SOWJET-UNION Es ist Fasching
Eigentlich hatte Wade Evan Roberts, 22, im westdeutschen Gießen so wenig zu suchen wie im 4300 Kilometer entfernten Aschchabad, der Hauptstadt von Sowjetisch-Turkmenien. In die hessische Provinz geriet er als US-Soldat des 3. Bataillons der 79. Field Artillery, unter die Turkmenen als politischer Asylant von Gnaden des Obersten Sowjet.
Am 2. April hatte Moskaus außenpolitischer Sprecher Gennadij Gerassimow den Übertritt des amerikanischen Gemeinen Roberts samt seiner deutschen Freundin Petra Neumann, 24, eher beiläufig bekanntgemacht. Mit feiner Ironie und deutlicher Distanz vermied es der weltläufige Gerassimow freilich schon damals, aus dem kleinen GI die große Propagandanummer zu machen.
Und das war weise gehandelt. Denn jetzt möchten die beiden Emigranten am liebsten wieder weg aus der Sowjet-Union. An einem dieser Herbsttage sprachen sie bei der DDR-Botschaft in Moskau vor, um die Chancen für ein ostdeutsches Asyl auszuloten, »denn von dort aus«, so Roberts, »kann ich meinen Kampf gegen die U.S. Army besser führen«. An einem anderen Tag sondierten sie bei US-Diplomaten, was dem Deserteur wohl passiere, wenn er unters Sternenbanner zurückkehrte.
Doch Ende letzter Woche schien die abenteuerliche Reise des Ex-Artilleristen und seiner schwangeren Freundin überraschend ihren Abschluß gefunden zu haben. Die Ostdeutschen sagten den beiden zu, daß sie ihr Asyl etwas nach Westen, in die DDR, verlegen dürfen. Die Amerikaner müssen nun nicht mehr so tun, als sei ihnen das Schicksal der Ausreißer auch nur einen Gedanken wert.
Begonnen hatte die Wanderung zwischen zwei Welten in Deutschland-West zur Karnevalszeit. Da geriet Roberts mit seinen Militäroberen über Kreuz, wurde mit Sonderdienst, Stubenarrest und schließlich sogar einem Verfahren überzogen, zu dem er eigens nach Mannheim eskortiert werden sollte. Nach einer Keilerei mit Torwächtern, die ihn nicht gehenlassen wollten, entwich er beißend und um sich schlagend aus Caspar Weinbergers Gießener Kolonie und fand in Wetzlar bei Freundin Petra Unterschlupf.
Ein erster Anruf bei der Sowjetbotschaft in Bonn brachte wenig mehr als einen Lacherfolg: »Die meinten nur, ja, ja, wir wissen, es ist Fasching«, wundert sich Roberts noch heute. Ein persönlicher Besuch des Pärchens im sowjetischen Diplomatenquartier sorgte dann aber doch noch für den entscheidenden Tip: Direkt helfen könne man nicht, lautete der zurückhaltende russische
Rat, aber wenn man mit eigener Kraft außer Landes komme, gebe es ja auch noch eine sowjetische Mission in Ost-Berlin.
Immerhin - in ihrer Botschaft Unter den Linden machten die Sowjets eine Arbeiterwohnung für die Asylanten frei und schmückten sie mit Blumen. Der Empfang fiel dermaßen herzlich aus, daß er Roberts' Weltbild nachhaltig durcheinanderbrachte.
Doch mit der endgültigen Entscheidung, ob den beiden West-Flüchtern ein warmes Plätzchen im Sowjetland zu gewähren sei, ließen sich die Russen drei lange Wochen Zeit. »Nach militärischen Informationen haben sie zwar auch gefragt, aber nicht sehr interessiert«, erinnert sich Roberts, »ich weiß ja auch nichts Wichtiges, ein Zelt mit Armeetelephonen ist so ziemlich das Geheimste, was ich je gesehen habe.«
Schließlich aber fragten die Moskowiter denn doch; wo im großen Sowjetland die beiden denn gern leben möchten und welche Art von Arbeit ihnen angenehm sei ?
»ICH mag Tiere wirklich sehr«, ließ Roberts seine verblüfften Gesprächspartner wissen, »Fische, Vögel, Löwen, Wölfe. Alles, außer Schlangen.«
Und schon tags darauf, noch in Berlin, hörte der Ex-GI im vom Westen herüberstrahlenden US-Soldatensender AFN endlich die Nachricht von seiner Desertion und zugleich, daß der Oberste Sowjet ihm und seiner Freundin politisches Asyl gewährt habe.
Drei Tage später landeten sie in Moskau, von Vertretern des örtlichen Roten Kreuzes fürsorglich in eine Suite des Hotels »Budapest« und dann zum ersten Tass-Gespräch geleitet. Dabei langte Roberts gegenüber seinem ehemaligen Arbeitgeber kräftig zu: »Menschenwürde und Menschenrechte« würden in der US-Armee systematisch »verhöhnt, Haßgefühle gegenüber anderen Ländern und Völkern erzeugt, besonders gegenüber der Sowjet-Union«.
Nach Ausfertigung von Fremdenpässen fanden die Zuwanderer ihre neue Heimat in Turkmenien, laut Eigenwerbung ein »Land mit hochentwickelter Industrie und Landwirtschaft, fortgeschrittener Wissenschaft und Kultur«.
Roberts' Tierliebe qualifizierte ihn für eine ökologische Nische zwischen alledem: Am Rande der Wüste Karakum, eine Stunde Busfahrt von der zugewiesenen Neubauwohnung im Zentrum von Aschchabad entfernt, erfreute ihn sein Gastland mit einer Aufgabe als Tierfänger und Laborassistent - auf einer Schlangenfarm .
Dort traf der Mann aus Kalifornien auf fünf einheimische Kollegen, die mit ihren paar Brocken Englisch seiner Sprache immer noch mächtiger waren als er der ihren, und ein hübsches Sortiment von Sandrassel- und Levante-Ottern, weiteren Vipern, Kobras und Giftnattern. Manche davon, lernte Roberts verfügen schon als Neugeborene über den tödlichen Biß.
Der West-Mensch erhielt den landesüblichen Monatslohn von 120 Rubel, weitere 400 Rubel legte laufend das Rote Kreuz dazu - für sowjetische Verhältnisse ein Spitzeneinkommen, mit dem sich mancher Professor oder Parteifunktionär gern in die Wüste schicken ließe.
Die Fremden indessen zeigten sich bei aller grundsätzlichen Dankbarkeit alsbald mäklig: Das Mobiliar der Wohnung, für die sie keine Kopeke Miete zahlten, war ihnen »in zu aufdringlichem Rot gehalten«; den turkmenischen Hammel fanden sie ungenießbar, zumal der mitten auf der Straße vor ihrer Wohnung abgestochen wurde. Die Sehnsucht nach Schweinefleisch wurde unüberwindlich, Milchprodukte fehlten ihnen ebenso wie andere Annehmlichkeiten der westlichen Konsumwelt, etwa eine Toilette.
Während Tass meldete, die beiden Asylanten fühlten sich als »die glücklichsten Menschen auf der Erde«, sei sie - so Petra Neumann heute - »so unglücklich gewesen wie noch nie in meinem Leben«. Und der Ami ergänzt: »Ich haßte diesen verdammten Ort. Wir wollten einfach zurück, nach Moskau, nach Europa.«
Dabei hatten die Offiziellen zu Aschchabad sich solche Mühe gegeben die schwierigen Neubürger zufriedenzustellen, auch wenn sie dabei manchmal des Guten etwas zuviel taten. So wurden die beiden, um die Registrierung ihres Kindes vorzubereiten, auf das örtliche Standesamt bestellt, wo zu ihrem Erstaunen Festredner, Musikanten und Photographen aufgeboten waren.
Nach der Zeremonie war ihr Paß plötzlich um einen Stempel reicher, von dem sie erst später herausfanden, daß er ihre ungewollte und unbemerkte Eheschließung bezeugt. »ICH kann Wade doch gar nicht heiraten«, stöhnt die in Deutschland noch mit einem Herrn Neumann verehelichte Petra, »jetzt haben mich diese blöden Turkmenen zur Bigamistin gemacht.«
Frustriert kehrte das Paar nach Moskau zurück und brütet seither über der schwierigen Aufgabe, den Ost-Ausflug einigermaßen in Ehren zu Ende zu bringen.
»Die Sowjets«, beteuert Roberts, als spräche er noch immer von einem fernen Volk, »machen uns keinerlei Schwierigkeiten; sie sagen, wir könnten gehen, wohin wir wollen.« Nun fehlen nur noch die Ausreisevisa.