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Artikel 55 / 96

»Es gibt nichts zu beschönigen«

SPIEGEL-Interview mit dem sowjetischen Schriftsteller Fasil Iskander über die Unruhen im Kaukasus *
aus DER SPIEGEL 13/1988

SPIEGEL: Fasil Abdulowitsch, die kaukasischen Helden Ihrer auch in Deutschland populären Erzählungen und Romane trinken türkischen Kaffee, armenischen Kognak und abchasischen Tschatscha, sie sprechen Mingrelisch, Abchasisch, Georgisch, Türkisch und manchmal sogar Russisch. Also tatsächlich eine »einträchtige Völkerfamilie«, wie sowjetische Propagandisten nicht müde werden zu behaupten?

ISKANDER: Wenn man bedenkt, wie viele Völker im Kaukasus zu Hause sind, muß man schon sagen, daß sie ziemlich friedlich miteinander leben. Aber von Zeit zu Zeit ist immer wieder so etwas geschehen wie jetzt in Armenien. Gründe dafür liefert vor allem die administrative Politik, die sich in der Stalin-Zeit herausgebildet hat.

SPIEGEL: Sie gelten als ausgezeichneter Kenner von Geschichte und Mentalität der am Kaukasus versammelten Völkerschaften. Wie passen Unruhen, Demonstrationen, Morde aus nationalistischem Haß, Ausnahmezustand und Militäreinsatz in Armenien und Aserbaidschan ins jahrzehntelang gepflegte Bild einer heilen multinationalen Sowjetwelt?

ISKANDER: Bei den lokalen Machthabern, ja bei den Mächtigen überhaupt ist ein Verlust der Rückkopplung zum Volk zu beklagen. Auch dies wurzelt in der Stalin-Ära. Daß Fragen, die von unten kommen, an Ort und Stelle rasch und kompetent entschieden werden, ist der absolute Ausnahmefall. In der Regel werden solche Fragen einfach ignoriert. Das Problem der Karabach-Region stand in Armenien wiederholt auf der Tagesordnung, aber die Leute sind jedesmal vertröstet worden. Nichts ist geschehen.

SPIEGEL: Geht es bei den Auseinandersetzungen nur um die Exklave Berg-Karabach, oder liegen die Gründe tiefer?

ISKANDER: Die zurückliegenden Jahre der Stagnation haben die Menschen in einen solch depressiven Zustand versetzt, daß ihnen oft alles egal war. Aber die Probleme waren ja da. Und im Klima von Demokratisierung und neuer Offenheit tauchen nun alle diese Fragen verstärkt wieder auf, darunter natürlich auch ungelöste nationale Probleme, vor allem aber die ungelöste soziale Frage. Ich denke überhaupt, daß sogenannte nationale Fragen im Kern, vielleicht nicht allen bewußt, immer soziale Ursachen haben: Unbewußte soziale Unzufriedenheit entlädt sicht oft in nationalistischer Unduldsamkeit.

SPIEGEL: Armenier nennen ihre Gebietsforderung einen Test der Perestroika. Sehen Sie das auch so?

ISKANDER: Ja, an diesem Fall muß sich die Perestroika beweisen: Ob sie flexibel genug ist, ob sie richtig und rasch auf reale Probleme zu reagieren vermag - all das wird dabei auf die Probe gestellt. Jetzt darf jedenfalls nicht, wie es früher war, der Eindruck erweckt werden, als existierten diese offenen und unbewältigten Fragen gar nicht. Vor allem aber hoffe ich, daß nicht wieder zu Repressionen gegriffen wird.

SPIEGEL: Hat eben diese Hoffnung den Armeniern erst Mut gemacht, ihr territoriales Problem auf die Moskauer Tagesordnung zu setzen?

ISKANDER: Allem Anschein nach stand diese Frage in Moskau schon weit früher auf der Tagesordnung. Nur ist sie, wie vieles andere auch, nicht gelöst worden. Nun gibt es zwar einerseits die neue Politik, die untrennbar mit dem Namen Gorbatschow verbunden ist. Aber auf der anderen Seite stehen viele alte Kader, die spürbaren Widerstand leisten: Oft ist diese Ablehnung sehr bewußt, aber manchmal ist sie einfach der Ausdruck von Inkompetenz, einer riesigen Ansammlung von Inkompetenz, die das erschreckende Ergebnis einer jahrzehntelang betriebenen negativen Auswahl ist. Leider sind diese konservativen Kräfte noch sehr stark und widersetzen sich überall, von ganz oben bis hinunter auf die lokale Ebene, einer vernünftigen, lebensnahen Politik.

SPIEGEL: In einer Ihrer Geschichten zeichnen Sie die Figur des armenischen Kaffeekochs Akop-Aga, der, fast noch Analphabet, »die Geschichte Armeniens kennt wie den Lebenslauf eines Nachbarn von seiner Straße«. Ist Ihnen dieser »glühende Patriotismus der Armenier« unheimlich, ein Zeichen nationaler Überheblichkeit - oder muß er seinen Platz haben im sowjetischen System?

ISKANDER: Das armenische Volk hat schrecklich gelitten in seiner Geschichte, natürlich hat es wie andere Nationen ein Recht auf seinen Patriotismus.

SPIEGEL: Armenier in Moskau haben von pogromartiger Stimmung unter den Aserbaidschanern gesprochen und die Übergriffe in Sumgait mit den Massakern von 1915 verglichen, als türkische Fanatiker fast das halbe armenische Volk ausrotteten. Ist die Parallele für Sie gerechtfertigt?

ISKANDER: Es war eine pogromähnliche Situation, und es waren schlimme Übergriffe - da gibt es gar nichts zu beschönigen. Doch sonst existiert natürlich keine Übereinstimmung mit dem Genozid von 1915: Der geschah damals mit Zustimmung oder mindestens Duldung der türkischen Regierung, während unsere Regierung sofort eingegriffen und die Ausschreitungen unterbunden hat.

SPIEGEL: Mit Panzern und Soldaten, wie in einem Bürgerkrieg.

ISKANDER: Daß Militär eingesetzt wurde, finde ich gerechtfertigt: Eine Minderheit, die angegriffen und verfolgt wird, muß den wirksamsten Schutz erhalten, den es gibt. Aber wer waren denn die Angreifer und Verfolger in Sumgait? Soweit ich weiß, waren es überwiegend jüngere Leute, und wenn man das erklären will, so führen die Spuren abermals zurück in unsere jüngste Geschichte: Es ist eine zum Teil verlorene Generation, ohne Ideale, ohne kulturelle Interessen, ohne Glauben an irgend etwas und daher ohne Kraft, die eigenen Leidenschaften zu zügeln.

SPIEGEL: Viele Aserbaidschaner sind schiitische Moslems, viele Armenier konservative Christen. Hat der aggressive Atheismus als Staatsdoktrin diese religiösen Gegensätze nicht eher konserviert und verschärft als abgebaut?

ISKANDER: Ach, wissen Sie, bei den aktuellen Ausschreitungen waren religiöse Gefühle kaum im Spiel. Diese jugendlichen Krawallmacher in Aserbaidschan benutzen den Islam als Rechtfertigung, als Tarnung, aber in Wirklichkeit glauben sie an nichts, an absolut nichts. Ihre soziale Lage ist schlecht, so sind sie ein idealer Nährboden für Haß.

SPIEGEL: Nach den Worten eines Ihrer Übersetzer ins Deutsche haben Sie für Ihre engeren Landsleute im Kaukasus »die Eintrittskarten in die Weltliteratur gelöst": für heute 90 000 Abchasen, die unter Stalin zwangsgeorgisiert wurden und deren nationale Intelligenz der eigene Landsmann Berija vernichten ließ. Welche besondere Rolle hat Stalin für die kaukasischen Völker gespielt?

ISKANDER: Kaum eine andere als für die anderen Nationalitäten: die eines politischen Tyrannen. Er schuf die Atmosphäre einer riesengroßen Angst, und in diesem Klima wurde alles auf Phrasen reduziert: Da war es dann einfach, zu sagen, alle Völker lebten in Freundschaft miteinander und die nationale Frage sei bei uns gelöst. Diese allgemeine und _(Im Februar. Plakat-Aufschrift: »Wir sind ) _(keine Gruppe, wir sind ein Volk«. )

allgegenwärtige Furcht verdrängte tatsächlich die nationale Unzufriedenheit ins Unbewußte - aber nur deshalb, weil die Menschen mit dem unmittelbaren Überleben beschäftigt waren.

SPIEGEL: Auch Ihre nationalstolzen Abchasen?

ISKANDER: Es gab Ausnahmen. 1946/47, als die abchasischen Schulen geschlossen wurden, haben einige Intellektuelle tatsächlich einen Brief an Stalin geschrieben und diese Zwangsgeorgisierung verurteilt. Obwohl sie ihre Kritik freundlich formulierten, riskierten sie damit ihr Leben.

SPIEGEL: Hatte die Eingabe Folgen?

ISKANDER: Nein, weder so noch so. Die Briefschreiber erhielten eine Parteirüge, blieben aber sonst unbehelligt. Und an den antiabchasischen Maßnahmen änderte sich auch nichts.

SPIEGEL: Ihre literarischen Helden, die Bewohner des abchasischen Bergdorfes Tschegem mit ihrer philosophisch-listigen Distanz zur großen Politik, nennen Lenin den »Mann, der Gutes wollte, aber nicht genug Zeit hatte«. Wo sind die nichtrussischen Völker zu kurz gekommen in der Sowjet-Union?

ISKANDER: Exakt in den Bereichen, in denen auch das russische Volk zu kurz gekommen ist. Einerseits brachte ihnen die Revolution Verbesserungen im sozialen Bereich, im Bildungswesen; den Abchasen beispielsweise eine Schriftsprache und damit erstmals Bücher in Abchasisch, also gewissermaßen eine kulturelle Auferstehung. So ging es vielen kleinen Völkern, viele hatten wie wir nur eine Kultur mündlicher Überlieferung.

Aber bei den Abchasen gibt es ein Sprichwort: Der Bulle, der den Pflug für die Aussaat zieht, zertrampelt auch den Boden. Denn als diese kleinen Völker ein bestimmtes Kulturniveau erreicht hatten, sagte man ihnen: Halt, das reicht, mehr ist nicht nötig! Alles, was dann kam in der konterrevolutionären Stalin-Zeit - der Zwang, die Unterdrückung, die Zensur -, das erlebte gerade ein so freiheitliebendes Volk wie die Abchasen als ein paradoxes Drama.

SPIEGEL: Nun kommt aber mehr Bewegung in das Nationengefüge der Sowjet-Union, als den Regierenden lieb ist: Die Krimtataren wollen zurück in ihre alte Heimat am Schwarzen Meer, aus der sie die Stalinsche Sowjetmacht vertreiben ließ. Die Sowjetdeutschen machen sich für eine Wiederbegründung ihrer autonomen Republik stark. Welche Chancen räumen Sie all diesen Bestrebungen ein, den Status quo in der Nationalitätenfrage zu verändern?

ISKANDER: Diese Probleme sind dringend. Sie müssen gelöst werden, und zwar äußerst schnell. Leider hat sich bei uns eine schlechte Tradition eingebürgert: Wir bestrafen sehr rasch und oft ohne Grund, begnadigen aber nur äußerst langsam. Nehmen Sie das Beispiel der Meschketen, eines georgischen Stammes, der an der türkischen Grenze zu Hause war: Alle 200 000 Angehörigen dieses türkischsprechenden Volkes wurden in einer Nacht des Jahres 1944 nach Mittelasien deportiert, weil Stalin befürchtete, diese nationale Minderheit könnte der Türkei einen Vorwand liefern, in die UdSSR einzumarschieren.

Daran können Sie übrigens ein weiteres Mal sehen, was Stalin als Stratege wirklich taugte: 1944 war der Krieg für Deutschland bereits verloren, unsere Armeen marschierten Richtung Berlin, und niemandem, am allerwenigsten der Türkei, wäre es da noch eingefallen, die Sowjet-Union anzugreifen.

SPIEGEL: Auch die Meschketen wollen zurück in ihre Heimat?

ISKANDER: Selbstverständlich. Sie kämpfen seit über 40 Jahren dafür, wenn auch vielleicht bescheidener, nicht so lautstark wie manche anderen. Die Wiederherstellung der nationalen Gerechtigkeit ist in all diesen Fällen nicht so schwierig. Nur einem bürokratischen Gehirn erscheint das kompliziert, weil es sich angewöhnt hat, grundsätzlich alle Forderungen von unten zu ignorieren.

SPIEGEL: Gerade die kleineren Völker der Sowjet-Union mußten für die Modernisierung a la russe einen hohen Preis zahlen: Reduzierung ihrer Kulturen auf Folklore, Verlust der Traditionen und angestammten Lebensweise.

ISKANDER: Viele erlebten diesen Prozeß beschleunigter Zivilisation als Tragödie. Ein abchasischer Bauer zum Beispiel konnte einfach nicht verstehen, warum er plötzlich Kolchos-Mitglied werden mußte, er war nie Sklave, nie Leibeigener wie der russische Bauer, er hatte nie den Kapitalismus erlebt und war aufgewachsen in einer uralten Tradition der Gemeindeselbstverwaltung.

Deshalb haben die Abchasen die Revolution von 1917 auch gar nicht wahrgenommen. Alte Leute in dieser Region markieren den historischen Einschnitt noch heute mit den Worten: »Als die Kolchos-Zeit kam.« Doch die Kolchosen kamen erst 15 Jahre nach der Revolution und markierten eigentlich schon den Beginn einer konterrevolutionären Phase.

SPIEGEL: Gibt es einen russischen Chauvinismus im Umgang mit den übrigen Nationen der Sowjet-Union?

ISKANDER: Selbstverständlich gibt es solche Elemente des Chauvinismus bis heute, unter den Russen wie auch in den nichtrussischen Unionsrepubliken. Sie sind Folgen des ideellen Vakuums, unter dem wir so lange gelitten haben. Chauvinisten erhalten immer dann Zulauf, wenn eine verbindende, die Menschen einigende Idee fehlt. Das gilt für den antirussischen Nationalismus, und das gilt auch für nationalistische Auseinandersetzungen untereinander wie jetzt zwischen Armeniern und Aserbaidschanern.

Was nun den russischen Chauvinismus angeht, so geht er nicht von Moskau, nicht vom Kreml aus. Das wäre sogar weniger gefährlich. Aber er kommt von unten, von ganz unten, und findet nur bei einigen wenigen an der Spitze Unterstützung.

SPIEGEL: Fasil Abdulowitsch, Sie leben in Moskau, schreiben auf russisch und werden gespürt haben, wie sich russischer Nationalismus formiert, beispielsweise in der offen antisemitisch auftretenden Vereinigung »Pamjat«. Macht Ihnen das angst?

ISKANDER: Ich verstehe es einfach nicht. Nach meiner Auffassung hatten beispielsweise die deutschen Nationalisten in den zwanziger Jahren weit

mehr Gründe, sich zu formieren, als die russischen heutzutage.

SPIEGEL: Warum?

ISKANDER: Nun, der Friedensvertrag von Versailles war alles andere als gerecht, die Sünden der kaiserlichen Regierung wurden dem deutschen Volk angelastet, und es begann eine ökonomische Ausplünderung Deutschlands - unter solchen Bedingungen muß Nationalismus geradezu gedeihen. Aber wir verurteilen jede nationalistische Einseitigkeit und betonen immer wieder, daß ein vernünftiger Mensch solche Bewegungen nicht unterstützen kann.

SPIEGEL: Aber Ihr Kollege Walentin Rasputin hat unlängst nicht nur gegen die Zerstörung der russischen Seele durch Rock-Musik gewettert, sondern auch Verständnis für die »Pamjat«-Leute geäußert: Sie hätten gute Gründe für ihren Extremismus.

ISKANDER: Man muß wissen, daß sich hier eine schlimme und letztlich unbeherrschbare Kraft entwickeln kann, die zu entsetzlichen Bluttaten fähig ist, wie wir aus der Geschichte wissen. Selbstverständlich soll man die Gründe kennen und studieren, die zur Herausbildung von Chauvinismus führen, aber ebenso entschieden muß man sich dann mit solchen Gruppierungen auseinandersetzen. Leider hat »Pamjat« bisher noch kein Programm vorgelegt. Man weiß also gar nicht, was diese Leute überhaupt wollen - außer, daß sie mit einem schrecklichen Feuer spielen.

SPIEGEL: Haben Sie sich über die Unruhen in Transkaukasien durch die Medien ausreichend unterrichtet gefühlt? Oder ist nicht das Glasnost-Versprechen einer umgehenden, ausführlichen und ungeschminkten Information abermals gebrochen worden, etwa wie nach der Katastrophe von Tschernobyl?

ISKANDER: Ehrlich gesagt, weiß ich vieles nicht. So behaupten zum Beispiel manche Leute, es habe mehr Todesopfer gegeben. Natürlich muß es über solche Vorgänge eine genaue Information geben, unmittelbar und hundertprozentig.

SPIEGEL: Warum eigentlich diese Ängstlichkeit und Schweigsamkeit? Ist der Vielvölkerstaat Sowjet-Union unter russischer Hegemonie vielleicht doch eine historische Fehlkonstruktion, dazu verurteilt, früher oder später an inneren Widersprüchen zu scheitern?

ISKANDER: Russische Hegemonie - das ist mir zu formal. Die russische Kultur ist eine große humanistische Kraft. Ihr Einfluß hat sich für viele Völker der Sowjet-Union als nützlich erwiesen. Und heute geht es nicht um irgendeine Unterdrückung der Nichtrussen durch die Russen, sondern um die gemeinsame Befreiung aus den Zwängen und von den Irrtümern der Vergangenheit. Wir sind gemeinsam viele Jahrzehnte lang in die falsche Richtung gegangen, . . .

SPIEGEL: Aber in manchen Unionsrepubliken wurden die Fehler, Mißerfolge

und Niederlagen immer Moskau und den Russen angelastet.

ISKANDER: Die soziale Sackgasse, in die wir gelaufen sind, hat natürlich bei vielen die Illusion gefördert, regionale Probleme würden sich besser und schneller lösen lassen, wenn man nur die Russen los wäre. Ich halte das für eine Fehleinschätzung, einmal ganz abgesehen davon, daß sich bei solch einer Auflösung und Loslösung manche Völker möglicherweise gleich gegenseitig umbringen würden.

SPIEGEL: Der neue Regionalismus, das gewachsene nationale Selbstbewußtsein - helfen sie der Perestroika oder liefern sie eher Argumente für Umgestaltungsgegner, die Angst vor der Anarchie schüren?

ISKANDER: Ich fürchte, zunächst einmal profitieren die Feinde der Perestroika von diesen Erscheinungen. Doch zugleich und langfristig mobilisieren sie das Bewußtsein dafür, wie ungeheuer groß die Zahl unserer ungelösten Probleme in Wirklichkeit ist. Das Problembewußtsein wächst, die ganze Wahrheit kommt auf den Tisch, zugleich erhalten die Gegner Argumente für ihre Angst-Kampagne. Natürlich fürchten sie nicht wirklich Anarchie, sondern den Verlust der eigenen Privilegien.

Nur eine noch entschiedenere Demokratisierung, eine noch konsequentere Rückkehr zur Wahrhaftigkeit, eine noch breitere Verwirklichung der Bürgerfreiheiten kann die Menschen an der Basis davon überzeugen, daß ein nationalistischer Weg in eine neue Sackgasse führt.

SPIEGEL: Was muß als nächstes geändert und neu geregelt werden?

ISKANDER: Es muß auch auf diesem Gebiet deutlich und glaubhaft werden, daß wir uns auf dem Weg zu einem absoluten Rechtsstaat befinden. Das aber bedeutet, daß die Probleme der Krimtataren, der georgischen Meschketen, der Sowjetdeutschen unverzüglich und gerecht gelöst werden müssen.

Und natürlich muß über die Karabach-Region entschieden werden: Da sie mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird, sollte es die Möglichkeit einer Vereinigung mit der armenischen Republik und eines Kompromisses mit Aserbaidschan geben. Statt einer Fortsetzung der alten geheimen Kabinettspolitik aus Stalins Zeiten müssen offene Diskussionen stattfinden, sowohl aserbaidschanische als auch armenische Historiker zu Wort kommen.

SPIEGEL: Und wie steht es mit dem Volk, sollte das nicht darüber abstimmen dürfen, was es wirklich will?

ISKANDER: Wie eine solche Abstimmung in Karabach ausfiele, ist klar: Dort wohnen zu 80 Prozent Armenier.

SPIEGEL: Sollte eine kluge Führung dem nicht Rechnung tragen?

ISKANDER: Ich bin Schriftsteller und glaube an die Vernunft. *KASTEN

Fasil Abdulowitsch Iskander *

stammt aus einer halb persischen, halb abchasischen Handwerker-Familie in Suchumi am Schwarzen Meer. Nach Literaturstudium und journalistischer Tätigkeit veröffentlichte er 1957 seinen ersten Lyrikband, dann Erzählungen und Romane um seinen abchasischen Bauernhelden Sandro, auf Deutsch erschienen im S. Fischer Verlag - und zwar mit jenen Stalin-Passagen, die in der sowjetischen Ausgabe gestrichen waren. Wie Held Sandro vor Stalin und Berija tanzt, zeigt ein Gemälde des Ukrainers Nikolai Nedbailo, das in Iskanders Moskauer Wohnung hängt. Iskander, 59, schreibt in Russisch.

Im Februar. Plakat-Aufschrift: »Wir sind keine Gruppe, wir sind einVolk«.

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