SPIEGEL: Herr Außenminister, wenige Wochen vor dem EG-Gipfel in Maastricht, der den Durchbruch bringen sollte zur wirtschaftlichen und politischen Union Westeuropas, sind die zwölf EG-Staaten zerstrittener denn je. Wird nationaler Egoismus wieder einmal Winston Churchills Vision von den Vereinigten Staaten von Europa zunichte machen?
HURD: Wir streiten nicht, wir verhandeln - mal vertraulich und bisweilen öffentlich. Und wir arbeiten hart daran, daß wir in Maastricht zu einer Übereinkunft gelangen. Wir wollen nichts verschleppen, doch einige Dinge müssen eben noch geklärt werden.
SPIEGEL: Nehmen wir als Streitpunkt das jüngste Beispiel - den deutsch-französischen Beschluß, eine gemeinsame Militärstreitmacht aufzubauen. Damit ist Britannien ganz und gar nicht einverstanden. Was stört Sie an diesem Plan?
HURD: Deutsche und Briten sind Nato-Mitglieder. Wir sind gegen alles, was diese gemeinsame Verteidigung dupliziert oder schwächt. Vergangenen Juli erst haben wir uns hier in London auf eine Überprüfung unseres Konzepts geeinigt. Nächsten Monat beim Nato-Gipfel in Rom werden wir die Arbeit daran fortsetzen. Wir sind alle dafür, den europäischen Beitrag und die europäische Identität innerhalb und außerhalb des Nato-Bündnisbereichs zu verstärken.
SPIEGEL: Die Ansichten dazu gehen aber ziemlich weit auseinander.
HURD: Mir ist immer noch nicht klar, wie sich das französisch-deutsche Konzept in die Struktur der Nato einfügen soll, der wir - Briten und Deutsche - verpflichtet sind. Da gibt es in den nächsten Wochen noch eine Menge zu prüfen und zu fragen.
SPIEGEL: Warum kann eine europäische Streitmacht nicht als Ergänzung zur Nato verstanden werden?
HURD: Wir haben bereits ein integriertes Oberkommando. Sollen wir noch ein Parallelkommando einrichten? Nein. Doppelgleisigkeit in der Nato macht keinen Sinn.
SPIEGEL: Und wie stünde es um Einsätze außerhalb des Nato-Bereichs?
HURD: Das ist ein anderes Problem. Großbritannien und Italien haben einen Plan für eine neue militärische Zusammenarbeit entworfen; der sieht keine neue große Armee vor. Wir möchten klären, wie der Nato unterstellte Einheiten eingesetzt werden können, falls die Westeuropäische Union entscheidet, Europa müsse außerhalb des Nato-Bereichs militärisch eingreifen.
Ich hoffe, daß eine Einigung darüber nicht allzu schwerfallen wird. Jetzt müssen wir definieren, wie die Verbindungen zum Europäischen Rat und zur Nato funktionieren sollen. Da müssen wir klare Antworten finden.
SPIEGEL: Es ist kein Geheimnis, daß in Europa - vor allem in Frankreich, aber auch in Ihrem Lande - die Furcht umgeht, die Deutschen wollten Europa dominieren. Steht hinter der französischen _(* Mit Redakteuren Olaf Ihlau und Lutz ) _(Krusche im Londoner Foreign Office. ) Initiative nicht der vernünftige Versuch, Deutschland in ein gemeinsames Sicherheitssystem stärker einzubinden?
HURD: Das haben wir doch schon - es heißt Nato. Das erfüllt diesen Zweck vorzüglich. Übrigens - ich habe nie zu denen gehört, die unken, dieses riesige neue Deutschland werde zum gefährlichen Giganten, den wir in Ketten legen müßten. Ich sehe das moderne Deutschland nicht so.
SPIEGEL: Nicht alle Nachbarn Deutschlands reagieren so gelassen. Manche sähen ganz gern solide Ketten.
HURD: Menschen reagieren nun mal unterschiedlich, ich sage Ihnen meine Meinung. Wir legen Wert darauf, mit dem neuen Deutschland eng zusammenzuarbeiten, das wir für fundamental demokratisch - diese Wertung möchte ich besonders betonen - halten. In diesem Geist wird der britisch-italienische Vorschlag von Premierminister John Major mit Bundeskanzler Helmut Kohl, von Hans-Dietrich Genscher und mir diskutiert werden.
SPIEGEL: Wird Europas Abhängigkeit von den Amerikanern in der Sicherheitspolitik mit der Schwächung der Sowjetunion nicht auf jeden Fall geringer?
HURD: Die neue Nato wird weniger Streitkräfte und weniger Amerikaner in Europa haben. Aber so zu reden, als nähmen wir den Abzug kanadischer und amerikanischer Streitkräfte einfach als gegeben hin, ist äußerst gefährlich. US-Regierung wie US-Kongreß streben dies nicht an. Verhalten wir uns aber so, als sei der Rückzug der Amerikaner nur noch eine Frage von ein, zwei Jahren, dann gehen wir das Risiko ein, die katastrophalen Fehler von 1919 und 1920 zu wiederholen.
Die Amerikaner in Europa - nicht als oberster Gebieter, sondern als Partner - sind der größte Sicherheitstrumpf, den Europa je gehabt hat. Den zu verschleudern bringt nichts. Wir müssen aus der Geschichte lernen. Gefahrenherde wird es immer geben.
SPIEGEL: Sie denken da an neue Nuklearmächte in Europa, wie möglicherweise die Ukraine?
HURD: Es ist durchaus möglich, daß in einer der bisherigen Sowjetrepubliken eine mächtige und sogar eine feindselige Macht entsteht. Auch im Nahen Osten und in Südeuropa können sich schnell neue Gefahrenherde bilden - zwar nicht in den Ausmaßen von Stalins oder Breschnews Armee, aber doch bedrohlich. Auf so etwas müssen wir uns einstellen. Wir dürfen den Amerikanern nicht good bye zuwinken und gleichzeitig sagen, wir brauchen eine kohärentere europäische Verteidigung.
SPIEGEL: Zwei jüngste Krisen - der Golfkrieg und Jugoslawien - stürzten die Europäer in heillose Verwirrung und Uneinigkeit. Bedarf es eigentlich noch schlagkräftigerer Beweise für die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik?
HURD: Es gibt da einen großen Unterschied. Im Golfkrieg hätte Europa besser aussehen können, stand aber insgesamt nicht so übel da, wie manchmal behauptet wurde. In Jugoslawien haben wir getan, was möglich ist. Bei jedem Treffen haben die Europäer sich einigen können, und das bleibt so.
SPIEGEL: Nur: Den Bürgerkrieg auf dem Balkan hat das wenig beeinflußt.
HURD: Wir bieten Chancen zum Frieden an. Ich glaube nicht, daß wir mehr tun können. Wir müssen da weitermachen und dürfen nicht verzweifeln. Doch erstmals hat die Gemeinschaft sich als Friedensstifter versucht und bei der Wirtschaftshilfe abgestimmt.
SPIEGEL: Was jetzt in Jugoslawien passiert, könnte gleichsam zum Muster für ethnische Unruhen auch in anderen Regionen Europas werden, insbesondere im früheren Sowjetblock. Muß die EG nicht fähig werden, als Europas Gendarm aufzutreten?
HURD: Keiner der Zwölf hat je vorgeschlagen, in Jugoslawien gegen die Bundesarmee oder eine der Republiken militärisch vorzugehen. Wir können nur mithelfen, wenn die Kontrahenten einen Waffenstillstand suchen, eine Friedenskonferenz anstreben oder ihren Konflikt völkerrechtlich lösen wollen.
SPIEGEL: Großbritannien und andere EG-Staaten hatten Wirtschaftssanktionen ins Auge gefaßt. Das ließ man dann aber, um nicht Unschuldige zu treffen. Derzeit machen die Serben, was sie wollen, und die EG-Politik gegenüber Belgrad wird zum Possenspiel.
HURD: Wie ein Possenspiel wirkt sie nur, wenn man glaubt, wir müßten einmarschieren oder könnten bei Wirtschaftssanktionen zwischen Angreifern und Angegriffenen unterscheiden. Ich stimme Ihnen zu, daß wir nach anderen Pressionsmöglichkeiten suchen müssen. Ich hatte bereits angeregt, Öllieferungen zu kappen, weil man, um Panzer, Flugzeuge und Raketen zu bewegen, Treibstoff braucht. Doch die EG-Kommission glaubt, daß solche Schritte zunächst durch einen Beschluß des UN-Sicherheitsrats abgesegnet werden müßten.
SPIEGEL: Aber was geschieht denn nun wirklich? Der Vermittler Lord Carrington unterzeichnet mit Milosevic und Tudjman ein Abkommen nach dem anderen, und am nächsten Morgen geht die Schießerei weiter; die Serben marschieren in Dubrovnik ein, wo es keinerlei bedrohte Serben zu beschützen gibt. Ist das kein Possenspiel?
HURD: Es war immer das Los des Friedensstifters, verspottet zu werden, wenn er scheitert - und gepriesen zu werden, wenn er Erfolg hat.
SPIEGEL: Mit dem Balkan-Konflikt ist das Gespenst des Nationalismus wiederaufgetaucht. Fürchten die Briten, daß sich in der Mitte Europas eine Art deutscher Block unter Vereinnahmung auch der nördlichen Teile Jugoslawiens bilden könnte?
HURD: Punkt eins macht uns wirklich Sorgen, Punkt zwei nicht. Jugoslawien ist zusammengebrochen. Es wird nicht neu entstehen - weder als Monarchie noch wie es unter Tito war. Die Bürger der sechs Republiken müssen entscheiden, ob sie sich gegenseitig umbringen oder friedlich miteinander leben wollen.
SPIEGEL: Als Premierminister Major letzten März in Bonn ankündigte, Britanniens Platz sei »im Herzen Europas«, glaubten viele, London habe mit dem antieuropäischen Thatcherismus Schluß gemacht. Jetzt hört man Major sagen, Britanniens Interessen seien wichtiger als »irgendein Abkommen«, und Sie selbst warnen vor einer »europäischen Zwangsjacke«. Muß das Ihre Partner nicht ein bißchen verwirren?
HURD: Nur solche, die sich nach einer Zwangsjacke sehnen. Wir wollen ein Europa, das offen ist - auch nach dem Osten hin. Die EG-Staaten sollen außenpolitisch zusammenarbeiten. Ohne Zwangsjacke heißt: Wir dürfen Europa nicht abschotten als protektionistische Festung.
SPIEGEL: Die EG und Efta haben gerade ein Abkommen über eine europäische Freihandelszone aus 19 Staaten geschlossen. Wie weit wollen Sie die Gemeinschaft öffnen?
HURD: Sehr weit. Wir müssen an ein Europa in sehr großen Dimensionen denken, wenn vielleicht auch nicht in unmittelbarer Zukunft. Aber wer will etwa nein sagen zu Österreich und Schweden?
SPIEGEL: Die meisten Europäer wollen erst die politische Union und danach über neue Mitglieder entscheiden.
HURD: Darüber wollen wir in Maastricht zu einer Übereinkunft gelangen.
SPIEGEL: Viel Glück - aber was soll denn nun konkret herauskommen?
HURD: Ich denke, daß wir in Maastricht noch nicht die endgültige Gestalt Europas sehen werden, doch wir können einen Schritt vorankommen. Die Frage ist, wie groß der Schritt sein wird. Wenn wir uns nicht einigen, sind jene enttäuscht, die ein föderales Europa mit sehr starken zentralen Institutionen von Regierung und Parlament wünschen. Solch eine Übereinkunft wäre nun wiederum für andere eine Enttäuschung.
SPIEGEL: Das Wort »föderal« ist für britische Antieuropäer ein rotes Tuch.
HURD: Ich weiß, daß dieses Wort in Deutschland eine andere Bedeutung hat als bei uns. Das ist eines der Probleme, die wir lösen müssen. Wir wollen ein Abkommen, das gleichzeitig mit den Überzeugungen unseres Parlaments übereinstimmt und für alle Zwölf der EG akzeptabel ist. Das ist zu schaffen.
SPIEGEL: Der Präsident der EG-Kommission, Jacques Delors, ein in Ihrem Land nicht sonderlich geschätzter Mann, warnte im SPIEGEL davor, daß ein Kartell der »Neinsager« und die »Mittelmäßigkeit« in Maastricht triumphieren könnten. Ist diese Sorge nicht begründet?
HURD: Delors weiß, daß wir seinen Ansichten über Europa nicht zustimmen. Er ist ein Zentralist, obwohl er mit dieser Bezeichnung nicht einverstanden sein dürfte. Aber die Kommission hat einen natürlichen Zentralisierungstrieb. Wir haben unsere Dispute mit Delors, mit dem ich gern diskutiere. Er ist ein höchst ehrenwerter und intelligenter Mann. Nur: Manche seiner Vorstellungen, das weiß er sehr wohl, entsprechen nicht denen des britischen Volkes.
SPIEGEL: Britannien verweigert dem Europaparlament in Straßburg kategorisch mehr Rechte. Ist das nicht unlogisch für ein Land, das stolz darauf ist, als Mutter der Parlamente zu gelten?
HURD: Überhaupt nicht. Wie ist denn das Unterhaus zu seiner Macht gekommen? Doch nicht durch Gesetzgebungsprozesse, nicht durch Verhandlungen. Unser Parlament errang seine Macht, indem es die Regierenden kontrollierte und Zusammenstöße nicht scheute. Genau das sollte auch das Europaparlament tun.
SPIEGEL: Soll dieses Straßburger Parlament neue Befugnisse erhalten?
HURD: Wenn das Europaparlament wirkliche Macht wünscht, sollte es die Brüsseler Exekutive auf jenen Gebieten zu kontrollieren suchen, wo keinerlei Rivalität mit nationalen Regierungen besteht. Die Kommission hat nach den geltenden Verträgen bestimmte Befugnisse, die sehr wohl vom Europaparlament überwacht werden können.
SPIEGEL: Während Ihrer Zeit als Innenminister hatten Sie mit gewalttätigen Unruhen von Minoritäten und Einwanderern zu tun. Jetzt bricht eine Flut von Immigranten und Asylsuchern über Europa herein, trifft besonders Deutschland, Italien und Frankreich. Ist das nicht ein Thema für Maastricht?
HURD: Ja, das müßte ein Thema sein. Die Deutschen haben da ein riesiges Problem. Mr. Major und ich wollen diese Woche in Bonn und Leipzig darüber diskutieren.
SPIEGEL: Läßt sich die Lage in Deutschland und Großbritannien vergleichen?
HURD: Nicht in der Größenordnung, doch in den Stimmungen. Wir werden demnächst Gesetzesentwürfe vorlegen, die wirkungsvoller zwischen echten politischen Flüchtlingen und Leuten unterscheiden, die nur kommen, weil auf unserer Seite des Zauns das Gras saftiger ist.
SPIEGEL: Kann die Gemeinschaft hier zu einer einheitlichen Linie finden?
HURD: Wir müssen sehen, wo wir gemeinsam handeln können. Wir sind nicht dafür, das ganze Einwanderungsthema in die Römischen Verträge einzubringen, die Kommission oder den Europäischen Gerichtshof damit zu beschäftigen. Wir glauben nämlich, daß die nationalen Regierungen untereinander mit diesen Fragen besser fertig werden.
SPIEGEL: Stellt die liberale deutsche Gesetzgebung in der Asylfrage eine Bedrohung für andere EG-Länder dar?
HURD: Ihre Verfassung ist Frucht Ihrer Geschichte. Ich möchte mich zu Ihren Gesetzen nicht äußern. Wir Briten haben keine geschriebene Verfassung.
SPIEGEL: Im vergangenen Mai pries Helmut Kohl Premierminister Major als »Glücksfall« für Europa. War das nicht ein bißchen zu optimistisch gesehen?
HURD: Die beiden Männer arbeiten eng zusammen. Ganz offensichtlich diskutieren sie gern, weil sie beide konstruktiv und realistisch an die Dinge herangehen. Sie stecken mit den Köpfen nicht in den Wolken, sondern blicken vorwärts. Aus diesen Gemeinsamkeiten ist eine persönliche Freundschaft entstanden. Das dient Europa.
SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
* Mit Redakteuren Olaf Ihlau und Lutz Krusche im Londoner ForeignOffice.