»Etwas ist faul im Garten Eden«
Hier wurde am 1. März 1900 die deutsche Flagge gehißt": So steht es auf einem anderen Denkmal draußen vor Apia, am Gestade der schmalen Halbinsel Mulinu''u, die ein geschichtsträchtiger Streifen Erde ist und mannigfach geweiht von Monumenten, von Königsgruften und Häuptlingsgräbern und Mahnmalen für gefallene britische und amerikanische Matrosen und die »auf der australischen Station für das Vaterland gebliebenen Kameraden« von der kaiserlichen Flotte.
Viel Geschichte, verworren und blutdurchtränkt, haben die Samoaner mit den »Wolkendurchbrechern« bestritten, seit sie 1787 am Strand von Tutuila, in einer Bucht, die heute »Massaker-Bai« heißt, zwölf Wasserholer von der Expedition des französischen Grafen La Perouse totschlugen, woraufhin sie ein paar Jahrzehnte lang verschont blieben von weiterem weißen Besuch.
Als das »vielleicht wildeste Volk, das in der Südsee anzutreffen ist«, hat der in russischen Diensten forschende Seefahrer Otto von Kotzebue sie bezeichnet; und als 1830 John Williams von der »Messenger of Peace« landete, um tala lelei, die Frohe Botschaft zu verkündigen, war Samoa heimgesucht von grausigen Machtkämpfen zwischen den Clans »königlicher Söhne« und ihren Heerhaufen, die (wie Williams berichtete) Dörfer in Schutt und Asche legten, Pflanzungen verwüsteten und ihre Opfer zu Hunderten, ob Mann, Frau oder Kind, »ohne Unterschied ins große Feuer warfen«.
Das alte Samoa teilte sich in vier Hoheitsbereiche, ein jeder beherrscht von einem Häuptling, der einen der vier höchsten zeremoniellen Titel innehatte. Konnte einer alle vier Titel auf seine Person vereinigen, so hatte er Königswürde erlangt. Da aber alle vier Titelträger auf Ebenbürtigkeit pochten und keiner sich den Rang ablaufen ließ, war Frieden rar in Samoa und Krieg der Vater aller Dinge, und er blieb es auch das ganze 19. Jahrhundert hindurch, wobei die Weißen tüchtig mitschürten.
1857 eröffnete das Hamburger Haus Johann Cesar Godeffroy & Sohn eine Niederlassung in Apia. Sie wurde das Hauptquartier eines Handelsimperiums, das sich bald schon weit über die ozeanischen Inseln von Tonga und Fidschi bis hin zu den Marshalls, Karolinen und Marianen ausdehnte und die Claims absteckte fürs künftige deutsche Kolonialreich an der Sonne.
Als sich der hanseatische Kaufmann Godeffroy in den Gründerjahren nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/ 71 an den Rand des Bankrotts spekuliert hatte, ging sein Unternehmen auf in die »Deutsche Handels- und Plantagen-Gesellschaft der Südsee-Inseln zu Hamburg«, »DHPG« genannt, doch berühmter noch überall im Pazifik als »Long Handle Firm«, die »Firma mit dem langen Griff«. _(Bei einer Parade in Berlin 1911. )
Die »Firma« besaß allein auf Upolu gute 30 000 Hektar Land, davon 3500 Hektar bepflanzt mit Kokospalmen, Kakao- und Kaffesträuchern, und hatte vielerlei Interessen zu wahren, insbesondere gegenüber der britisch-amerikanischen Konkurrenz. Denn Apia war seit Jahrhundertmitte eine weiße Enklave, der Oberhoheit von drei Konsuln unterstellt, deren Amtstätigkeit sich vor allem darin kundtat, daß sie einander beflissen über den Löffel balbierten, während jenseits der Bannmeile die »Eingeborenen« - hie Mataafa! hie Malietoa! hie Tamasese! - ihre endlosen Thronfolgefehden ausfochten und Feindesköpfe rollen ließen, die einen unterstützt mit Rat und Feuerwaffen von den Angelsachsen, die anderen von den Deutschen und ihrer kaiserlichen Marine-Infanterie.
Am 15. März 1889 lagen im Hafen von Apia sieben Kriegsschiffe der rivalisierenden Mächte auf Wacht und wichen auch nicht von der Stelle, als jäh das Barometer fiel. Die Nacht brachte schwere Regengüsse und steife Brisen, und als der Morgen nicht grauen wollte, toste ein Hurrikan in den Flaschenhals der Bucht. Einzig die britische »Calliope« rettete sich ungeschoren ins Auge des Orkans. Die USS »Vandalia«, »Nipsic« und »Trenton« ebenso wie Seiner Majestät Schiffe »Eber«, »Olga« und »Adler« kollidierten und zerschellten am Riff, 92 deutsche und 54 amerikanische Seeleute fanden den Tod. Das Wrack der »Adler« ragte noch vor wenigen Jahren aus dem Hafenbecken, bis es in aufgeschüttetem Neuland versank.
Nach jenem Wirbelsturm-Desaster verging ein weiteres Jahrzehnt, erschüttert von Stammeshändeln, Händlerzwisten und dem, was Stevenson den »Furor Consularis« nannte, bevor sich schließlich die großen Drei darauf einigten, den Zankapfel Samoa zu teilen: Die USA bekamen den östlichen Happen mit dem feinen Hafen Pago Pago, das Deutsche Reich annektierte Upolu und Savai''i. Großbritannien, verstrickt in den Burenkrieg, machte keine Ansprüche geltend, dafür verzichteten die Deutschen auf koloniale Rechte in Tonga.
14 Jahre lang wehten über den westsamoanischen Inseln die Farben Schwarz-Weiß-Rot. Es war, so vermerkte der britische Historiker Felix Keesing, »die ohne Zweifel ruhigste Periode in der bekannten Geschichte Samoas«, und sie wurde es dank einem Gouverneur, dem (wie ein anderer angelsächsischer Chronist rühmte) »mildesten aller Administratoren«, der noch immer unvergessen ist im Herzen Polynesiens.
Dr. Wilhelm Solf, Sanskrit-Philologe und Jurist, war ein Preuße mit Neigung zu englischem Stil und unter den Statthaltern in des Kaisers Kolonien ein seltener Fall. »Die Behandlung der eingeborenen Rassen«, lautete sein Credo, erfordere vor allem »Verständnis für ihre Art des Denkens und Fühlens«, und kaum einer hat für samoanische Art und Sitte mehr Sympathie aufgebracht als dieser wuchtige Mann von 1,90 mit Monokel im Auge, der seine 30 000 Schutzbefohlenen so patriarchalisch regierte wie ein Matai seine Sippe.
Bei allem »Hang zur Intrige« fand er die Samoaner »in ihrem Wesen geradezu entzückend« und weit erfreulicher im Umgang als die Weißen im Land, etwa die säbelrasselnden Herren von der wilhelminischen Flotte mit dem »Marinevogel«, die Schwärme von kleinen Neuansiedlern mit ihrer »lärmenden Deutschhuberei«, die angelsächsischen Pastoren auch, die ihm ins Handwerk pfuschten und von denen er sich, als »Radikalkur« für Samoa, nur eines wünschte: »Alle Missionare rrraus!«
Solf, zäh vermittelnd und allemal »gerissener als die Leute, die mit mir verhandeln«, brachte endlich Frieden auf die Inseln und Ruhe in die zerstrittenen Parteien. Er unterband, zum Schutz gegen weiße Erwerbsgelüste, die Veräußerung kommunalen Landbesitzes, ließ Wege anlegen und Schulen errichten und betrieb den Aufbau einer samoanischen Selbstverwaltung nach seinen Direktiven,
doch möglichst im Einklang mit altsamoanischem Brauchtum.
Mit den geheiligten Institutionen Samoas allerdings, die nicht ins Konzept kolonialer Herrschaft paßten, machte er kurzen Prozeß. Abgeschafft vor allem wurde die Königswürde, denn der tupu sili saß jetzt in Berlin. Den Rebellen Lauaki, der an der Spitze einer »Mau«-Bewegung gegen sein Regiment aufmuckte, ließ Solf auf die Marianen-Insel Saipan deportieren - dem samoanischen Volk zur Lektion und Mahnung, daß es »nur ein Oberhaupt hat, und das ist Seine Majestät der Kaiser«. _(Wilhelm Solf war Gouverneur ) _(Deutsch-Samoas von 1900 bis 1910, danach ) _(Staatssekretär im Reichskolonialamt. Von ) _(1920 bis 1928 diente er der Weimarer ) _(Republik als Botschafter in Tokio. Er ) _(starb 1936. Seine Witwe Hanna und seine ) _(Tochter mit samoanischem Vornamen Lagi ) _((Himmel) begründeten mit Gegnern des ) _(Naziregimes den »Solfkreis«. Sie standen ) _(1944 wegen »Hochverrats, Aufwiegelung, ) _(Feindbegünstigung und Defätismus« vor ) _(Freislers »Volksgerichtshof« und ) _(überlebten die Konzentrationslager ) _(Ravensbrück und Sachsenhausen. )
Er ist es nicht lange geblieben. 1914 besetzten neuseeländische Truppen die deutsche Kolonie, deren wirtschaftlichen Nutzen schon der Südseeträumer Bernhard Graf von Bülow, damals Staatssekretär im Auswärtigen Amt, offenbar geringer veranschlagt hatte als ihren ideellen Wert für »das deutsche Empfinden« und »das deutsche Selbstgefühl«. »Die Erwerbung Samoas«, so sprach er 1900 im Reichstag, »war für uns zu einer Frage des Ansehens geworden und zu einer Frage der nationalen Würde.«
Doch nichts anderes wohl bedeutete der Besitz Samoas auch für das kleine Neuseeland, das selbst nur eine entlegene Kolonie war und um so mehr den Großen nacheiferte an nationalem Glanz und Prestige, wobei es seine koloniale Verwaltung von Anfang an mit kläglichem Unvermögen und Mißgeschick betrieb. 1918 fielen, infolge mangelnder Quarantäne-Maßnahmen, in Westsamoa 8500 Menschen, 22 Prozent der Bevölkerung, einer Grippe-Epidemie zum Opfer; medizinische Hilfe aus Amerikanisch-Samoa wurde von der neuseeländischen Administration zurückgewiesen.
Im Versailler Vertrag bekam Neuseeland die Inseln als Mandat zugesprochen, und über Jahrzehnte hinweg haben die Samoaner der harten und herzlich gehaßten neuen Obrigkeit verbissen Widerstand geleistet, ihre Steuern nicht bezahlt, Anordnungen mißachtet und Kopra-Ernten verrotten lassen. Die zu Solfs Zeiten vom edlen Lauaki begründete Widerstandsbewegung trat wieder in Aktion, und wieder wurde deportiert. 1929, bei einer Mau-Kundgebung auf Apias Beach Road, feuerte die Polizei mit Maschinengewehren in die unbewaffnete Menge, es gab elf Tote.
Im Zweiten Weltkrieg erlebten auch die Westsamoaner eine stürmische Kulturrevolution, hereingetragen von den Söhnen Onkel Sams, die zu Tausenden Quartier bezogen, und keineswegs nur in Apia und Umgebung. Sie schwärmten aus über Upolu und Savai''i dazu, nisteten sich ein in den Dörfern entlang der Küsten und brachten - Matai hin, Pastor her - unerhörten Swing ins so stolz und starr bewahrte sittsame alte fa''a Samoa.
Damals entstand der Flughafen von Faleolo, auf dem jetzt die Touristen landen. Damals wurde die erste Straße quer durchs Bergland von Upolu gebaut. Jung-Samoa jobbte, feilschte und liebte für den Yankee-Dollar. Aggey Grey, am Beginn ihrer Karriere als Wirtin, eröffnete eine Imbißbude und brutzelte Hamburger für die GIs. Der Markt für Kopra florierte wie nie zuvor. Eine neue Welt tat sich auf.
Heute ist Westsamoa, seit 1962 unabhängig, dieser Welt einverleibt und ausgeliefert auf _(Bei Deportation auf S.M.S. »Arcona«. )
Gedeih und Verderb. Es ist die nackte Welt von Soll und Haben, geprägt von kläglichen Handels- und Zahlungsbilanzen und sozialem Mißvergnügen. 1981 erlebte der junge Staat seinen ersten Streik. An die 90 Tage lang meuterten in Apia die Angestellten der öffentlichen Dienste und forderten Zuschlag zum Hungerlohn. Die Moderne, im großen Krieg angekündigt, hatte unwiderruflich begonnen.
Aber Apia ist nicht fa''a Samoa, und obwohl nun auch das Leben weiter draußen auf den Dörfern nicht mehr so einfach ist in diesen lausigen Zeiten, geht es doch noch immer einen geruhsamen Trott. »Denn der Herr ist mein Hirte«, sagte Seupule, »und drei Töchter sind in Neuseeland.«
Wir waren am Samstagmorgen durch Upolus hohe Vulkanberge gefahren, eine wilde Gegend, unangetastet von jeder menschlichen Ansiedlung. Nebel hing in den Schluchten und Wäldern und umwallte die unheimlichen Banyan-Riesen, deren verschlungene Labyrinthe von Baumkronen und Luftwurzeln wie geschaffen schienen zum Asyl für die Gespenster, Dämonen und Ahnengeister Alt-Samoas, die wie eh und je auf den Inseln ihren Spuk treiben und noch dem gläubigsten Christenmenschen viel listige Fürsorge abverlangen, damit sie ihn verschonen vor Krankheit, Übel und Grauen.
Hinter den Bergen aber, an den fruchtbaren Küstenstrichen, reihte sich im Palmenschatten wieder Dorf an Dorf zu Bildern ländlicher Beschaulichkeit. Auf den Rasenflächen spielten die Halbwüchsigen Rugby und Volleyball. »Palagi! Palagi!« schrien die Kinder und gingen in Kung-Fu-Position.
In einer Ortschaft war ein hoher Häuptling gestorben, und in langer Prozession kamen die jungen Männer und Mädchen die Straße entlang, die feinen Matten ausgebreitet vor sich hertragend, während auf der Versammlungswiese schon alles in Gruppen bereit saß zur Leichenfeier, die würdigen Matai, die imposanten Matronen und die Jungen, ein jeder auf dem ihm angemessenen Platz, und die Stimme des Orators hallte übers weite Rund zur Lobpreisung des Toten und seiner erlauchten Genealogie.
Es war noch eine Weile hin bis Mittag und schon heiß, als wir Satitoa erreichten, ein idyllisches Nest von 20 Sippen mit 500 Seelen und drei Kirchen, das inmitten einer Kette dicht aneinandergedrängter Dörfer am östlichen Landende von Upolu liegt und einen schönen Ausblick auf vier vorgelagerte Inselchen bietet. Bei klarer Sicht, erklärte Seupule, könne man sogar bis nach »Amerika Samoa« hinübersehen.
Seupule war ein treu für Familie und Gemeinde sorgender Matai und frommer Mann. Elf Mädchen und zwei Jungen hatte er in die Welt gesetzt, weil reicher Kindersegen Gott gefällt und natürlich auch viele helfende Hände bedeutet für die Arbeit im Haushalt und auf der Plantage und zudem eine altbewährte Sozialversicherung für den Lebensabend. Nun wohnten von Seupules 13 Kindern noch neun unterm väterlichen Dach im geräumigen Haus, und die Kleineren guckten aus
gebührender Entfernung zu, wie wir uns niederließen auf die Matte zum Willkommens-Trunk, zu dem zwei Würdenträger von ihren Feldern herbeigeeilt waren.
Gastfreundschaft ist in Samoa eine geheiligte Sache; doch nichts, so wußte schon Stevenson zu berichten, scheuten die Samoaner mehr als die Heimsuchung durch einen Gast, der doch nur Unruhe und Verdruß mit sich bringe.
Die schlimmste aller Besucher-Plagen, das sind heutzutage die weißen Gäste, diese jungen Rucksack-Romantiker vor allem, die in die Dörfer kommen, auf Suche nach samoanischer Ursprünglichkeit, und die Nachtquartier und Bewirtung verlangen, ohne begreifen zu wollen, daß es im traditionellen Samoa genauso zugeht wie anderswo auch, daß nämlich jeder etwas bieten muß, wenn er nehmen will - gibst du mir deinen, geb'' ich dir meinen Fisch.
Die drei Matai jedenfalls gaben mir beim Kava-Ritual den Ehrentitel Suemalo, »Sucher des Sieges«, und ich gab ihnen dafür die erheischten zehn Tala, bar auf die Hand. Sodann ging ich auf Anraten Seupules den Sandweg hinunter zum Versammlungs-Fale des Frauenkomitees, das zur Begrüßung Kokosnüsse und Brotfrucht geschickt hatte, und überreichte unter Applaus und Gekicher den fülligen Damen meine Geldspende.
Und schließlich geleiteten mich die Häuptlinge auch noch zum Haus des Pastors, damit ich dort meine Aufwartung mache, und wir kreuzten die Beine zu einer weiteren Kava-Zeremonie, bei der mir auf Geheiß der schielenden Pfarrersfrau, die sofort eigenhändig kassierte, die Würde eines Sue''aganu''u, »Suchers der Sitte«, verliehen wurde.
Aber das Leben sei ja nun einmal so entsetzlich teuer geworden, klagte Seupule, als er mir später seine Palmenplantage, das Tarofeld und den Gemüsegarten zeigte und mich durchs Dorf führte, vorbei an den offenen Wohn- und Wirtschaftshütten im grünen Licht der Bananenstauden, an Erdöfen und Grabsteinen, zwischen denen im Tanz der Mückenschwärme Kinder alberten, Schweine scharrten, Hunde streunten und Hühner pickten.
Eine schwere Bürde, sagte Seupule, hätten sie zu tragen, und wenn nicht regelmäßig die Überweisungen aus Neuseeland einträfen - der Himmel mochte wissen, wie man dann noch seine kommunalen Pflichten erfüllen sollte. Die Schule, die drei Kirchen: Für alles mußte die Gemeinde allein aufkommen, alles selber bauen und unterhalten, die Priester behausen, kleiden und verköstigen, nur die Lehrer bezahlte der Staat.
Dafür waren sie freilich auch ihre eigenen Herren. Hier gab es keinen von
der Regierung bestallten Dorfpolizisten, keinen Amtsrichter. Hier waren die Matai, versehen mit geistlichem Zuspruch, die Hüter der Ordnung und Schicklichkeit. Sie wachten über den Frieden des Tags und bliesen zur Nachtruhe auf der Muschel den Zapfenstreich. Alle zwei, drei Wochen kamen sie zum Häuptlingsrat, um Gericht zu halten über öffentliches Ärgernis, über Zank, Trunkenheit, Diebstahl und Ehebruch, und Sühne zu fordern in Form von teuren Naturalien - Schweinen und Fisch, Zucker und Reis, Zwieback und Konserven.
Es war eine winzige Welt, übersichtlich und reglementiert, durchhechelt von nachbarlichem Klatsch, die kaum Raum ließ für Privates und Intimes, für Grübeleien und kühne Jugendträume. Es war eine Welt der andächtigen Christen. Als die Abenddämmerung niedersank über Seupules Haus, versammelte sich im Schein der Kerosinlampe die große Familie, das eigen Fleisch und Blut nebst Anverwandten, und sie lauschten der frohen Botschaft, die der Patriarch verlas, beteten das Vaterunser und sangen voll Inbrunst ihre Psalmen.
Es war eine wohlbehütete Welt. Später im Dunkeln, auf dem Gastbett hinter den vorgespannten Laken, hörte ich dem Flüstern der Kinder zu, dem Getuschel der halbwüchsigen Mädchen, die sich ihre Geheimnisse anvertrauten, bevor sie auf der Matte in den Schlaf sanken. Aus dem Pfarrhaus nebenan, wo der Chor für den sonntäglichen Gottesdienst probte, frohlockten Hallelujas durchs Wetterleuchten. Dann trommelte es nieder aufs sichere Wellblechdach.
Doch als Seupule mich mitten in der Nacht wachrüttelte, rollte draußen am Riff die Brandung, die Palmen raschelten, der Himmel war weit und sternenklar, und der Matai deutete hinaus aufs Meer, hinüber zu den schwach blinkenden Lichtern in der Ferne, und sagte: »Da drüben, das ist Amerika-Samoa.«
»Talofa, you guys«, jauchzte zum Gruß der Discjockey von Radio Pago Pago und brachte Turbulenz in den Äther mit Rock und Pop für die Jungs in ihren Datsuns, Isuzus, Subarus und Mitsubishis, die gegen Mittag in endloser Schlange die Küstenstraße entlangkurvten, bis es »downtown« nicht mehr weiterging, bis sie wieder mal festsaßen im Stau, während es wieder mal in Strömen goß und von den Dächern schüttete und die warmen Dampfschwaden aufstiegen vom Grün der Steilhänge.
Denn was wäre Pago Pago, zumal zur Regenzeit zwischen Dezember und März, ohne seine Wolkenbrüche über der tiefen Wasserschlucht, ohne diesen Regen, der »nicht wie der englische sanft zur Erde fällt«, sondern »wie die Sintflut« kommt, »gnadenlos und irgendwie furchtbar«, »voller Wut«, mit »der Bosheit der primitiven Naturkräfte«; und »wenn erneut die Sonne hervorbrach, dann war es wie in einem Treibhaus, heiß, feucht, drückend, stickig, und man hatte das Gefühl, alles wachse mit wilder Heftigkeit«.
So steht es in Somerset Maughams berühmter »Regen«-Story, jener Geschichte vom Missionar und dem flotten Luder Sadie Thompson, das von den roten Laternen Honolulus kam. Und egal nun, ob Sadie wirklich je existiert hat oder bloß ein Hirngespinst des Autors war: Ihre Absteige in Pago Pago jedenfalls, mittlerweile ein Krämerladen, ist noch immer zu besichtigen und ihr Ortsgeist auch sonst noch rege in Dunst und triefender Nässe, ganz besonders aber zur glücklichen Schummerstunde im »Rainmaker«, kurz »das Hotel« genannt.
Dann nämlich hocken sie dort im Zwielicht der »Sadie Thompson Lounge« wie Hollywood-Komparsen, die Mädchen mit den goldgerahmten Zähnchen, die Homos mit den Blüten im Haar, die richtig verwegenen Beachcomber-Typen, die ihr »Budweiser« eiskalt aus der Dose saufen und dazu den Oldies der Zwei-Mann-Band nachträumen, »As time goes by«, während es draußen an den Fenstern rinnt und rinnt.
Aber mag der Regen noch so urgewaltig fallen - den Dreck von Pago Pago wäscht er niemals rein. »Bitte haltet Amerikanisch-Samoa sauber«, fleht die Inschrift auf den Wagen der Müllabfuhr. »Keine Abfälle«, gebieten die Schilder am großen Platz in Fagatogo und drohen mit Bußen bis zu 100 Dollar. Doch unbekümmert, mit wegwerfenden Händen, trotten die Bürger im Unrat von Papier, Glas, Blech und Plastik, von Zeitungsfetzen, Zigarettenschachteln, Eiskremtüten, Flaschen und zerbeulten Dosen durch ihr so gemütliches und verlottertes Tropen-Wildwest und schnuppern dabei stets, mal stärker, mal
schwächer, den fischigen Geruch, der über die Bucht herüberweht.
33 000 Einwohner, 3000 registrierte Privatfahrzeuge: Amerikanisch-Samoa hat an zivilisatorischen Segnungen manches zu bieten, woran es im freien Westsamoa fehlt.
Es hat die beiden großen Amerikaner Star-Kist und Van Camp, die in ihren Konservenfabriken die riesigen Thunfisch-Fänge der kalifornischen, taiwanesischen und südkoreanischen Trawler-Flotten verarbeiten, bei Kapazitäten von 150 000 Tonnen Rohfisch pro Jahr. Sie verpesten die Luft und verseuchen die Bucht; nur bieten sie eben, als die einzig bedeutende Industrie, auch guten Lohn für annähernd 3000 Beschäftigte, von denen die Hälfte zumindest von den westsamoanischen Inseln kommt.
Das größte Unternehmen im Ländchen jedoch betreibt die Territorial-Regierung mit ihren öffentlichen Diensten, darunter einem Heer von wohlbesoldeten Lehrern, nicht zu vergessen Ärzte und Personal des »Lyndon B. Johnson Tropical Medical Center«. Und daß all diese vielen Diener am Gemeinwohl auch gebührend versorgt werden, dafür wiederum sorgt der reiche Vormund in Washington, mit Zuschüssen von jährlich 30 bis 40 Millionen Dollar und mehr, die an die 70 Prozent des Haushalts decken.
Denn was, zum Teufel, soll man tun mit dem kleinen Territorium ganz weit draußen, das in den 85 Jahren, seit dort das Sternenbanner in der Schwüle hängt, noch nie so recht zu etwas nütze war und selbst seine letzte strategische Bedeutung verloren hat, nachdem 1951 die US-Navy ihre Basis von Pago Pago aufgab? Es läßt sich nicht in die Südsee versenken, man kann es nicht einfach seiner Dürftigkeit überlassen. Also zahlt Washington notgedrungen und anstandshalber den braunen Stiefkindern den Unterhalt, und dies nicht zu knapp, seit Präsident Kennedy vor gut zwei Jahrzehnten zum Kampf aufrief gegen die Armut in der Dritten Welt.
Die Territorianer können wahrlich nicht klagen, sie hatten es noch nie so gut. Wo Star-Kist und Van Camp den von fremden Booten aus weiter Ferne angelandeten Yellowfin und Skipjack verpacken, schippern noch ganze 70 örtliche Fischer mit ihren Netzen hinaus - wozu die Mühe, wenn sich auf leichtere Art zu Geld kommen läßt. Der Supermarkt in Nu''uuli ist mit Konserven und Delikatessen so wohlsortiert wie in Fagatogo der Bottle Store mit Weinen und Whiskys. Unter den Mangobäumen sitzen die Teenies und drehen an ihren teuren Transistorradios.
Unabhängigkeit von der Kolonialmacht USA? Möge Gott es verhüten, kein Ostsamoaner wünscht sich solch Desaster herbei. Wiedervereinigung gar mit den Brüdern und Schwestern im Westen? Einen jeden Matai in Amerikanisch-Samoa graust es, wenn er nur daran denkt, daß er in der samoanischen Häuptlings-Hierarchie zu den niederen Rängen zählt und ewig zählen muß, weil nun einmal die höheren und höchsten Titel auf den westlichen Inseln Upolu und Savai''i vererbt werden.
Nein, da erhalten und pflegen sie auf Tutuila lieber die eigene Elite, umglänzt von Dollar-Prestige, und machen Staat mit Subventionen. In nahezu jeder Regierungsbehörde sitzt ganz oben ein Matai, bestallt aufgrund seiner Titel-Würde, wie wenig Sachkenntnis er auch entfalten mag, im Ressort für Öffentliche Arbeiten, für Wasser-, für Stromversorgung. Und bisweilen kommt dann aus Washington ein Inspektor angereist, um nach dem Verwendungszweck von Bundesmitteln zu forschen, die verschwunden sind im schwer durchschaubaren Geflecht samoanischer Politik.
Die Amtswalter und Würdenträger im selbstregierten Territorium, vom einheimischen Gouverneur bis hin zu den Cliquen dörflicher Honoratioren und Pastoren, haben einen ausgeprägten Samoaner-Stolz. Daß der große Onkel Sam im fernen Washington ihrer Wohlfahrt dient und sie nährt wie ein Häuptling seine Aiga, ist ihnen recht und billig, nur soll er sich gefälligst nicht in ihre Angelegenheiten mischen. Denn dies, verdammt, ist noch immer unser Land, so murren sie und pochen auf die ihnen eigene Lebensart, auf ihre Identität, ihre Kultur, auf ihr fa''a Samoa.
Doch dieses fa''a Samoa wird reich illuminiert vom Medium Fernsehen, das seine frohen Botschaften in so ziemlich jedes empfangsgünstig stehende Holzhaus auf Tutuila strahlt, zur Wonne der Jungen wie der Alten, obwohl ja nun die TV-Anstalt KVZK ursprünglich zu ernsterem Zweck bestimmt war.
Als KVZK vor 21 Jahren auf Sendung ging, bot es auf sechs Kanälen das kühnste Schulfernseh-Experiment der Welt. Vier Studios produzierten wöchentlich Dutzende von 20-Minuten-Programmen, jedes Klassenzimmer hatte seinen Bildschirm, dem Lehrer blieb kaum mehr als der Job eines Moderators - bis dann, in den siebziger Jahren, etliche Unzufriedenheit mit dem Erziehungssystem sich bemerkbar machte und die Territorial-Regierung, ohnehin in tiefen Finanznöten, das TV-Budget drastisch zusammenstrich.
Schulfernsehen in Amerikanisch-Samoa spielt heute kaum eine Rolle mehr. Heute ist das Medium für alle da, vorwiegend gefüttert mit Programmen von ABC, NBC und CBS - diesem ganzen schönen Unterhaltungs-Sortiment an Football und Baseball, an Filmen, Shows und Seifenopern, an »Dallas« und »Denver-Clan«, unverschnitten samt Original-Werbespots dazwischen, die im Territorium die wunderlichsten Effekte erzielen, so daß die Hausfrauen dem Kaufmann die Tür einrennen nach allen möglichen Pillen, Cremes und Sprays und einem gewissen »Teppich-frisch«, obwohl
bei ihnen zu Hause nur die traditionellen Strohmatten liegen.
Die Hüter des fa''a Samoa, selbst alles andere als gefeit vor den Verlockungen des American Way of Life, haben viel zu jonglieren in dieser großen Konfusion zwischen Mythos und Moderne, wobei die ganz Gewitzten sich an die Weisheit des Evangeliums halten, in dem geschrieben steht: »Du sollst dieses tun und jenes nicht lassen.« »Nur wenn uns die finanziellen Mittel gegeben sind zu sozialer, politischer und ökonomischer Entwicklung, werden wir auch unsere Kultur bewahren können«, versicherte Gouverneur-Leutnant Tufele Li''a, höchster Titelträger von Ta''u. Häuptling Fuimaono, Sekretär für samoanische Angelegenheiten, aber sagte: »Unser kulturelles Erbe bleibt uns nur erhalten, solange wir auf unser Matai-System vertrauen.«
Doch wer baut schon noch fest auf das klapprige System. Die Macht der trotzigen alten Männer ist nicht minder gefährdet als die der edlen Clan-Väter auf Upolu und Savai''i, ja sie wirkt noch viel gebrechlicher in einer Gesellschaft, die, dank Star-Kist und Van Camp vor allem, zu 37 Prozent aus zugewanderten Fremden vorwiegend westsamoanischer Herkunft besteht, und zur starken Hälfte aus Kindern und Halbwüchsigen.
Denn sobald sie erst einmal flügge sind, fliegen die Jungen auch hier den Gerontokraten davon, weg von der Plantagen-Mühsal, heraus aus dem engen Winkel, hinein in die verheißungsvolle weite Welt. Nur suchen sie, als Staatsangehörige, wenngleich nicht Bürger der USA, ihr Glück ganz anderswo als die Neuseeland-Fahrer aus der Nachbarschaft - viele auf Hawaii, viele in den Rängen der U.S. Army, deren Dienstgradordnung schließlich so verschieden nicht ist von der Matai-Hierarchie in den heimatlichen Dörfern.
Das gelobteste Land ihrer Träume indes heißt Kalifornien, und nichts lockt mächtiger als die Straßen von San Francisco, San Diego, Los Angeles mit ihren Wolkenkratzer-Schluchten und endlosen Asphalt-Wüsten, wo inzwischen nun schon an die 90 000 Samoaner leben, fast dreimal so viele wie im Territorium.
Es sind wahrlich nicht immer die rosigsten Bedingungen, unter denen sie dort drüben ihre Immigranten-Existenz bestreiten, in den samoanischen Vierteln Honolulus oder der großen Westküsten-Metropolen, oft eingepfercht in dürftiger Behausung, oft arbeitslose Kostgänger der Sozialfürsorge, auch erfreuen sie sich nicht überall des besten Rufs. »Denn mögen sie noch so leidenschaftlich danach streben, Amerikaner zu werden«, sagte Häuptling Fuimono, »ihre Hautfarbe und ihr Samoanerblut kann ihnen keiner nehmen. Sie werden niemals Bürger erster Klasse sein.«
Und dennoch, sie sind endlich da, wohin ihre Sehnsucht sie trieb. Sie sind in Kalifornien, in Gottes eigenem Land, dem Land des Überflusses, der unbegrenzten Möglichkeiten und unaufhörlichen Sexual-Appelle, dort, wo es McDonald''s gibt, wo täglich neu die Zukunft beginnt, wo die wunderbaren Mädchen wie die Liebesgöttinnen im Film und Fernsehen mit kaum verhüllten Brüsten die Avenuen entlangstolzieren.
Sie sind im Land der großen Freiheit, wo kein Matai über ihr Dasein bestimmt, und die meisten kehren nie in ihr Südsee-Paradies zurück.
So ändern sich die Zeiten und die Völker mit ihnen.
Als Margaret Mead vor 57 Jahren ihr Sittenbild vom liebeslustigen Samoa veröffentlichte, war die amerikanische Gesellschaft beherrscht von puritanischer Prüderie und verklemmter Sexualmoral. Heute, da Amerika sich allgemeiner Permissivität brüsten darf, können die Samoaner auch in Sachen Libido von ihm nur lernend profitieren, und wenn sich auf Ta''u die ehrbaren Matai gelegentlich zum Porno-Abend vor den Videoschirm hocken,
gehen ihnen oft die Augen über angesichts der akrobatischen Höchstleistungen, zu denen das stöhnende Tier mit den zwei Rücken sich anspornen läßt.
Daß aber Margaret Mead ihren Zeitgenossen lediglich ein samoanisches Märchen fern jeglicher Realität vorgesponnen habe, wie ein halbes Jahrhundert später Freeman behauptet und zu belegen versucht - das, so protestieren landeskundige Gegner des Professors, sei einfach nicht wahr, selbst wenn viele das Buch »für die fabelhafteste Errungenschaft seit Coca-Cola halten«.
»Das Samoa Margaret Meads ist nicht das Samoa Derek Freemans«, sagte der Schriftsteller John Kneubuhl, zu dessen Spezialitäten die Geschichte Samoas gehört.
»Ganz abgesehen davon, daß die beiden in weit voneinander getrennten Gemeinden mit stark differierenden Bräuchen, Verhaltensweisen, Wertvorstellungen forschten, sie auf Ta''u, er auf Upolu - Freeman zieht vor allem nicht in Betracht, welchen Einflüssen die ehedem so isolierten Dorfkommunen zwischen Meads Aufenthalt 1926 und seinen Feldstudien in den vierziger und sechziger Jahren ausgesetzt waren: dem Zweiten Weltkrieg, dem Radio, dem Bau von Straßen und Flughäfen, der Schulerziehung, schließlich dem Fernsehen, und was immer sonst noch die Moderne ihnen an Segnungen brachte.«
John, Viertel-Samoaner mit Schweizer Vorfahren, war in Leone unweit von Pago Pago aufgewachsen und nach 20 Jahren als Film- und Fernsehautor in Hollywood zurückgekehrt, um in der Heimat seine alten Tage zu verbringen. Er saß auf dem Hocker, im Lavalava, die Beine gekreuzt nach Insulanerart. Frau Dorthy hatte mir einen Lei von duftenden Frangipaniblüten um den Hals gehängt. Draußen goß der Regen auf die Kneubuhlsche Parklandschaft nieder und bildete vor den offenen Fenstern rauschende Vorhänge von Wasserfällen.
»Die kleine Maggie hat gewiß in vielem geirrt, wie Darwin auch«, sagte John. »Aber Freeman irrt noch mehr, wenn er unsere armen Braunen als ein geknechtetes und sexuell frustriertes Volk von desperaten Neurotikern und schlafkriechenden Sittenstrolchen darstellt, obgleich nicht zu leugnen ist, daß sich unter ihren formvollendeten Manieren, all ihrer Höflichkeit und Freundlichkeit viel Wildes und Gewaltsames verbirgt. Begieß ihnen die Nase, und sie beißen dir den Kopf ab.
»Freeman übersieht aber, was Margaret Mead sehr wohl erkannt hat, daß nämlich die Genossenschaften Alt-Samoas äußerst kargen Nährboden abgaben für jene seelischen Spannungen, die wir Neurosen nennen. Es sind dies ja bekanntlich die Konflikte, aus denen Künste hervorgehen. In Samoa gibt es keine Künste. Es gibt kein originelles Kunstgewerbe, keine einfallsreiche Web-, keine gute Schnitzkunst, keine nennenswerte Musik und Malerei, keinen Dichter außer dem westsamoanischen Erzähler Albert Wendt, der einen deutschen Ahnherrn hat.
»Es gibt keine Künste, weil im traditionellen Samoa die Persönlichkeit fehlt, weil das Individuum keine Rolle spielt, weil der einzelne einzig und allein begriffen wird in seiner sozialen Funktion, als ein politisches Wesen, dem kein Privatleben zusteht, dessen Sein und Handeln sich in aller Öffentlichkeit vollzieht - es sei denn, er macht es wie der Held in ''1984'' und entfliegt den tausend Augen in die einsame Natur.
»Aber ist er deshalb streßgeplagt und seelischer Drangsal ausgesetzt? Er hat seinen festen Platz, die Aiga umsorgt ihn, sein Dasein ist geordnet. Er weiß genau, was von ihm verlangt wird, welche Pflichten er wann, wo und wie zu tun hat, und sein Tag ist so ausgefüllt mit Arbeit und gesellschaftlichen Obliegenheiten, daß er schon aus Mangel an Zeit schwerlich in die Versuchung gerät, seinen Nabel zu betrachten und über letzte Dinge nachzugrübeln.
»Die ersten und die letzten Dinge im alten Samoa heißen Solidarität und Hierarchie. Freeman hält die Samoaner für devote Christen. Ich halte sie schlicht für fleißige Kirchgänger, die, wie schon Margaret Mead erkannte, an ihrer Sündenlast so schwer nicht tragen. Nur fügte sich eben die Religion der Sendboten
Christi als stärkende Macht wunderbar ein ins soziale Gewebe des Dorfs und ins Herrschaftsgefüge der Matai.
»Sicherlich ist es eine starr autokratische Ordnung, deren Wächter scharf darauf achten, daß keiner aus der Reihe tanzt, keiner sich hervortut und keiner zurücksteht, daß keiner rührt am Heil und Frieden im kleinen Winkel und alles tunlichst so bleibt, wie es immer war. Doch Freeman sieht dabei nur die Zucht und Härte. Die von Mead gepriesene ''warme menschliche Beziehung'' sieht er nicht. Er erkennt nicht das Augenzwinkern, den durchtriebenen Humor, die ganze Windbeutelei dieser andächtigen Komödianten, und schon gar nicht ihre scheinheilige Beachtung des klerikalen Sexual-Tabus.
»Was er zum Beispiel mit keinem Wort erwähnt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der man in Samoa, wie überall in Polynesien, Homosexuelle und Transvestiten akzeptiert. Die fa''afafine tragen ihre Art unverblümt zur Schau, kein Mensch verhöhnt sie, niemand rümpft über sie die Nase. Sie werden als gute Kellner geschätzt, viele von ihnen sind talentierte Lehrer. Aber im Samoa Derek Freemans existieren sie nicht.
»Dagegen legt er die heiligsten Eide ab auf einen samoanischen Jungfräulichkeitskult von strengster Observanz, und ich frage mich bloß, woher dann die vielen unehelichen Bälger kommen, die von der Aiga mit der gleichen Fürsorge hochgepäppelt werden wie die Sprößlinge aus christlich abgesegneter Ehe.
»Aber daß Jungfrauen in Samoa ebenso rar sind, daß hier genauso geliebt und gesündigt wird wie anderswo in der Südsee, still und heimlich, versteht sich, aber eben auch mit diskreter Duldung der Alten, der Sippe, der dörflichen Gemeinschaft: Davon wird Freeman in seinem Kreuzzug gegen Mead sich nie überzeugen lassen.«
Nach dem Regen zeterten in den Mango- und Flammenbäumen die Vögel. Der Garten dampfte, und mit der Feuchtigkeit zog der Duft von Orchideen und Jasmin in den lichtüberfluteten Raum.
»Derek Freeman erinnert mich an den fanatischen Missionar in Somerset Maughams Geschichte, der die Fleischeslust aus der Welt schaffen will«, sagte John. »Doch die Samoaner, so emsig sie auch zu ihren Kirchen pilgern und sich beim Abendgebet in frommer Rührung die Augen wischen, sind sehr diesseitige, sehr gewitzte Leute. Und was immer die Missionare und Pastoren ihnen in anderthalb Jahrhunderten unter Mühen an biblischen Geboten eingepredigt haben mögen - das jubeln ihnen heute die neuen frohen Botschaften aus der westlichen Zivilisation wieder aus.«
Es gibt keine weltabgeschiedenen Inseln mehr, und auch auf dem idyllischen Ta''u im kleinen Manu''a-Archipel, wo Margaret Mead vor fast 60 Jahren eine »einfache, gleichförmige, primitive Kultur« zu entdecken meinte, wandeln rasch sich die Zeiten, wie trotzig und stolz auch die alten Manuaner das mythisch Ursprüngliche und Unvergängliche ihrer Heimat preisen.
»Manu''a ist der Garten Eden«, sagte Fagava''a. Doch es ist ein Garten Eden nur noch für die ganz Jungen und die Alten, denn die anderen sind ihm alle entflohen in lockendere Paradiese: nach Honolulu, nach Kalifornien.
Es ist ein Garten Eden, den nur noch 40 Flugminuten von Pago Pago trennen, in dem es Telephone gibt und Fernsehen, und in der Bürobaracke, in der Eddie Imo mir seine Gastfreundschaft gewährte, stand auch ein Videogerät. Davor hockten wir abends und guckten uns einen James Bond nach dem anderen an, mal mit Sean Connery, mal mit Roger Moore, von »Goldfinger« bis »Moonraker«, all diese wunderbaren Mythen einer weltumspannend technologischen Zivilisation.
Und erst tief in der Nacht, allein in der Finsternis, konnte ich wieder die Südsee hören, wie sie weit draußen gegen das Riff toste, so herrlich und bedrohlich wie seit Anbeginn.
Im nächsten Heft
Tahiti-Morgen mit Baguettes - Die weißen Haie der Lagune - Wo Venus erneut dem Meer entstieg - Der Wikinger von der »Kon-Tiki« - Bomben auf Mururoa - Freiheitsraum und Supermarkt
Bei einer Parade in Berlin 1911.Wilhelm Solf war Gouverneur Deutsch-Samoas von 1900 bis 1910, danachStaatssekretär im Reichskolonialamt. Von 1920 bis 1928 diente er derWeimarer Republik als Botschafter in Tokio. Er starb 1936. SeineWitwe Hanna und seine Tochter mit samoanischem Vornamen Lagi(Himmel) begründeten mit Gegnern des Naziregimes den »Solfkreis«.Sie standen 1944 wegen »Hochverrats, Aufwiegelung, Feindbegünstigungund Defätismus« vor Freislers »Volksgerichtshof« und überlebten dieKonzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen.Bei Deportation auf S.M.S. »Arcona«.