POLEN »Es ging nie um die Macht«
Touraine, 80, gilt als einer der bedeutendsten französischen Soziologen. Er war Vertrauter jener polnischen Oppositionellen, die vor 25 Jahren Solidarnosc gründeten, die erste vom kommunistischen Machtapparat unabhängige Gewerkschaft des ehemaligen Ostblocks. Touraine begleitete die Arbeit der Solidarnosc-Führer während der Jahre des Kriegsrechts bis hin zum Runden Tisch, an dem 1989 das Ende der Ein-Parteien-Herrschaft verabredet wurde.
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SPIEGEL: In diesem Monat feiern die Polen die Gründung der Solidarnosc vor 25 Jahren. Sie waren damals in Danzig dabei. Waren die Ereignisse dort wirklich der Anfang vom Ende des Ostblocks?
Touraine: Das waren sie - und waren es auch wieder nicht. Die Leute von Solidarnosc nannten ihre Bewegung eine »sich selbst beschränkende Revolution«. Sie wollten und konnten nicht zur Entscheidungsschlacht gegen den Kommunismus antreten. Ihnen ging es zunächst einmal um ganz konkrete soziale Zugeständnisse.
SPIEGEL: Es war also ursprünglich eher eine Reformbewegung. Was hat die Solidarnosc so besonders stark gemacht?
Touraine: Dass sie trotz ihres pragmatischen Ziels einen universellen Anspruch hatte. Sie war Ausdruck der Opposition gegen eine fremde Macht - die Sowjetunion -, gegen ein undemokratisches, ineffizientes System. Sie war Gewerkschaft und demokratische Bewegung in einem. Wie den Polen im 19. Jahrhundert ging es ihren Mitgliedern bald darum, eine Identität als Nation zu finden: »Ich bin Pole« - das war das wichtigste Bekenntnis der Solidarnosc-Mitstreiter. Es ging nie darum, die Macht zu ergreifen.
SPIEGEL: Waren sich Leute wie Lech Walesa damals bewusst, wie sehr sie die Grundfesten des kommunistischen Systems erschütterten?
Touraine: Walesa ist kein sehr kluger Mann, der ahnte es sicher nicht. Aber er war trotzdem ein hervorragendes Symbol, er repräsentierte den Charakter der Bewegung. Die Gewerkschaft Solidarnosc erhielt ihre historische Bedeutung dadurch, dass sie den Widerstand der intellektuellen Dissidenten und den Protest der Arbeiter bündelte und dann auch noch von der katholischen Kirche unterstützt wurde. Dennoch war Solidarnosc keine Gruppierung mit einer klaren politischen Strategie. Sie war vor allem eine vom Gefühl geprägte Bewegung.
SPIEGEL: Nach dem Prager Frühling und dem Einmarsch der Ostblock-Panzer 1968 folgte eine neue Eiszeit in der Tschechoslowakei. Warum ist nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981 in Polen nicht Ähnliches passiert?
Touraine: Für ein totalitäres System ist es unvorstellbar, dass Menschen frei sprechen und denken. Aber gerade das hatten die Polen mit Hilfe der Solidarnosc gelernt. Das freie Wort war aus dem Untergrund in die Welt gelangt. Die Polen hatten sich als historisches Subjekt gefunden, das ließen sie sich auch mit noch so viel Repression nicht mehr nehmen. Deshalb konnten die Kommunisten das Rad nicht mehr zurückdrehen. Aus Angst davor hatten die Russen auch schon sehr früh signalisiert, dass sie die Bewegung auf jeden Fall wieder loswerden wollten. Die Solidarnosc-Leute wussten das. »Wann kommen die Panzer?«, fragte sich damals jeder.
SPIEGEL: Hat die Verhängung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski das Land vor einer womöglich blutig verlaufenen Invasion des Warschauer Pakts gerettet? War die Niederschlagung des polnischen Aufstandes also ein patriotischer Akt, wie heute viele behaupten?
Touraine: Als Entschuldigung kann ich das nicht akzeptieren. Es ist doch für die Menschen völlig egal, wer der Unterdrücker ist. Außerdem wurde auch der Jaruzelski-Staatsstreich als sowjetische Intervention wahrgenommen. Der General war immer ein stiller Mann mit bedrohlicher Ausstrahlung - er repräsentierte die Macht hinter dem Vorhang. Moskau stand ja tatsächlich hinter ihm. Bestenfalls könnte man sagen, dass die Unterdrückung vielleicht nicht ganz so brutal ausfiel wie bei einer wirklichen Invasion.
SPIEGEL: Trotz der historischen Verdienste der Solidarnosc geben heute alte kommunistische Seilschaften in der Wirtschaft wieder den Ton an. Was ist da schief gelaufen?
Touraine: Der Kommunismus war ein schreckliches System. Haarsträubend aber war auch, wie der Kapitalismus Polen eroberte. In Warschau treffen heute die
schlimmsten Seiten eines abgehalfterten Kommunismus und die schlimmsten Seiten eines rücksichtslosen Kapitalismus zusammen. Oft wurde aus einem kommunistischen Direktor über Nacht ein kapitalistischer Manager und Milliardär. Ich hoffe, dass Polen - auch durch den Einfluss der EU - endlich zu einem zivilisierteren Land wird.
SPIEGEL: Schlammschlachten angesichts wirklicher oder vermeintlicher Stasi-Verbindungen von Politikern und Managern bestimmen jetzt das politische Leben an der Weichsel. Hätten die Polen nicht - wie in der ehemaligen DDR geschehen - die alten Eliten radikal entmachten und die Stasi-Vergangenheit aufarbeiten sollen?
Touraine: Es ist sehr schwer, ein totalitäres in ein demokratisches System umzuwandeln. Der Preis dafür ist sehr hoch. Die Solidarnosc-Aktivisten mussten 1989 den Umbruch ohne Ausbrüche von Gewalt schaffen. Deshalb wurden die Kommunisten auch viel stärker an der Macht beteiligt, als Solidarnosc ihnen eigentlich zugestehen wollte. Ich fürchte, dazu gab es keine Alternative.
SPIEGEL: Vor gut einem Jahr ist Polen der EU beigetreten. Konnten die Solidarnosc-Führer seinerzeit hoffen, eines Tages wieder zu Europa zu gehören?
Touraine: Die Polen, vor allem die in der Solidarnosc, haben sich kulturell immer als Teil Europas verstanden. Wir sind europäisch, aber uns unterdrückt eine dunkle Macht aus dem Osten - so sahen es viele Solidarnosc-Mitglieder. Ich war in Polen, als das Land 1999 der Nato beitrat. Da habe ich erstmals die Menschen über alle gesellschaftlichen Gräben hinweg fröhlich erlebt. Der Wunsch nach militärischem Schutz vor Russland eint noch immer alle Polen.
SPIEGEL: Aber heute sind es doch vor allem Politiker aus dem alten Solidarnosc-Lager, die sich überaus EU-kritisch gebärden.
Touraine: Die EU ist nur ein Ausdruck Europas. Die Polen wurden von ihr oft wie Unterlegene behandelt. Sie waren die Bittsteller, sie erwarteten Geld aus Brüssel. Deshalb setzen sie auch weiter vor allem auf die USA, von denen sie noch nie so herablassend behandelt wurden. Aber ich glaube, die Brüsseler Subventionen werden den Polen helfen, sich in der EU einzugewöhnen.
SPIEGEL: Ist vom Geist der Solidarnosc etwas geblieben im heutigen Polen?
Touraine: Ich fürchte nicht. Polen ist heute eine gesellschaftliche Wüste. Es war damals sehr bewegend zu sehen, wie die Menschen zu sich fanden und die Demokratie durchsetzten. Heute ist das historische Bewusstsein sehr gering. Solidarnosc ist eine der wenigen schönen, positiven Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Ich habe viele soziale Bewegungen studiert, doch nie war ich so beeindruckt wie von der Solidarnosc. INTERVIEW: ROMAIN LEICK, JAN PUHL