; das will ich gern einräumen.

Aber man muss ja irgendwo anfangen, um die Dinge in Bewegung zu bringen.

SPIEGEL: Entscheidend wird die Entwicklung im Irak sein. Was soll die Nato dort konkret tun?

de Hoop Scheffer: Ich möchte die richtige Priorität wahren: Erst will ich hören, was die irakische Regierung von der Nato möchte. Bis jetzt haben wir eine Koalition gesehen, die für die Iraker entschieden hat. Wir kommen nun in eine Phase, in der die Iraker selbst entscheiden. Dann muss die Nato die Optionen beraten, zum Beispiel in jenen Bereichen, in denen die deutsche Regierung schon jetzt Zusammenarbeit anbietet, also bei der Ausbildung der Polizei und der Streitkräfte.

SPIEGEL: Welche Bereiche schließen Sie aus?

de Hoop Scheffer: Ich schließe nichts aus.

SPIEGEL: Auch nicht die Übernahme des Oberkommandos durch die Nato in dem irakischen Sektor, den bisher die Polen führen?

de Hoop Scheffer: Ich schließe jetzt nichts aus, aber auch nichts ein. Sonst würde ich genau das tun, was ich vermeiden will: Ich würde der irakischen Übergangsregierung vorgeben, was sie sagen soll. Und das ist eine unangemessene Position für einen Generalsekretär der Nato.

SPIEGEL: Aber der will die Nato auf keinen Fall als Besatzungsmacht sehen, die eines Tages vielleicht auf feindselige Iraker zu schießen hat?

de Hoop Scheffer: Der Generalsekretär der Nato muss zunächst sorgfältig zuhören, was die irakische Regierung wünscht. Wenn die am 1. Juli sagt, wir möchten keine Truppen mehr im Irak, wir brauchen die Nato nicht - was sie nicht sagen wird -, soll ich dann etwa erklären: Entschuldigung, meine Damen und Herren, aber wir kommen trotzdem?

SPIEGEL: Sie sind ja schon da. 16 Staaten der Nato haben Truppen im Irak.

de Hoop Scheffer: Wenn von den 16 Staaten nicht allein die Polen, sondern auch andere Mitglieder die Nato um Hilfe bei Planung und Logistik bitten sollten, dann wäre das kein Problem. Das würde die Allianz machen. Ansonsten soll man nicht erwarten, dass die Nato mit Tausenden zusätzlicher Soldaten in den Irak hineinmarschieren wird. Das wird nicht geschehen.

SPIEGEL: Aber die Amerikaner wünschen sich ja ganz offensichtlich eine Entlastung durch Nato-Truppen.

de Hoop Scheffer: Es geht nicht nur darum, was die Amerikaner möchten. Es geht auch darum, was die irakische Regierung will. Es ist mein Job als Generalsekretär, darüber innerhalb des Bündnisses einen Konsens zu finden.

SPIEGEL: Ihre Bemühungen, das Engagement der Nato in Afghanistan zu verstärken, sind auf den Widerstand jener Nato-Mitglieder gestoßen, die bereits mit Truppen im Irak sind.

de Hoop Scheffer: Ich bin sicher, dass die Nato zusätzlich zum bereits vorhandenen Aufbauteam der Deutschen in Kunduz noch vier weitere beschließen wird.

SPIEGEL: Haben Sie genug Truppen dafür? Sie streiten jetzt schon über fast läppische Details: über vier Hubschrauber, ein Transportflugzeug und zwei Kompanien Kampftruppen, die keiner zur Verfügung stellen will.

de Hoop Scheffer: Ich bestreite nicht, dass wir Schwierigkeiten haben, das alles zu erhalten. Da habe ich auch Kritik an unseren eigenen Entscheidungsverfahren und an unseren Mitgliedstaaten, die lange Zeit brauchen. Aber wir werden es schaffen.

SPIEGEL: Sie haben gesagt, dank der Nato gebe es in Afghanistan große Fortschritte. In Wahrheit aber nehmen die Angriffe zu. Gerade erst sind elf Chinesen ermordet worden, noch dazu in der Region Kunduz, wo die Bundeswehr stationiert ist. In der Nähe wurden zwei Fahrzeuge der Uno in die Luft gesprengt. Behaupten Sie immer noch, die Lage habe sich verbessert?

de Hoop Scheffer: Die Verantwortung für Afghanistan liegt zuallererst bei Präsident Karzai und seiner Regierung. Die Nato spielt dort nur eine sekundäre Rolle. Es war klar, dass es im Frühjahr und Sommer neue Unruhen geben würde. Dahinter stehen Gruppen, die ein Interesse daran haben, den Friedensprozess scheitern zu sehen. Die Nato allein kann Afghanistan nicht zu einem stabilen Land machen. Es geht um die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft. Auch die Uno, die Europäische Union und die USA können es sich nicht leisten, Afghanistan oder den Irak scheitern zu lassen. Wenn das geschähe, hätten wir ein riesiges Problem.

SPIEGEL: Der Nato-Oberbefehlshaber in Europa, General James Jones, hat das auf die Formel gebracht: Wenn wir Afghanistan

nicht befrieden, brauchen wir im Irak gar nicht erst anzutreten.

de Hoop Scheffer: Da hat er Recht.

SPIEGEL: Sie würden auch die zeitliche Abfolge für richtig halten - in Afghanistan einen Erfolg herzustellen und erst danach die Nato in den Irak zu entsenden?

de Hoop Scheffer: Wir können es uns nicht leisten, Afghanistan oder den Irak zu verlieren.

SPIEGEL: Sind Sie dafür, die Nato Response Force, die neue Schnelle Eingreiftruppe der Allianz, zur Sicherung der Wahlen nach Afghanistan zu schicken?

de Hoop Scheffer: Das könnte theoretisch möglich sein. Ich schließe das nicht aus. Wir brauchen außerhalb Afghanistans einsatzbereite Reserven für den Krisenfall - wie wir im Kosovo gesehen haben.

SPIEGEL: Im Kosovo gab es im März schwere Unruhen, bei denen die Nato-geführten Kfor-Truppen keine rühmliche Rolle spielten. Jetzt jährt sich zum fünften Mal das Ende des Nato-Bombardements, mit dem die Vertreibung der Albaner durch die Serben gestoppt wurde. Es wird entsprechende Feiern geben, und es sind wieder Ausschreitungen zu erwarten. Ist die Nato nun dafür gewappnet?

de Hoop Scheffer: Anders als Sie behaupten, hat die Kfor das gut gemacht - wenn man sich genau anschaut, was geschehen ist: Es gab Unruhen, orchestriert durch radikale Fraktionen der Albaner, an sieben, acht, neun Stellen zugleich. Auch hat die Nato gut reagiert mit den Verstärkungen, die dann eingeflogen wurden. Aber ich stimme Ihnen zu, dass die Situation im Kosovo sehr fragil ist.

SPIEGEL: Die Nato schafft es nicht, für Ruhe zu sorgen.

de Hoop Scheffer: Die Allianz beteiligt sich jetzt intensiver am politischen Prozess der internationalen Gemeinschaft. Es ist klar, dass das Problem Kosovo nicht von der Nato allein gelöst werden kann. Dafür braucht man Serbien. Dafür braucht man eine Balkanstrategie der EU und der Nato.

SPIEGEL: Aber es gibt noch keine.

de Hoop Scheffer: Auch da stimme ich Ihnen zu. Die Nato und die EU müssen hier ganz eng zusammenarbeiten. Ich hoffe auch, dass der Generalsekretär der Uno schnell einen Nachfolger für den ausgeschiedenen Uno-Beauftragten Harri Holkeri berufen wird.

SPIEGEL: Es ist kein Erfolg der Nato in Sicht. Insoweit haben wir eine parallele Lage zu Afghanistan. Die Propaganda behauptet, man habe alles im Griff, doch unter der Oberfläche schwelen die schweren Konflikte weiter.

de Hoop Scheffer: Damit bin ich nicht einverstanden. Man braucht eine politische Lösung, für die sehr viele Akteure zusammenarbeiten müssen. Die Nato ist vor Ort, um so gut wie möglich ein ruhiges Umfeld zu schaffen - jene Ruhe, ohne die es keine politische Lösung gibt.

INTERVIEW: DIRK KOCH, ALEXANDER SZANDAR

* Erschossene chinesische Bauarbeiter am 10. Juni.

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