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»Es gibt keine Front am Ussuri«

aus DER SPIEGEL 17/1972

SPIEGEL: Herr Professor Woslenskij, ob die Verträge ratifiziert werden oder nicht -- wird in jedem Fall eine europäische Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit stattfinden?

WOSLENSKIJ: Ich gehe davon aus, daß die Verträge ratifiziert werden. Natürlich gehört das in der BRD zur souveränen Entscheidung des Bundestags. Nur müssen und werden doch alle einsehen, daß es sich letzten Endes um keine ausschließlich innerbundesdeutsche Angelegenheit handelt, sondern. um eine außenpolitische Entscheidung, die von großer Bedeutung für ganz Europa ist. Auch bei einer -- von Ihnen erwogenen -- Nichtratifizierung kann sich die BRD den Kernproblemen der Verträge -- Gewaltverzicht und Anerkennung der Unverletzbarkeit der Grenzen -- nicht entziehen. Westdeutschland wird weiterhin vor diesen Problemen stehen: auf der Sicherheitskonferenz.

SPIEGEL: Ist die Ratifizierung der Verträge nach Ihrer Meinung eine Voraussetzung für eine europäische Sicherheitskonferenz?

WOSLENSKIJ: Ich äußere hier mit allem, was ich sage, überhaupt nur meine eigene Meinung. Ich spreche nicht für meine Regierung, ich bin auch niemandes Berater. Ich spreche nur für Michail Sergejewitsch Woslenskij.

SPIEGEL: Was ist die Meinung von Michail Sergejewitsch Woslenskij?

* Mit Stenograph Walter Steinbrecher, Klaus Reinhardt, Fritjof Meyer.

WOSLENSKIJ: Das Angebot der sozialistischen Länder, eine gesamteuropäische Konferenz einzuberufen, wurde bereits in der Bukarester Erklärung im Juli 1966 gemacht. Damals gab es noch keine Verträge, damals war noch Erhard an der Regierung.

SPIEGEL: Demnach kann die Konferenz auch ohne eine Ratifizierung einberufen werden. Auch ohne Teilnahme der Bundesrepublik?

WOSLENSKIJ: Jeder Staat entscheidet selbst darüber, ob er an der Konferenz teilnimmt. Allerdings hat sich die BRD schon für die Konferenz ausgesprochen. Ich habe nicht gehört, daß irgendeine Partei im Bundestag diese Zusage zurückziehen möchte.

SPIEGEL: Soll der Teilnehmerkreis einer solchen Konferenz über Europa auf europäische Staaten beschränkt bleiben?

WOSLENSKIJ: An der Konferenz sollten die europäischen Staaten teilnehmen, die USA und Kanada. Die letzteren dürfen sich an dieser europäischen Konferenz beteiligen, weil sie im Zweiten Weltkrieg einen bedeutenden Beitrag zum Sieg der Anti-Hitler-Koalition in Europa geleistet haben. Bekanntlich haben sich westeuropäische Staaten für ihre Teilnahme ausgesprochen.

SPIEGEL: Was soll nun »das Ziel einer solchen Konferenz sein?

WOSLENSKIJ: Vor kurzem fand in Wien ein internationales Symposium statt über »Organisation der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa«. Dort habe ich folgende Formulierung vorgeschlagen: Die soziale und politische Heterogenität Europas erfordert eine Homogenität seines Sicherheitssystems. Mit anderen Worten: Gerade die Tatsache, daß Europa in sozialer und politischer Hinsicht nicht einheitlich, sondern gespalten ist, bedingt eine Einheit des Sicherheitssystems in Europa.

SPIEGEL: Das »ist nicht ohne weiteres logisch.

WOSLENSKIJ: Die Staaten Europas gehören zu zwei verschiedenen sozialen Systemen. Keine Seite »hat sich bereit erklärt, sich von ihrem System loszusagen. Aber muß bei dieser Spaltung auf sozial-politischem und ideologischem Gebiet auch die militärische Konfrontation fortbestehen? Die sozialistischen Länder haben vorgeschlagen, diese Konfrontation durch friedliche Koexistenz zu ersetzen, den Streit der Systeme auf anderen Gebieten auszutragen.

SPIEGEL: Das bisher bestehende Gleichgewicht der Kräfte soll also aufgehoben werden.

WOSLENSKIJ: Was bedeutet dieses »Gleichgewicht der Kräfte«? Es gibt jetzt in Europa ein Sicherheitssystem für sozialistische Länder, den Warschauer Vertrag, und ein militärisches System für die Nato-Länder. Das ist die institutionalisierte Konfrontation.

SPIEGEL: Der Warschauer Vertrag ist ein Bündnis gegen die Nato und umgekehrt. Gegen wen soll sich ein europäischer Sicherheitspakt richten?

WOSLENSKIJ: Ich möchte betonen, daß es sich bei dem geplanten gesamteuropäischen Sicherheitssystem nicht um so etwas handelt, wie es im 16. Jahrhundert der Minister des französischen Königs Heinrich IV., Sully, vorgeschlagen hatte -- der sogenannte »große Plan« von Sully, eine Allianz sämtlicher europäischer Staaten gegen die Türkei zu bilden.

SPIEGEL: Wobei die gefürchtete Türkei heute etwas weiter östlich liegen könnte?

* In Erfurt.

WOSLENSKIJ: Das System der kollektiven Sicherheit in Europa ist kein militärisches Bündnis gegen dritte Staaten, wie weit sie auch im Osten oder im Westen liegen mögen. In der Prager Deklaration vom 26. Januar 1972 hat der Politische Beratende Ausschuß des Warschauer Vertrags ganz präzise die sieben Hauptprinzipien der gesamteuropäischen Sicherheit dargelegt. Das erste dieser Prinzipien ist »die Unverletzbarkeit der Grenzen, das zweite der allgemeine Verzicht auf Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung.

SPIEGEL: Unverletzbarkeit der Grenzen -- das heißt: Die Grenzen dürfen nicht mit Gewalt geändert werden. Können sie im Einverständnis beider Partner geändert werden?

WOSLENSKIJ: Sie meinen, aus völlig freiem Willen, also ohne Druck, ohne Gewaltandrohung in irgendeiner Form?

SPIEGEL: Mit der beiderseitigen Entscheidungsfreiheit, die Voraussetzung beim Abschluß eines Vertrages ist.

WOSLENSKIJ: Wer hat sich in Europa gemeldet, sein Territorium einem anderen Staat zu übergeben? Nennen Sie mir ein Beispiel.

SPIEGEL: Denkbar ist ein Territorialkonflikt um Nordirland. Oder uni die albanischen Minderheitsgebiete in Griechenland. Oder ein Beispiel aus ihrem Bereich: Die Jugoslawen behaupten hin und wieder, daß Bulgarien Ansprüche auf Mazedonien erhebt.

WOSLENSKIJ: Meine Frage bleibt offen: Sie haben keinen Staat genannt, der seine Gebiete verschenken will. Wenn wir ein System der gesamteuropäischen. Sicherheit haben und die Teilnehmer kommen alle mit Gebietsansprüchen gegeneinander und verhandeln darüber und versuchen, auf dem einen oder anderen Wege einander unter Druck zu setzen, die entsprechenden Gebiete an sich zu reißen -- das wäre ein schönes Sicherheitssystem!

SPIEGEL: Wenn wir Sie recht verstehen, geht es Ihnen zunächst einmal überhaupt nur um ein Zusammentreten der Konferenz. Wie dann das Sicherheitssystem aussieht, soll sich aus den Beratungen ergeben -- die sowjetische Seite geht ohne ein fertiges Konzept auf die Konferenz?

WOSLENSKIJ: Ganz im Gegenteil. Das Konzept der Sowjet-Union und anderer sozialistischer Staaten in Europa ist nicht nur fertig, sondern schon mehrfach bekanntgegeben worden. Ich erinnere an die Bukarester Deklaration 1966, die Erklärung von Karlovy Vary 1967, den Budapester Appell 1969, die Berliner Erklärung 1970, die Prager Deklaration 1972. Ich nehme an, daß alle Konferenzteilnehmer ihre Konzepte haben werden. Die Aufgabe wird sein, sie abzustimmen. Da wird man, wie ich es mir vorstelle, ein ständiges Organ bilden mit dem Zweck, weitere Lösungen zu finden, die notwendig sind, uni ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu schaffen.

SPIEGEL: Soll die Konferenz nur über Sicherheitsprobleme beraten?

WOSLENSKIJ: Diese Probleme bilden den wichtigsten Punkt der Konferenztagesordnung. Das ist logisch: Hauptsache ist Sicherheit in Europa. Das bedeutet aber keine Unterschätzung der gesamteuropäischen Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten. natürlich auch auf dem politischen.

SPIEGEL: Was haben Sie da für Zeitvorstellungen?

WOSLENSKIJ: Man muß mit der Konferenz beginnen ...

SPIEGEL: ... in diesem oder im nächsten Jahr.

WOSLENSKIJ: Hoffentlich noch in diesem Jahr, dafür haben sich nicht nur die sozialistischen Länder, sondern auch Frankreich und weitere Länder ausgesprochen. Anfang Juni findet in Brüssel ein internationales Forum für Fragen der europäischen Sicherheit statt. Das ist keine Propagandaveranstaltung, sondern ein Meinungsaustausch von Leuten aus allen Lagern von links bis rechts, aus Ost und West.

SPIEGEL: Wie gehen die Vorbereitungen auf offizieller Ebene weiter?

WOSLENSKIJ: Das Stadium der bilateralen Konsultationen haben wir schon hinter uns. Die Staatschefs und die Außenminister haben diese Probleme bilateral behandelt. Entsprechend dem Vorschlag der finnischen Regierung sollten nun die entsandten Botschafter mit dem finnischen Außenministerium Gespräche führen, dann alle diese Vertreter auf Botschafterebene gemeinsam sprechen.

SPIEGEL: Herr Professor, die Gefahr eines militärisch begrenzten Konflikts ist doch beim bestehenden Abschreckungssystem möglicherweise geringer als im Fall einer Europäisierung aller Konflikte.

WOSLENSKIJ: Im gesamteuropäischen Sicherheitssystem wird es sich selbstverständlich nicht um alle, sondern nur um zwischenstaatliche Angelegenheiten handeln. Sicher wäre es für keinen Teilnehmerstaat in Europa wünschenswert, daß der Mechanismus der gesamteuropäischen Sicherheit sich in die inneren Angelegenheiten dieses Staates einmischt.

SPIEGEL: Heute ist es nicht mehr die innere Angelegenheit eines Staates allein, wenn er zum Beispiel sein inneres gesellschaftliches System ändert. Nehmen wir an, Frankreich wird kommunistisch -- das ist ein europäisches Sicherheitsproblem. Oder in einem sozialistischen Land beschließt die regierende Partei, zu etwas überzugehen, was Sie als »Konterrevolution« empfinden. Ist das eine Angelegenheit dieses Landes selbst, ist es eine gesamteuropäische Angelegenheit, oder ist es Sache der sozialistischen Staaten?

WOSLENSKIJ: Sie meinen, daß eine kommunistische Partei in einem sozialistischen Land Europas beschließt, den Sozialismus zu liquidieren?

SPIEGEL: Das war eine der offiziellen Begründungen für den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die CSSR 1968: die Gefahr eines Sieges der Konterrevolution.

WOSLENSKIJ: Meine Herren, Ihre Annahme »ist ganz unrealistisch. Eine regierende kommunistische Partei will nicht mehr regierende Partei sein und will die Grundlagen des Sozialismus auflösen! Was die Aktion der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags im Jahre 1968 betrifft, so geschah dies im Geiste dieses Vertrags.

SPIEGEL: Welche Voraussetzungen sehen Sie für den Abzug aller fremden Truppen aus den Ländern Europas?

WOSLENSKIJ: Man muß mit der Reduzierung der Streitmächte beginnen -- der nationalen wie der in anderen Staaten stationierten Truppen. Ich glaube nicht, daß man sofort einen totalen Abzug aller fremden Truppen in Europa erzielen könnte.

SPIEGEL: Dazu muß man nicht auf die Sicherheitskonferenz warten.

WOSLENSKIJ: Man könnte schon vor der Konferenz mit den Verhandlungen über Truppen- und Rüstungsreduzierungen in Europa beginnen, sie während der Konferenz fortsetzen und danach zum Abschluß führen, vielleicht in dem ständigen Organ. Man sollte sich nicht in die Spekulationen vertiefen, was wird wenn ... Man muß mit den Verhandlungen beginnen, dann wird sich alles »herausstellen. Lange Zeit hat man über West-Berlin gedacht: »Dies ist unmöglich, und das ist unmöglich. Dann hat man mit diesen gar nicht einfachen Verhandlungen begonnen und ist zu einem Ergebnis gekommen. Auch in der Frage der Truppenreduzierung gibt es die objektive Möglichkeit einer für alle Beteiligten annehmbaren Lösung.

SPIEGEL: Die Nato ist zu Verhandlungen mit dem Warschauer Pakt seit langem bereit.

WOSLENSKIJ: Verhandlungen zu diesem Thema zwischen beiden Blöcken wären falsch. weil es auch blockfreie Staaten in Europa gibt, die man nicht ausschließen kann.

SPIEGEL: Die Sowjet-Union hat nicht nur eine Grenze in Europa, sondern auch eine Grenze in Asien. Wenn die Sowjet-Union Ruhe und Stabilität an ihrer Westgrenze findet, will sie doch für mögliche Konflikte an ihrer Ostgrenze gerüstet sein.

WOSLENSKIJ: Die Sowjet-Union ist imstande, jede ihrer Grenzen zu verteidigen. Ich kann Ihnen aber sagen, daß die Sowjet-Union daran interessiert ist, auch an ihrer Ostgrenze Ruhe und Frieden zu haben. Bekanntlich werden in Peking über die Grenzfragen Verhandlungen geführt. Die Sowjet-Union hat immer wieder betont, daß sie eine Normalisierung der Beziehungen zur Volksrepublik China herbeiführen möchte.

SPIEGEL: Möchte das auch China? Meint Michail Sergejewitsch Woslenskij, daß China den Frieden will?

WOSLENSKIJ: Das chinesische Volk will den Frieden.

SPIEGEL: Kein Abzug sowjetischer Divisionen aus Osteuropa, um die Front am Ussuri stärker zu machen?

WOSLENSKIJ: Erstens gibt es keine Front am Ussuri. Zweitens handelt es sich um eine Reduzierung der Streitkräfte und nicht um einen Abzug.

SPIEGEL: Gibt es in einem Europa. dessen Mitgliedstaaten glaubhaft einen Gewaltverzicht geleistet haben, noch eine Rechtfertigung für das, was Sie den antifaschistischen Verteidigungswall der DDR gegen West-Berlin nennen?

WOSLENSKIJ: Alle Probleme der Ordnung an der Grenze eines Staates gehören in seine eigene Kompetenz.

SPIEGEL: Nein, in diesem Falle haben sämtliche Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrags am 13. August 1968 eine Garantie für diesen Wall übernommen. Es ist also nicht nur die Angelegenheit der DDR.

WOSLENSKIJ: Natürlich stehen die Grenzen der DDR unter der Garantie aller Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags. Das ist in jeder Allianz so.

SPIEGEL: Nicht nur die Grenzen sind garantiert worden, sondern ausdrücklich auch der Wall.

WOSLENSKIJ: Die Grenzen sind garantiert worden. Wie aber die Grenze aussieht, das hängt von dem betreffenden Staat ab. Wovon läßt sich der Staat hei der Gestaltung dieser Ordnung an der Grenze leiten? Wahrscheinlich davon, was für Beziehungen zwischen diesem Staat und dem Nachbarn bestehen. Dann sieht die Grenze dementsprechend aus.

SPIEGEL: Herr Professor Woslenskij, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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