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»Es gibt keine Wahrheit«

aus DER SPIEGEL 30/1994

SPIEGEL: Herr Watzlawick, werden sich auf dem Hamburger Weltkongreß für Psychotherapie wieder mal die Psycho-Ideologen streiten?

Watzlawick: Dieser Kongreß wird nicht dem Fehler verfallen, darzulegen, daß es nur einen richtigen Ansatz zur Psychotherapie gibt - und daher alle anderen falsch sind. Das ist der alte Unsinn der dogmatischen Schulen. Endlose Debatten und Zehntausende Seiten in Büchern werden damit vergeudet.

SPIEGEL: Die Abgrenzungen zwischen den Psychotherapie-Schulen sind genauso starr wie eh und je. Da hat sich wenig geändert.

Watzlawick: Darum ist dieser Kongreß ja so wichtig. Die Teilnehmer werden hoffentlich zu der Einsicht kommen, daß nicht die endgültige Wahrheit entscheidend ist, sondern nur die Frage, wessen Technik Erfolge bringt. Was wirkt, was funktioniert, womit kann ich menschliches Leiden vermindern?

SPIEGEL: Was sind für Sie die erfolgversprechendsten Verfahren?

Watzlawick: Das sind für mich die systemisch-konstruktivistischen Methoden, die ich selber favorisiere. Sie basieren auf der Systemlehre, nach welcher der Patient kein unabhängiges Individuum ist, sondern ein System von Beziehungen. Wenn ich mit einem Ehepaar arbeite, ist für mich die Beziehung der beiden untereinander der »Patient«. Ich suche nicht nach Gründen in der Vergangenheit, sondern untersuche die Situation im Hier und Jetzt. Für mich ist der akute Leidensdruck der Patienten maßgebend.

SPIEGEL: Das ist eine Abkehr von Techniken, die Sie früher verwandt haben.

Watzlawick: Absolut, um 180 Grad. Im Gegensatz zum Beispiel zum Jungschen Analyseverfahren, dessen Ansatz sich auf die Vergangenheit konzentriert, und zwar nicht nur auf die persönliche Vergangenheit, sondern weiter in das kollektive Unbewußte der Menschheit hinein, stehe ich heute an dem Punkt, wo ich mich frage: Was ist jetzt und hier das Problem? Ich leugne nicht, daß diese Probleme ihre Ursachen in der Vergangenheit haben. Aber ich frage, ob es notwendig ist, die Ursache in der Vergangenheit zu begreifen, die Entwicklung dieser Problematik zu verstehen und dann durch Einsicht in die Ursachen einen therapeutischen Wandel herbeizuführen. Davon bin ich vollkommen abgekommen.

SPIEGEL: Das hat Folgen für die Länge der Therapie.

Watzlawick: Wir haben an unserem Kurztherapie-Projekt hier in Palo Alto ein Maximum von 10 Sitzungen. Natürlich kann man über diese Anzahl hinausgehen, aber es ist mir vollkommen klar: Was ich in 10 Sitzungen nicht erreichen kann, ist auch in 100 Sitzungen nicht zu erreichen.

SPIEGEL: Damit verärgern Sie alle Vertreter der klassischen Psychoanalyse, die oft jahrelang mit Klienten arbeiten.

Watzlawick: Die sind sowieso verärgert, denn wir leugnen ja deren Grundlagen. Wir müssen heute begreifen, daß die Aufgabe der Wissenschaft darin besteht, nützliche Verfahren für spezifische Zwecke auszuarbeiten, die dann in zehn Jahren - hoffentlich - durch noch praktischere, bessere, erfolgreiche Ansätze abgelöst werden. Das können viele Leute nicht akzeptieren. Ganz besonders im akademischen Milieu ist das so.

SPIEGEL: Hat denn die Psychoanalyse ihre Berechtigung vollkommen verloren?

Watzlawick: Das Problem mit der Analyse ist: Wir können vom Menschen immer nur Annahmen haben, aber nie endgültige Wahrheiten. Die Philosophen sagen schon seit Jahrhunderten, daß wir unsere Wirklichkeit selbst konstruieren. Epiktet zum Beispiel stellte fest: »Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.« Und über Meinungen gibt es keine endgültigen Wahrheiten.

SPIEGEL: Wie ist denn für Sie das System Mensch beeinflußbar?

Watzlawick: Wir behaupten nicht, wir wüßten, warum ein Mensch leidet, und wir versuchen auch nicht, einen anderen Menschen aus ihm zu machen. Für mich ist der Leidensdruck bestimmend. Wenn jemand Flugangst hat, dann ist das für mich der Ausgangspunkt. Wie es dazu gekommen ist, ist im systemischen Ansatz unwichtig.

SPIEGEL: Gilt das auch für Schlafstörungen, Depressionen, Ängste?

Watzlawick: Natürlich. Für alle sogenannten Symptome. Gerade bei der Depression spielen Interaktionen ja eine große Rolle. Gutgemeinte Ratschläge wie »Reiß dich doch zusammen. Es ist doch nicht so schlimm. Schau, die Sonne scheint« bewirken sehr oft eine Verschlimmerung der Depression. Wir dagegen versuchen zu verstehen: Was wurde bisher zur Lösung des Problems unternommen. Oft bewirken diese Versuche nichts, sondern erhalten das Problem.

SPIEGEL: Sie bieten auf dem Hamburger Kongreß einen Workshop an mit dem Titel: »,Einsicht' erzeugt Blindheit. - Wenn die Lösung zum Problem wird«. Was bedeutet dieses Motto?

Watzlawick: Die klassischen Therapieschulen bauen auf dem Prinzip Einsicht auf. Der sogenannte Patient muß Einsicht in die Bedeutung der Vergangenheit erlangen. Und das dauert lange. Denn diese Methode ist beliebig auslegbar: Wenn der Zustand des Patienten sich bessert, beweist das die positive Wirkung der Einsicht, wenn er sich nicht bessert, dann bedeutet es, daß man eben noch nicht intensiv genug in der Vergangenheit geforscht hat. Die Theorie wird somit paradoxerweise sowohl durch Erfolg als auch durch Mißerfolg bewiesen.

SPIEGEL: Gibt es zu viele falsche Therapie-Formen?

Watzlawick: Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um wirksam oder unwirksam.

SPIEGEL: Wird denn wirksam genug therapiert?

Watzlawick: Das kann ich nicht beurteilen. Ich kann nur sagen, daß man nun, ähnlich wie in den USA, auch in Europa beginnt vollkommen abzurücken von dem absoluten Glauben in die endgültige Wahrheit des psychoanalytischen Ansatzes. Statt dessen schwingt das Pendel jetzt zum anderen Extrem, nämlich zu der Annahme, daß sich alles biochemisch erklären läßt. Da gibt es Leute, die leuchtenden Auges behaupten, daß man in drei bis fünf Jahren nicht nur die biochemischen Ursachen sämtlicher seelischen Störungen erforscht haben wird, sondern auch die biochemischen Grundlagen der Liebe und der Kreativität. Ich hoffe, daß ich bis dahin nicht mehr auf der Welt bin.

SPIEGEL: Die Genforschung läuft ja in dieselbe Richtung.

Watzlawick: Das Schlimme ist die dogmatische Behauptung, daß die Biochemie den Menschen determiniere. Und daß der ganze psychotherapeutische Ansatz nichts weiter als ein Aberglaube sei.

SPIEGEL: Droht damit auch ein neuer Boom der Psychopharmaka wie in den fünfziger Jahren?

Watzlawick: Ja. Wie sagte der Philosoph Santayana: »Es gibt nichts Neues unter der Sonne, außer das Vergessene.« Für mich sind all die weltbeglückenden Methoden und Theorien eine große Gefahr. Karl Popper schreibt, die Aufgabe der Politik sei, das Leiden zu vermindern. Das Finden des Glücks habe dem einzelnen überlassen zu bleiben. Oscar Wilde läßt eine seiner Personen im Stück »Lady Windermeres Fächer« sagen: »Es gibt im Leben zwei Tragödien. Die eine ist die Nichterfüllung eines Herzenswunsches. Die andere ist seine Erfüllung. Von den beiden ist die zweite bei weitem die tragischere.«

SPIEGEL: Hat die Sehnsucht der Menschen nach Glück zugenommen?

Watzlawick: Das würde ich nicht sagen, obwohl die Wohlstandsgesellschaft Probleme produziert, die man in Zeiten der Not nicht hat. Die Selbstmordraten sind in den Industrienationen höher als in der Dritten Welt. Während Sarajevo unter Beschuß lag, war für die Leute das Überleben wichtig. Jetzt, mit der relativen Ruhe dort, steigt die Selbstmordrate enorm an. Sicher hat das auch was mit dem Verlust von Angehörigen und Freunden zu tun. Aber ich glaube, es trifft schon zu, was George Orwell sagte: »Menschen mit leeren Bäuchen verzweifeln nicht am Universum - ja, sie denken nicht einmal daran.«

SPIEGEL: Das hieße konsequenterweise, man müßte die Menschen nur ordentlich beschäftigen oder Not leiden lassen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen.

Watzlawick: Nein, das wäre nicht Sinn der Sache. Ich erinnere mich an das, was eine Patientin, die eine sehr konfliktreiche Beziehung zu ihrer Mutter hatte, nach neun Sitzungen sagte: »So wie ich die Lage sah, war es ein Problem. Jetzt sehe ich sie anders, und es ist kein Problem mehr.« Die Lage hatte sich nicht geändert, die Mutter war dieselbe geblieben, aber die Perspektive der Tochter hatte sich geändert. Das reichte für sie aus. Diesen Perspektivenwechsel streben wir in der Therapie an.

SPIEGEL: Stürzen Sie sich gelegentlich auch in Arbeit, um sich von Problemen abzulenken?

Watzlawick: Ja, und hinterher, wenn die Arbeit erfolgreich abgeschlossen ist, ist die Leere da. Dieses Gefühl kenne ich auch. Im Zen-Buddhismus zum Beispiel geht es weniger darum, immer neuen Zielen hinterherzujagen, sondern den gegenwärtigen Augenblick bewußt zu erleben.

SPIEGEL: Das ist aber ganz schön schwierig.

Watzlawick: Das ist sogar überaus schwierig. Und deshalb wird es auch das Thema meines letzten Buches sein, eines Romans über die Entdeckung der Gegenwart.

SPIEGEL: Das klingt, als hätten Sie sie schon entdeckt.

Watzlawick: Nein, noch nicht ganz. Sonst wäre ich ein Weiser. Das bin ich aber noch nicht.

SPIEGEL: Haben Sie denn schon mit dem Buch begonnen?

Watzlawick: Nein, aber ich habe bereits den ganzen Titel. Jetzt muß ich nur noch die Geschichte dazu finden und mein Talent als Romanschriftsteller entdecken.

SPIEGEL: Sind Sie eigentlich schon mal selbst an einem kritischen Punkt in Ihrem Leben gewesen?

Watzlawick: Es gibt faszinierende Studien über das Erlebnis der Todesnähe. Bei so einem Erlebnis tritt genau das Gegenteil dessen ein, was man sich naiverweise so vorstellt: Es ist keine Panik, kein furchtbarer Schrecken, sondern ein Gefühl des Friedens und der Stimmigkeit, das man vorher nie erlebt hat. Und dann begeht man den Fehler, dieses Gefühl ununterbrochen wieder neu erleben zu wollen. Aber dieses Gefühl läßt sich nicht absichtlich herbeiführen. Y

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