Zur Ausgabe
Artikel 2 / 76

»Es kann so viel zerstört werden«

aus DER SPIEGEL 28/1979

Nach der Wahl von Franz Josef Strauß zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU ließ SPD-Fraktionschef Herbert Wehner Ende letzter Woche allen SPD-Abgeordneten »Überlegungen zur Entwicklung in der 'Union'« zukommen. Auszüge:

Zwar ist es unvermeidlich, auch über die Person zu reden, die sich nach einem nahezu zehnjährigen, erbitterten Kampf den eigenen »Freunden« als die nicht mehr kontrollierbare und nicht mehr zu bremsende »Nummer 1« aufgezwungen hat. Aber es wäre ein schwerwiegender, möglicherweise auf viele Jahre nicht mehr wiedergutzumachender Fehler, wenn Sozialdemokraten sich darauf konzentrierten, über das skandalreiche Leben eines alternden Machiavellisten zu reden, in Notwehr auf Gegenpropagandaformeln zu setzen oder an der Richtigkeit der eigenen Überzeugungen zu zweifeln. Es geht um mehr als um die Wahlchancen der miteinander konkurrierenden Parteien. Wenn schon in Zeiten, die mit dem Wort »Krise« eigentlich zu einfach und zu dramatisch beschrieben sind, der Gedanke an Alternativen »im Grundsätzlichen« zu einer organisierten politischen Kraft werden kann, dann sind Sorgen um die Stabilität der Demokratie nötig.

Wenn sich die Sozialdemokraten dieses Ernstes der Lage nicht bewußt und gewachsen zeigen würden, dann kann so viel zerstört oder grundlegend verändert werden, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr wiederzuerkennen sein wird.

Auf diese schiefe Bahn darf der freiheitlich verfaßte Teil unseres Vaterlandes nicht kommen, weil er den geschichtlichen Auftrag hat, Treuhänder der deutschen Fragen zu sein und für die zugleich friedliche und demokratische Vollendung der Einheit der Nation einzustehen und zu wirken.

Es wird viel Anstrengung kosten, sich nicht irre machen zu lassen. Taktische Manöver vielfältigster Art und raffiniertester Abfolge sind denkbar und zu erwarten. Denn der Kandidat wird wissen, daß es vielen Bürgerinnen und Bürgern kalt den Rücken herunterläuft, wenn sie an seinen Durchmarsch zur Macht denken. Ist es also erstaunlich, wenn er sich salben und parfümieren wird? Verzichtet er jetzt großmütig darauf, Kohl oder Geißler weiter auf dem Hackklotz zu behandeln? Stellt er jetzt sein rhetorisches Waffenarsenal um von Fallgruben und Raketenwerfern auf Leuchtkugeln und gedämpften Trommelwirbel?

Zwar kann ich mir keine Werbeagentur vorstellen, die erfindungsreich und geschickt genug sein könnte, um aus einer Planierraupe eine schnittige Limousine zu machen. Keiner kann auf die Dauer aus seiner Haut oder unter eine Tarnkappe. Aber wird es dennoch versucht werden, um Verwirrung zu stiften und die lange Zeit der kommenden 15 Monate zu überstehen?

Doch dies werden vordergründige Vorgänge sein. Entscheidend ist: Hier hat sich kein normaler Vorgang abgespielt, wie es die Nominierung eines Gegenkandidaten üblicherweise ist; vielmehr hat mit der Nominierung eine Entwicklung ihren Schlußpunkt in Form personeller Repräsentation gefunden, die viele Jahre zurückreicht. Es handelt sich um die Umformung der Volkspartei der Mitte »Union« in einen antisozialdemokratischen Kampfverband der Rechten, in dem liberale und christlich-soziale Kräfte als werbewirksame Ergänzung geduldet, vielleicht sogar gewünscht werden, solange sie keinen hemmenden Einfluß auf den strategischen Kern ausüben können.

Das entscheidende Programmdokument für die Opposition ist die Sonthofener Rede geworden. Es ist ein Dokument der umfassenden innenpolitischen Feindschaftserklärung und brutaler Alleinvertretungsansprüche. Es beschreibt eine Methode des Machtkampfes um

seiner selbst willen, eher noch: um eines Mannes willen. Nicht programmatische Ziele und wertgebundene Überzeugungen bestimmen die Wahl des politischen Weges, sondern Techniken, wie man die Sozialdemokratie ins demokratische Abseits pressen und auf Dauer isolieren müsse.

Wenn es jemals ein Dokument von Gewicht in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, das den Namen vordemokratisch verdient, dann ist es diese Rede. Unser Gemeinwesen soll krank geredet, mürbe agitiert, bis zur Sachblindheit verwirrt werden, damit die CDU/CSU von der Notwendigkeit befreit werden kann, sich selbst kritisch zu überprüfen und zu erneuern.

Was das bedeutet, erschließt ein Blick auf die kommenden Jahre. Wir stehen vor Herausforderungen, die existenzgefährdend werden können. Wenn es nicht gelingt, die Spirale des Wettrüstens an weiteren Umdrehungen zu hindern, wird die technische Revolutionierung der Waffen politisch unbeherrschbar werden und neue, schlimmere Formen des Kalten Krieges erzeugen, mit dem Risiko des Umschlags in heiße Kriege. Wenn es nicht gelingt, Rüstungskontrolle und schließlich auch Rüstungsbegrenzungen zu praktizieren, werden den Völkern die finanziellen Mittel fehlen, die unabdingbar sind, um dringend nötige Zukunftsinvestitionen vorzunehmen.

Ohne vermessen zu sein, ist es wohl richtig, auf die besondere Verantwortung eines der wirtschaftlich stabilsten Länder hinzuweisen, die Bundesrepublik Deutschland. Auch viele, die nicht Sozialdemokraten sind, bescheinigen der von Bundeskanzler Helmut Schmidt geleiteten Bundesregierung kluge Führung, klares Handeln und verantwortliche Entscheidungen.

Die Parteigruppierung des Sonthofener Programms dagegen setzt auf Führung durch Angst, auf Verdächtigung und autoritäres Durchpauken. Mit großen Vereinfachungen kann man die Zukunft nur verstellen, nicht jedoch Wege aus der Gefahr öffnen und begehbar machen. Mit der Nominierung ihres jetzigen Kanzlerkandidaten hat sich die CDU/CSU endgültig für den Weg entschieden, der demokratischen Erfordernissen am wenigsten entspricht.

Wer innenpolitische Feindverhältnisse ausruft und praktiziert, schädigt die Fähigkeit unseres Gemeinwesens zu sachgerechten Lösungen. Wenn wir den Willen zur Vollendung der Einheit

der Nation nicht aufgeben wollen, müssen wir die Propagandisten innenpolitischer Feindverhältnisse am Erfolg hindern. Unser geteiltes, Land ist in dieser Hinsicht verletzlich wie kein anderes. Wohlverstandener Patriotismus ist unvereinbar mit innenpolitischen Feindverhältnissen.

Viel zu leicht genommen wird das Herumbohren an der Interessenvertretung der arbeitenden Menschen, den Gewerkschaften. Was da an verschiedenen »Maßnahmen« aufgeschrieben und zur Nutzung empfohlen wird, stellt den Versuch dar, die sozialen Kräfteverhältnisse erheblich und dauerhaft zu den Arbeitgeberverbänden hin zu verschieben und damit die soziale Balance unserer Gesellschaft zu zerstören, die eine entscheidende Grundlage für demokratische und staatliche Stabilität ist. Ohne die Zersplitterung der Gewerkschaften wäre die Weimarer Republik nicht zerstört worden. Es ist die Pflicht der in Betrieben und Gewerkschaften aktiven Frauen und Männer, diesen Dirigierversuchen von oben die Grundlage zu entziehen.

Überhaupt kommt es jetzt an vielen Stellen darauf an, Grundlagenarbeit für unser Gemeinwesen zu leisten. Ich denke etwa an die vielen tausend Kommunalpolitiker. Auf diese Ebene demokratischer Aktivität ist die Sonthofener Methode noch nicht überall durchgeschlagen. Also soll man, ohne sachliche Gegensätze zu verkleistern, es unvermeidlich machen, daß bei CDU- und CSU-Mandatsträgern ein Bewußtsein geschaffen wird für den Wert von Volksparteien. Von dort her muß die Erneuerung der aus der Mitte verschwundenen C-Partei personell wachsen, jedenfalls als eine Option auf die Zukunft gepflegt werden.

Wie die Dinge stehen, sind allerdings einstweilen innerhalb der C-Partei weder Kräfte dafür vorhanden, Versuchen mit vierten Parteien und fünften Kolonnen zu widerstehen, noch Ansätze für Widerstand gegen die programmatische Entwicklung der letzten Jahre stark genug. Die Wende kann eigentlich nur noch von außerhalb kommen.

Nur die Wählerinnen und Wähler haben es noch in der Hand, ob die jetzt abgeschlossene Entwicklung der letzten zehn Jahre ein Dauerzustand wird. Schneidende Wahlniederlagen sind das einzige noch verbliebene Mittel zur Reform der CDU/CSU.

Daß die Wähler diese Chance nutzen können, hängt von uns Sozialdemokraten sehr stark ab. Wenn wir uns auf die eine Person festnageln lassen, anstatt zu sehen und zu verdeutlichen, daß diese Person nur das personelle Symptom eines Zustandes ist, der sich seit etwa zehn Jahren Schritt für Schritt entwickelt hat, dann werden wir versagt haben.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 2 / 76
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren