»Es verschlug mir die Sprache«
12. JUNI 1989
Michail Gorbatschow besucht die Bundeshauptstadt. Er führt dort mit Kohl ein Gespräch, das nach dessen Auffassung »von entscheidender Bedeutung für die Sache der Deutschen werden sollte«.
Es war schon nach Mitternacht, als der Generalsekretär und ich beschlossen, noch etwas im Park spazierenzugehen. Nur der Dolmetscher war dabei, als wir hinunter in Richtung Rhein liefen. Dort setzten wir uns auf die Mauer, von der aus man diesen schönen Blick auf den vorbeifließenden Strom und das gegenüberliegende Siebengebirge hat. (...)
Es war die ideale Voraussetzung für ein sehr offenes, freundschaftliches Gespräch. Wir waren einer Meinung, daß wir die deutsch-sowjetischen Beziehungen auf eine neue Basis stellen müßten, wenn sich die Lage in Europa zum Besseren wenden solle. Daraus entwickelte sich der Gedanke, daß man einen Vertrag schließen müsse, in dem die Deutschen und die Sowjetunion zwar keinen Schlußstrich unter die Vergangenheit zögen, aber eine neue Perspektive für die Zukunft entwickelten. Ein solcher Vertrag - wir nannten ihn den »großen Vertrag« - würde von den Menschen in beiden Staaten gewiß begrüßt werden. (...)
Ich zeigte auf den Rhein und meinte: »Schauen Sie sich den Fluß an, der an uns vorbeiströmt. Er symbolisiert die Geschichte; sie ist nichts Statisches. Sie können diesen Fluß stauen, technisch ist das möglich. Doch dann wird er über die Ufer treten und sich auf andere Weise den Weg zum Meer bahnen. So ist es auch mit der deutschen Einheit.« (...)
Von diesem Zeitpunkt an, erinnert sich der Kanzler, habe bei seinem Gesprächspartner ein Prozeß des Umdenkens eingesetzt - Resultat vor allem einer menschlichen Annäherung.
Es war Gorbatschow anzumerken, daß auch er innerlich bewegt war. Friede war für uns beide nicht nur ein Wort, sondern ein existentielles Grundbedürfnis. Als das Ehepaar Gorbatschow schließlich den Bungalow verließ, umarmten wir uns zum Abschied. Für mich war dieser Abend ein Schlüsselerlebnis.
9. NOVEMBER 1989
Den historischen Fall der Mauer erlebt der Bonner Regierungschef auf Staatsbesuch in Warschau während eines abendlichen Festbanketts.
Johnny Klein trat an meine Seite und erläuterte mir mit knappen Worten die neueste Entwicklung. Er berichtete von der Bundestagssitzung, wo in einem spontanen Bekenntnis zur Einheit der Nation das Deutschlandlied gesungen worden sei. Ich wollte immer noch nicht glauben, was mir da gesagt wurde, fragte nach. Kurz darauf - es wird etwa 21 Uhr gewesen sein - rief ich Eduard Ackermann in Bonn an; er hatte mich schon während des Essens zu erreichen versucht und bei meinem Büroleiter Walter Neuer darauf bestanden, ich solle sofort ans Telefon kommen. Nun war er am Apparat. »Herr Bundeskanzler, im Augenblick fällt gerade die Mauer!« rief er begeistert ins Telefon. Ich sagte: »Ackermann, sind Sie sicher?« (...)
Es verschlug mir fast die Sprache.
Kohl entschließt sich, seinen Polen-Aufenthalt zu unterbrechen. Adlatus Ackermann hat ihm mitgeteilt, er solle anderntags in Berlin vor dem Schöneberger Rathaus sprechen.
Weil die Maschine der Bundesluftwaffe weder das Territorium der DDR überqueren noch in Berlin landen durfte, mußten wir zunächst über Schweden nach Hamburg fliegen. Während der anderthalb Stunden an Bord entwarf ich meine Rede. Als wir endlich in Hamburg landeten, war die Zeit schon sehr knapp geworden. Der Botschafter der USA in Bonn, Vernon Walters, war so freundlich, uns eine amerikanische Militärmaschine zur Verfügung zu stellen. (...)
Nachdem ich angekommen war, hastete ich mit meinen Begleitern die Treppen hinauf, wurde dann auf die enge Balustrade regelrecht hinausgeschoben, auf der sich Hans-Dietrich Genscher, Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel, Walter Momper und andere bereits eingefunden hatten. Unten auf dem John-F.-Kennedy-Platz tobte ein linker Pöbel, der mich mit einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert empfing.
Noch ehe der Redner das Wort ergreift, überbringt ihm Horst Teltschik eine Eil-Botschaft Gorbatschows.
Darin sprach der sowjetische Generalsekretär die Situation in Berlin an und bat mich, beruhigend auf die Menschen einzuwirken. Die Führung der DDR habe die Entscheidung getroffen, den Bürgern der DDR die freie Ausreise in die Bundesrepublik und nach West-Berlin zu ermöglichen. Diese Entscheidung sei der DDR nicht leichtgefallen.
Gorbatschow wollte außerdem wissen, ob Berichte zuträfen, wonach die Dinge in Berlin völlig aus dem Ruder liefen. Ja, ob es wahr sei, daß eine empörte Menschenmenge dabei sei, Einrichtungen der Sowjetarmee zu stürmen? (...) Erst später habe ich erfahren, daß Gorbatschow gezielt falsch informiert worden war: Reformgegner in KGB und Stasi wollten eine militärische Intervention der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen herbeiführen. (...) Ich stand eingezwängt auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses und hatte keine Möglichkeit, Gorbatschow persönlich anzurufen - zumal es so ausgesehen hätte, als würde ich vor dem Pöbel zurückweichen, wenn ich die Balustrade verlassen hätte. Ich habe Gorbatschow ausrichten lassen, er habe mein Wort, daß diese Befürchtungen nicht zuträfen. (...)
Wie Michail Gorbatschow mir später sagte, habe er daraufhin den Machthabern in Ost-Berlin unmißverständlich signalisiert, daß die Sowjetunion nicht wie am 17. Juni 1953 mit Panzern eingreifen werde. Ich bin Gorbatschow noch heute sehr dankbar dafür, daß er nicht den Scharfmachern Gehör geschenkt hat, sondern vernünftigen Argumenten zugänglich war.
11. NOVEMBER 1989
Erstmals telefonieren Helmut Kohl und Egon Krenz miteinander. Der DDR-Staatsratsvorsitzende rühmt die Öffnung der Mauer als Beweis für seine »Politik der Erneuerung im Interesse der Menschen«.
Im selben Atemzug brachte er zum Ausdruck, daß es jetzt sehr gut wäre, wenn überall Sachlichkeit, Berechenbarkeit und guter Wille an den Tag gelegt würden. Nach wie vor bleibe ja die Grenze. Sie solle durchlässiger gemacht werden. (...)
Ich hörte mir das an und verwies, nachdem ich Krenz zur Maueröffnung
beglückwünscht hatte, auf meine Berliner Reden, in denen ich immer wieder darauf hingewiesen hatte, daß jede Form von Radikalisierung gefährlich sei. (...)
Noch einmal unternahm Krenz einen Versuch, mich festzulegen. Er gehe davon aus, daß ich in einer Frage absolut mit ihm übereinstimme, nämlich der, daß gegenwärtig die Wiedervereinigung Deutschlands nicht auf der Tagesordnung stehe. Hierin konnte ich ihm natürlich nicht zustimmen. In dieser Frage war ich schon von meinem Grundverständnis und meinem Amtseid her völlig anderer Meinung.
Das Gespräch nahm ein skurriles Ende. Der SED-Chef fragte mich, wie denn mit der Pressemitteilung über das Telefonat verfahren werden solle. Ich antwortete: »Sagen Sie jetzt ganz einfach, wir haben ein intensives Gespräch geführt.« Krenz wiederholte militärisch knapp: »Ein intensives Gespräch.« Als ich hinzufügte, daß er auch sagen könne, wir setzten das Gespräch fort, wo notwendig telefonisch, antwortete er: »Fortsetzen, telefonisch.«
ENDE NOVEMBER 1989
Als Reaktion auf den Vorschlag von DDR-Ministerpräsident Hans Modrow, mit der Bundesrepublik eine Vertragsgemeinschaft zu bilden, versucht sich Kohl an einem Alternativ-Programm.
Ich hatte zu einer Runde in den Kanzlerbungalow gebeten. Mein engster Beraterstab und ich diskutierten zunächst über das ursprünglich vorgesehene Thema, wie wir unsere Öffentlichkeitsarbeit verbessern könnten. Wir durften Modrow nicht die Initiative überlassen. Sein Vorschlag zu einer Vertragsgemeinschaft klang zwar gut, war jedoch vor allem ein Ablenkungsmanöver, mit dem er den Druck in Richtung Einheit, der auf der SED-Führung lastete, abschwächen wollte.
Wir erörterten dann die Frage, ob wir dem Modrow-Vorstoß die weitergehende Idee einer Konföderation entgegensetzen könnten. Von sowjetischer Seite hatte es einige Tage zuvor Signale gegeben, daß Moskau sich dem nicht widersetzen würde. Aber mich störte daran, daß so die Zweistaatlichkeit festgeschrieben worden wäre.
Der Kanzler setzt eine Arbeitsgruppe unter Leitung seines Chefberaters Horst Teltschik ein. Am Wochenende des 25./ 26. November wird ihm ein erster Programmentwurf »Zehn Punkte für Deutschland« durch Fahrer nach Oggersheim geschickt, wo Kohl das Papier im Kreise seiner engsten Getreuen noch einmal überarbeitet.
Mit von der Partie waren außer meiner Frau auch die beiden Brüder Ramstetter, zwei Geistliche. Der eine ist pensionierter Studiendirektor, der andere Stadtdekan von Ludwigshafen. Die beiden hatten mir schon früher bei wichtigen Reden, wie zum Beispiel den Neujahrsansprachen, wertvolle Ratschläge gegeben. Außerdem telefonierte ich ein paarmal mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Rupert Scholz, einem hervorragenden Professor des Staatsrechts. Alle ihre Anregungen flossen in die Formulierungen ein, die meine Frau niederschrieb.
8. DEZEMBER 1989
Der Bundeskanzler fliegt nach Straßburg, wo die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft über die neue Lage beraten - und den Deutschen in Unruhe versetzen.
In all den Jahren, in denen ich Bundeskanzler bin, habe ich niemals einen EG-Gipfel in so eisiger Atmosphäre miterlebt wie diesen. Natürlich war ich mir stets bewußt, daß die Deutschen bei den meisten Europäern zwar als tüchtig und zuverlässig geschätzt werden, aber nicht sonderlich beliebt sind. Das hat etwas zu tun mit der Geschichte dieses Jahrhunderts. (...)
Obwohl ich dies alles wußte, war ich doch erstaunt über die fast tribunalartige Befragung, mit der ich in Straßburg konfrontiert wurde. Was mir bei der Vorstellung des Zehn-Punkte-Programms eigentlich durch den Kopf gegangen sei, wie man überhaupt auf den Gedanken kommen könne, eine solche Rede zu halten, wurde ich gefragt. (...)
Die Vorbehalte in Downing Street No. 10 waren am stärksten. Entgegen anderslautenden Gerüchten empfand ich Sympathie und Respekt für Margaret Thatcher. In vielen Sachfragen war ich allerdings völlig anderer Meinung als sie. Gegenüber den Deutschen hegte sie, wie viele aus ihrer Generation, ein tiefes Mißtrauen - und ich bemühte mich stets, mich in ihre Sicht der Dinge hineinzuversetzen. Es wollte ihr einfach nicht in den Sinn, daß Deutschland am Ende dieses Jahrhunderts, in dem es in zwei Weltkriegen besiegt worden war, als der große Gewinner dastehen sollte. (...)
19. DEZEMBER 1989
Der Bonner Regent ist Stargast auf einer Kundgebung in Dresden. Für Kohl wird der Verlauf dieses Tages mit den erstmals massenhaft gezeigten Transparenten »Wir sind ein Volk« zum Schlüsselerlebnis auf dem Weg zur staatlichen Einheit.
Wir waren kaum gelandet, da wurde mir schlagartig bewußt: Dieses Regime ist am Ende. Die Einheit kommt! Der gesamte Flughafen, vor allem das Gebäude, war bevölkert von Tausenden von Menschen, ein Meer von schwarzrotgoldenen Fahnen wehte in der kalten Dezemberluft - dazwischen eine fast vergessene: Es war die weißgrüne Fahne des Landes Sachsen. Als die Maschine ausgerollt war, ich auf der untersten Stufe der Rolltreppe stand und Modrow mich vielleicht zehn Meter davon entfernt mit versteinerter Miene auf dem Flugfeld erwartete, drehte ich mich zu Rudi Seiters um und sagte: Die Sache ist gelaufen.
Als wir in die Stadt fuhren - teilweise im Schrittempo -, säumten Zehntausende die Straßen, Belegschaften von Betrieben, die der Arbeit ferngeblieben waren, ganze Schulklassen darunter. Sie jubelten uns zu. Ich las auf Transparenten: »Kohl, Kanzler der Deutschen« oder »Bundesland Sachsen grüßt den Kanzler«. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht daran gedacht, eine Rede zu halten. Doch nach alledem stand nun fest: Ich mußte zu den Menschen sprechen. Aber wo? Der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer kam dann auf die Idee, ich könnte doch vor der Ruine der Frauenkirche sprechen.
Während die Vorbereitungen für den Auftritt anlaufen, konferiert der Kanzler unter vier Augen im Salon »Ludwig Richter« des Hotels Bellevue mit dem DDR-Ministerpräsidenten.
Modrow begann verkrampft, sich am Manuskript entlanghangelnd. Er sei besorgt über die Lage. Die Diskussion über die Wiedervereinigung nehme exzessive Dimensionen an, die Grenze zur Gewalt drohe überschritten zu werden. Innere Stabilität brauche jetzt das Land. Schließlich erläuterte er die wirtschaftliche Lage der DDR und forderte einen »Lastenausgleich« in Höhe von fünfzehn Milliarden D-Mark für 1990/91 - ein Betrag, den auch schon Schalck-Golodkowski für Krenz eingefordert hatte.
Ich hob in meiner Erwiderung hervor, daß es in vielen Punkten elementare Unterschiede zu den Ausführungen meines Vorredners gebe, aber auch Gemeinsamkeiten. Mit neun meiner Zehn Punkte könne die DDR einverstanden sein. Das Ziel einer Föderation sei noch kein Thema, obwohl ich davon überzeugt sei, daß die Entwicklung in diese Richtung gehen werde. Was die großangelegte Finanzhilfe in Milliardenhöhe anging, so sagte ich Modrow, daß die DDR hierfür erst die Rahmenbedingungen schaffen müsse.
Vor dem Bellevue stehen derweilen Tausende, die Kohl in Sprechchören ans Fenster bitten.
Ich war innerlich sehr angespannt. Mir war nämlich klar, daß es eine der schwierigsten, wenn nicht die schwierigste Rede überhaupt in meinem Leben werden würde. (...)
Plötzlich tauchte in mir die Frage auf: Was sollten wir machen, wenn die Menge plötzlich das Deutschlandlied und daraus die erste Strophe mit der Zeile »Deutschland, Deutschland über alles« anstimmen würde? Die Augen der gesamten Weltöffentlichkeit waren ja in diesen Stunden auf Dresden gerichtet, und in dieser Situation hätte alles, was als Ausbruch nationalistischen Überschwangs hätte gedeutet werden können, der Sache der Deutschen gewiß schweren, wenn nicht verheerenden Schaden zugefügt. (...)
Aber die Kohlsche Besorgnis erweist sich als überflüssig. Als er seine Rede mit dem Satz »Gott segne unser deutsches Vaterland« beendet, bewahren die Versammelten die Contenance.
Bei aller Begeisterung sind die Menschen besonnen geblieben. Sie hatten verstanden, daß ihre Sehnsucht nach dem gemeinsamen Vaterland jetzt Augenmaß und Vernunft erforderte. Keiner machte jedoch Anstalten, den Platz zu verlassen. Da ereignete sich ein Vorfall, der wie das Signal zum Heimgehen wirkte. Eine ältere Frau stieg zu mir auf das Podium, umarmte mich, fing an zu weinen und sagte mit leiser Stimme: »Wir alle danken Ihnen!« Die Mikrofone waren noch eingeschaltet, und jeder konnte es mithören.
JANUAR 1990
Nach heftigen Attacken französischer Medien auf eine vermeintlich doppelbödige deutsche Politik sucht der Kanzler François Mitterrand auf. In dessen Feriendomizil Latché an der Atlantikküste bemüht sich Kohl um eine gemeinsame Sprachregelung.
Wir redeten auch über die polnische Westgrenze. Es stehe außer Frage, so betonte ich, daß die Unverletzlichkeit dieser Grenze von uns geachtet werde. Mitterrand warf daraufhin ein, ich möge dies öffentlich sagen. Ich fuhr fort, daß man den Polen auf ihrem Weg nach Europa helfen müsse. (...)
François Mitterrand sagte, daß er zwei Probleme sehe: Das eine sei das russische - er sagte bewußt nicht: das sowjetische. Das andere sei das deutsche. Zwischen beiden bestehe ein Spannungsfeld, das sich im Augenblick nicht auflösen lasse. Das Experiment Gorbatschow werde noch eine gewisse Zeit weitergehen, meinte er und stellte die rhetorische Frage: »Was kommt danach, wenn er scheitert?« Seine Antwort lautete: »Keine Kommunisten, sondern eine harte Militärdiktatur. (...)
Für Mitterrand stand auch außer Zweifel, daß die Russen in der deutschen Frage nicht nachgeben würden. Das stellte für ihn das große Problem dar. Die Schritte in Richtung deutsche Einheit dürften Gorbatschow nicht in Schwierigkeiten bringen oder gar dazu führen, daß Moskau wieder mit dem Säbel rassele. Wir stünden am Rande einer solchen Entwicklung, weil die Dinge in Deutschland zu rasant verliefen.
FEBRUAR 1990
In Moskaus Deutschland-Politik deutet sich eine dramatische Wende an. Gorbatschow erklärt dem Ost-Berliner Ministerpräsidenten Hans Modrow, die Sowjetunion habe gegen eine Vereinigung von Bundesrepublik und DDR prinzipiell nichts einzuwenden. Modrow prescht mit einem Plan »Für Deutschland einig Vaterland« vor.
Die Initiative Modrows zeigte uns, daß die Sowjetunion auf die Frage, wie der Zusammenbruch der DDR abzuwenden sei, keine Antwort wußte. Das, was von östlicher Seite vorgeschlagen wurde, unterschied sich von meinem Zehn-Punkte-Programm in einem enorm wichtigen Punkt, wie die Präzisierungen Modrows nach seiner Heimkehr am 1. Februar in Ost-Berlin bestätigten: Das wiedervereinte Deutschland sollte neutral sein. Hätte Michail Gorbatschow jetzt das Angebot einer raschen Wiedervereinigung gegen Nato-Austritt und Neutralität unterbreitet, so hätte dies in der Öffentlichkeit beider deutscher Staaten auf breite Zustimmung stoßen können. Der daraus resultierende Druck auf die Politik hätte fatale Folgen haben können. Ich war zutiefst davon überzeugt, daß die Neutralisierung für uns, wie für Europa insgesamt, ein verhängnisvoller Fehler wäre, im Ergebnis so schlimm wie nur noch die Isolierung Deutschlands durch den Vertrag von Versailles.
Nachdem ihm Modrow auf einer Konferenz des »World Economic Forum« in Davos das politische und wirtschaftliche Chaos in seinem Land gebeichtet hat, reift in Kohl zunächst einmal der Plan, den DDR-Deutschen die D-Mark anzubieten.
Wir hatten es bis dahin aus guten Gründen vermieden, die Dynamik des Einigungsprozesses zu forcieren. Inzwischen war die Situation so dramatisch geworden, daß wir uns nicht länger zurückhalten konnten. (...) Auf einen kurzen Nenner gebracht: Wenn wir verhindern wollten, daß die Leipziger zur D-Mark kommen, dann mußte die D-Mark zu den Leipzigern kommen. Politisch und
ökonomisch bedeutete dies, daß wir bereit waren, auf ungewöhnliche, ja revolutionäre Ereignisse in der DDR unsererseits eine ungewöhnliche, ja revolutionäre Antwort zu geben.
Eine entscheidende Frage, vor der der Bundeskanzler, sein Wirtschaftsminister und die Experten stehen, lautet nun: In welchem Verhältnis sollen D-Mark und DDR-Mark umgetauscht werden?
Die Formel »1 zu 1« würde natürlich von enormer politisch-psychologischer Bedeutung sein; sie würde den Menschen in der DDR signalisieren, daß es um Solidarität unter Gleichberechtigten ging - und nicht um eine herablassende Geste des reichen gegenüber dem armen Vetter. Ich war mir natürlich bewußt, daß dies ein höchst ungewöhnliches Angebot war, für das man in keinem Lehrbuch der Ökonomie ein Beispiel nachlesen konnte. Als eine der stabilsten Währungen der Welt war die D-Mark das Fundament unseres Wohlstandes. Deshalb mußten wir sorgsam mit ihr umgehen. Dennoch hielt ich ein solches Vorgehen im Interesse der sozialen Stabilität in der DDR für richtig. Was wir freilich seinerzeit nicht ahnten, war das katastrophale Ausmaß der Wirtschaftsmisere der DDR.
18. MAI 1990
Die Bundesrepublik und die DDR unterzeichnen den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Helmut Kohl glaubt, daß sich die Kosten zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit bis 1994 auf 115 Milliarden D-Mark belaufen werden.
Heute mögen uns diese Zahlen ziemlich unbedeutend vorkommen. Tatsächlich sind allein aus dem Bundeshaushalt zwischen 1990 und Ende 1996 insgesamt 720 Milliarden D-Mark in die neuen Bundesländer geflossen. Auch wenn ich diese Zahlen schon damals im Frühjahr 1990 gekannt hätte - ich hätte in allen wesentlichen Punkten nicht anders gehandelt. Denn der politische - und letztlich auch der wirtschaftliche - Preis einer Verzögerung der deutschen Einheit würde heute mit Sicherheit sehr viel schwerer auf uns lasten als die finanziellen Bürden, die wir mit dem schnellen Weg der Wiedervereinigung auf uns genommen haben. Ich weise in diesem Zusammenhang nur auf die für beide Seiten destabilisierende Wirkung des Übersiedlerstroms hin. Glaubt jemand denn im Ernst, daß es damals noch möglich gewesen wäre, die innerdeutsche Grenze wieder dichtzumachen? (...)
Im nachhinein weiß man es natürlich besser. Deshalb ist es gut, gelegentlich daran zu erinnern, wie etwa der Wert des »volkseigenen« Vermögens der DDR damals von allen taxiert wurde. In der Annahme, die DDR sei die zehntgrößte Industrienation der Erde, ging man von 1200 Milliarden D-Mark aus. So haben wir zum Beispiel bei den Verhandlungen zum Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion geglaubt, mit dem Verkauf der einstigen »volkseigenen Betriebe« durch die Treuhand die Schulden der DDR finanzieren zu können. (...)
Im nachhinein habe ich mich allerdings sehr oft gefragt, wie es zu der Fehleinschätzung der wirtschaftlichen Leistungskraft der DDR kommen konnte. Es lag meines Erachtens schlicht und einfach daran, daß wir zuwenig wußten. Auch die DDR-Forschung hatte uns nicht klüger gemacht. Was wir erfuhren, waren letztendlich die Propagandalügen, die von Desinformationsspezialisten des Staatssicherheitsdienstes und der SED überaus geschickt verbreitet wurden. Alles in allem ist dem DDR-Regime so sicherlich eines der größten Täuschungsmanöver aller Zeiten gelungen.
15. JULI 1990
In Moskau beginnen die entscheidenden Verhandlungen um die Wiedervereinigung Deutschlands und dessen volle Souveränität. Kernproblem ist dabei die Nato-Mitgliedschaft der Bundesrepublik.
Nun sah ich klarer in dem Punkt, wie sich Gorbatschow die Sache vorstellte: Deutschland sollte zwar als Ganzes formal der Nato angehören, faktisch aber nur mit dem Gebiet der alten Bundesrepublik. Zu einem späteren Zeitpunkt könnte sich dies ändern, wenn wir erfolgreich über den Abzug der sowjetischen Streitkräfte verhandelt hätten. Entgegen Gorbatschows Beteuerung wären wir also doch nicht souverän gewesen. Mit den späteren Truppenabzugsverhandlungen hätte Moskau einen Hebel in der Hand behalten, um dann doch noch Druck in der Bündnisfrage auszuüben. (...)
Am Nachmittag dieses Tages bringt eine Iljuschin 62 die beiden Staatsmänner und ihr Gefolge in die kaukasische Heimat des sowjetischen Präsidenten. Dort bittet der Hausherr seine deutschen Gäste um einen Spaziergang.
Ich zog meine schwarze Strickjacke an. Kurze Zeit später ging ich mit Michail Gorbatschow - er hatte einen Pullover übergezogen - am Selemtschuk entlang. Mitglieder unserer Delegation und Journalisten folgten uns. Nach ein paar Metern blieb Gorbatschow stehen, kletterte die Uferböschung hinunter und reichte mir die Hand, als Aufforderung, ihm zu folgen. So standen wir am reißenden Wasser und sprachen über die Tücken des Flusses. Selten hatte ich Michail Gorbatschow in einer so gelösten Stimmung erlebt. Wir machten Rast an einer aus Baumstämmen bestehenden Sitzgruppe.
Am nächsten Morgen - im Konferenzraum einer alten Oberförsterei - wird dann um so zielstrebiger Klartext geredet, und Gorbatschow läßt sich Punkt für Punkt auf das bislang Unvorstellbare ein.
Auch in der Frage, in wie vielen Jahren der Abzug der sowjetischen Streitkräfte abgewickelt sein sollte, konnten wir unsere Vorstellungen durchsetzen. Zunächst hatte Gorbatschow noch davon gesprochen, daß der Abzug in fünf bis sieben Jahren erfolgen solle. Nun einigten wir uns auf einen Zeitraum von drei bis vier Jahren. Ich mußte in diesem Augenblick daran denken, daß die ersten Soldaten der Roten Armee die Grenze des Deutschen Reiches im November 1944 überschritten hatten. Jetzt würden Ende 1994, genau ein halbes Jahrhundert später, die letzten sowjetischen Soldaten Deutschland verlassen.
* Nach Öffnung des Brandenburger Tores am 22. Dezember 1989.* Am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus.* Mit Kohl bei Unterzeichnung des Vertrages zur Währungsunionam 18. Mai 1990.* Am 15. Juli 1990 im Kaukasus.