JENS DANIEL: EUROPA REICHT WIEDER BIS BREST
Der Name Wladyslaw Gomulka bezeichnet das bedeutsamste europäische Ereignis seit Kriegsende. Polen,
der wichtigste Satellit des Kreml, hat sich ohne Gewaltanwendung von der Moskauer Zentralsonne lösen können, Ungarn erkämpft sich unter blutigen Wirren den Weg in eine noch ungewisse Zukunft. Die Rote Armee toleriert den Russenfeind Gomulka und schützt den Anti-Stalinisten Nagy. Die innere Umwandlung des Kommunismus zeitigt überraschende und, wie man sieht, überreife Früchte.
Die unter Stalin zum bloßen Stellungskrieg eingefrorene Weltpolitik ist im Schönwetterkurs seiner Nachfolger entscheidend aufgebrochen, weitaus zu stürmisch für die bestürzten Initiatoren. Europas Grenze verläuft nicht mehr an der Oder, sondern wieder bei Brest-Litowsk. Das drohende Gespenst einer von sowjetischen Kommissaren beherrschten Alten Welt hat sich buchstäblich über Nacht in nichts aufgelöst. Wenn die Russen nicht einmal Polen halten können, das sie ein Jahrhundert lang unter ihrer Fuchtel hatten, wie würden sie England oder Deutschland halten können? Militärische Eroberungen der Sowjet-Marschälle sind sinnlos geworden. Die Marschälle aller Welt schulden ihrem schlecht behandelten Kollegen Rokossowski Mitgefühl; auch sie zählen zu den Leidtragenden von Warschau und Budapest.
Der verzweifelte Kampf in Ungarns Städten und Ebenen darf nicht den Blick für die paradoxe Tatsache trüben, daß der blutige Aufstand möglich geworden ist, weil dem Militär und der Polizei nach dem Willen der Machthaber eben nicht mehr die ausschließliche, nicht mehr die ausschlaggebende Rolle zugedacht war. Die Politik, die Rücksicht auf die, wenn auch noch nicht auf den Menschen, tritt in ihr Recht ein. Man würde die Ereignisse in den sogenannten Volksdemokratien und in Rußland selbst gefährlich unterschätzen, wenn man verkennen wollte, daß Stalins Nachfolger die Entwicklung, deren Tempo ihnen jetzt über den Kopf gekommen ist, selbst angesteuert haben.
Als Stalin starb, entfielen nicht nur die Autorität und das Genie dieses furchtbaren und bedeutenden Mannes, vielmehr hatte sich auch seine Art des Regierens bereits überholt. Die Mechanik drehte sich noch in ihren Routine-Gleisen, aber sie ruhte nicht mehr auf der politischen Wirklichkeit. Um schrankenlos herrschen zu können, hatte sich Stalin eines Mittels bedient, das kein Vorbild in der Geschichte hat. Er machte die ökonomisch-politischen Rezepte des Karl Marx zu einer alleinseligmachenden Heilslehre, deren unfehlbarer, einziger Verkünder Josef Stalin hieß. Er allein bestimmte, wer von dieser Afterlehre abgewichen und dem Gericht verfallen war. So wurde die Frage, ob mehr oder weniger Hackfrüchte angebaut werden sollten eine Angelegenheit von Leben und Tod. Jeder konnte abweichen, aber nicht jeder durfte sich unterwerfen.
Das System war perfekt. Es hatte jedoch zur Voraussetzung, daß es immer nur einen Hohenpriester gab. Darum wurde Tito, der für sich das Recht in Anspruch nahm, die kommunistische Lehre für seine Jugoslawen selbst auszulegen, unter einem wahnwitzigen Aufwand in Acht und Bann getan. Darum wurden alle kommunistischen Führer im Besatzungsbereich der Roten Armee, die auch nur im Geruch standen, einen »eigenen Weg zum Sozialismus« zu wissen, durch Inquisitionsgerichte als titoistische Ketzer abgeurteilt und ausgestoßen als »tolle Hunde, die erschossen werden müssen«. Das System wurde auch nicht von Tito, sondern aus einer ganz anderen Ecke erschüttert. In China war Mao Tsetung ohne die Hilfe Stalins zur Macht gelangt. Nun gab es einen zweiten Weg zum Sozialismus, da Stalin den Mao nicht wohl mit einem Bannfluch belegen konnte. Jetzt war die Abdankung des Papstes in Moskau nur noch eine Frage des Datums. Es fiel natürlicherweise mit dem Tode des Diktators zusammen.
Wir im Westen sind nur allzu leicht geneigt, die Ereignisse seit Stalins Tod an der Wirkung abzulesen, die sie bei uns ausgelöst haben. Wir reden und schreiben so, als hätten die Söhne der Alt-Revolutionäre sich zu einer neuen Verschwörung, diesmal des Lächelns, zusammengefunden, um dem Westen nur desto raffinierter den Garaus zu machen. In der Tat hat die Sowjet-Politik einige teils freundliche, teils unverbindliche Gesten gemacht, um außenpolitisch aus dem Starrkrampf herauszukommen, den Stalin seinen Erben hinterlassen hatte. In Wahrheit aber waren die Augen der Sowjetführer nach innen gewandt, mit ihren eigenen ungeheuren Problemen waren sie bis zur Selbstvergessenheit beschäftigt.
Wir wissen nicht im einzelnen, warum sie eine radikale Änderung ihrer Politik beschlossen. Tatsache ist, daß Malenkow während seiner kurzen Ministerpräsidentschaft die Konsumgüterproduktion ankurbelte, ohne daß ein Aufstand der Bevölkerung ihn dazu gezwungen hatte. Selbstverständlich machte die Welle neu erwachter Begehrlichkeit, machte die Sehnsucht nach einem besseren Leben an den Grenzen zu den Satelliten-Staaten nicht halt. Tatsache ist: Dem Staatssicherheitsdienst wurden nach der Liquidation des Polizeiministers Berija Klauen und Zähne derart beschnitten, daß eine totale Kontrolle der Partei-Apparate in den Satelliten-Staaten nicht mehr möglich war. Tatsache ist, daß die neuen Männer die Stelle des unfehlbaren Hohenpriesters, der auch ihnen selbst jederzeit die seidene Schnur schicken könnte, nicht mehr besetzen wollten. Die Partei-Autorität als Herrschaftsmittel über außer-russische Völker schied damit aus.
Alle diese Liberalisierungs-Maßnahmen wurden durch retardierende Momente unterbrochen. Oft tat man zögernd zwei Schritte nach vorn und sprang einen zurück. Fraktionskämpfe zeichneten sich schattenhaft hinter den dünner gewordenen Wänden des Polit-Büros ab, aber nirgends gab es eine Umkehr. Eine zuverlässige Mehrheit billigte den Neuen Kurs.
Er wurde ohne viel Rücksicht auf die kommunistischen Bruder-Parteien und auf den großen fernöstlichen Verbündeten durchgesetzt - im ahnenstolzen China verstand man die abrupte Demontage des Stalin-Mythos am wenigsten. Aber die Sowjets waren sich gleichwohl von Beginn an darüber klar, daß man sich nach einem neuen Bindemittel umsehen müsse, um das Verhältnis zu den kommunistisch regierten Ländern Ost-Europas neu zu gründen. Immerhin war da noch Tito, den man nicht nur außenpolitisch, sondern, wichtiger noch, im Innern des von der Entstalinisierungswelle krisenhaft geschüttelten Blockes mit einer Mittler-Rolle betrauen konnte: Tito, der jetzt für sich in Anspruch nehmen kann, mehr für die Schwächung der Nato und
des Ostblocks zugleich getan zu haben als irgendein anderer.
Was immer die Gründe gewesen sein mögen, in Belgrad spektakulär Abbitte zu leisten, wir müssen festhalten, daß die Versöhnung mit dem Ketzer schon zuoberst auf dem Programm stand, als der tote Abgott noch nicht fertig für sein Pharaonengrab präpariert war. Es hieße, die langjährigen Diener Stalins zu ahnungslosen Toren stempeln, wollte man ihnen die Einsicht absprechen, daß die Rehabilitierung Titos die nationalbewußten Länder des Ostblocks zwangsläufig auf die Beine bringen mußte, Tito Schritt für Schritt nachzufolgen.
Die These, daß am Ende dieses Prozesses auch nach Ansicht Chruschtschews ein von Moskau unabhängigeres, ein »titoistisches« Polen stehen sollte, ist unwiderlegbar. Der Kreml hat die Machthaber der Satelliten-Länder geradezu gezwungen, sich mit den Jugoslawen wieder gut zu stellen. Er hat die Titoisierung Ost-Europas bewußt in Kauf genommen - für einen späteren Zeitpunkt und unter etwas freundlicheren Modalitäten. Man wußte, daß die Sowjets Ost-Europa an die noch lebenden »Titoisten« freigeben wollten - man wußte nicht, wann und daß sie es zu spät tun würden.
Freilich ist die russische Geschichte reich an Beispielen dafür, daß es leichter ist, eine Terrorherrschaft auszuüben, als sie allmählich zu lockern. Wann immer sich ein Zar zu liberalen Maßnahmen verstand, folgten die Attentate der Anarchisten auf dem Fuße. Der Unterdrückte, der die halbe Freiheit kosten soll, ist leicht versucht, zu früh zum, wie er meint, letzten Schlag auszuholen. In Polen hat der im rechten Augenblick von der nationalen Welle getragene Heros Gomulka die chaotische Revolte unter seine Kontrolle gebracht. In Ungarn haben die Sowjet-Truppen dem polnischen Tito demonstriert, wo auch für ihn im Notfalle immer noch ein Feuermelder bereitsteht.
Die Situation des Ungarn Nagy mutet tragisch an. Er wurde 24 Stunden zu spät berufen, um den Aufstand noch abzufangen, und 24 Stunden zu früh, um Hände und Haupt von dem Blut freizuhalten, das die von ihm zu Hilfe gerufenen Sowjet-Truppen vergossen haben. Gleichwohl wird auch Ungarn den riskanten, dornigen Weg zur Selbständigkeit weitergehen müssen, den die osteuropäischen Völker stellvertretend für ganz Europa erstreiten. In Polen und Ungarn hat der europäische Kommunismus seine letzte Chance.
Es wäre innigst zu wünschen, daß der Westen Gomulka und Nagy, oder wer immer an dessen Stelle tritt, nicht durch gönnerhaftes Auf-die-Schulter-Klopfen und lautes Siegesgeheul das Leben schwer macht. Eine bürgerliche Regierung nach westlich parlamentarischem Muster wäre in Polen und Ungarn zur Zeit nicht konsolidierbar. Gomulka und Nagy sind die besten Leute, die wir uns momentan dort wünschen können. Allerdings entsprechen sie in Wahrheit auch am ehesten den wahren Interessen der Sowjets.
In der Tat liegen die politischen Vorteile auf der Hand, die den Sowjets winken, wenn es ihnen gelingt, diese kaum vermeidbare gefährliche Krise zu überstehen. Zwar, die militärische Schlagkraft des Ostens wird nennenswert geschwächt, aber die kommunistische Sache wird gestärkt, wenn Rußland nicht mehr der Zwingherr, sondern nur noch der große Helfer der kommunistischen Parteien und Regimes ist. Die Stimme des Kreml wird bei den Farbigen und in der Uno mehr Gehör finden, wenn die Sowjets sich des üblen Geruchs ihrer ohnehin dubiosen Militärherrschaft über Ost-Europa freiwillig-unfreiwillig entledigt haben werden.
Es war Stalins Erfolgsprinzip, die Sache des Kommunismus mit den nationalen Interessen Rußlands gleichzusetzen, und diese wieder mit seiner eigenen Gewaltherrschaft. Überall auf der Welt, besonders aber in Europa, hatten die Kommunisten und selbst die sozialistischen Parteien an der schweren Hypothek zu tragen, die Stalins Imperialismus ihnen aufbürdete.
Nun, da es in Warschau, Budapest und Belgrad einen von Moskau tolerierten »eigenen Weg zum Sozialismus« gibt, sind auch die Marionettenfäden durchgeschnitten, an denen die kommunistischen Parteifuhrer Italiens und Frankreichs ihre oft abstrusen Verrenkungen vollführt haben. Volksfrontregierungen drohen in diesen Ländern, wenn der Kommunismus den Satelliten-Ballast losgeworden ist. Der Titoisierung in Osteuropa entspricht ein Volksfront-Klima in Italien und Frankreich. Beide Elemente scheinen in der Strategie der Moskauer Genossen Platz zu finden.
So augenfällig es nun im wohlverstandenen
Interesse der Sowjets läge, wenn die von ihnen selbst als unumgänglich erkannte schmerzhafte Operation der Loslösung auf einmal abrollte, Schlag auf Schlag gewissermaßen - das Führungskorps einer Großmacht kann derart brutale Nasenstüber naturgemäß nicht ohne innere Machtkämpfe hinnehmen. Es wäre ein Wunder, wenn die Stellung des Parteisekretärs Chruschtschew durch die Krise an Rußlands Westgrenze nicht angeschlagen wäre. Mag auch die Gewalt der antisowjetischen und antirussischen Ressentiments das Politbüro davon überzeugt haben, daß Chruschtschews Kurs nur Positionen gefährdet hat, die auf die Dauer ohnehin unhaltbar waren: Es wäre gleichwohl merkwürdig, wenn Chruschtschews Feinde die Blöße nicht ausnutzten.
Ein Wechsel im Kurs ist unwahrscheinlich; er würde die Sowjets um die Früchte ihrer mühsam gewahrten Zurückhaltung bringen. Ein Wechsel in der Parteiführung und in den Methoden der Parteiführung bleibt denkbar. Schließlich war es Chruschtschew, der den toten Stalin vor Halbjahresfrist mit unerhörter, beinahe selbstquälerischer Offenheit angegriffen hat. Diesen Startschuß für die Empörung in Polen und Ungarn hat der egozentrische Parteiboß kaum mit Vorbedacht gegeben. Das große Spiel, das er riskiert und das er noch nicht verloren hat, war nicht hinlänglich vorbereitet. Sonst hätte es schwerlich passieren dürfen, daß die Polen ihrem Marschall Rokossowski, diesem Relikt aus der Hochblüte des Stalinismus, den Sitz unter dem ordensgeschmückten Leib buchstäblich wegziehen mußten.
Aber ob mit Chruschtschew oder ohne ihn, das Problem des von Besatzungs-Hypotheken gereinigten russischen Kommunismus wird dasselbe bleiben: eine neue Herrschaftsform zu etablieren, die halbwegs auf der Zustimmung der Massen fußen kann, und die eine gewisse Rechtsstaatlichkeit garantiert. Eine Demokratie nach westlich parlamentarischem Muster wird man im Lande der Sowjets nicht erwarten dürfen. Es ist sogar zweifelhaft, ob Ungarn und Polen, Länder mit parlamentarischen Traditionen also, sich dazu bekehren würden. Aber eine Versöhnung zwischen Regime und Volk hat zumindest in Rußland selbst begonnen. Wir sollten dabei nicht übersehen, daß unsere westlichen Demokratien teilweise hinter der Fassade der Verfassungen auch nicht viel mehr für sich buchen können als Zustimmung der Mehrheit und Rechtsstaatlichkeit. Das Massenzeitalter ist der parlamentarischen Demokratie nicht eben günstig. Sie kann sich halten, wo sie etabliert ist, aber sie in junge Länder ohne gewachsene Gesellschaftsordnung zu exportieren, scheint schon fast unmöglich. Ihnen sagt das sowjetische Vorbild mehr: ein nationaler Sozialismus, die Kumulierung nationaler Wirtschaftsmacht in den Händen einer diktatorisch regierenden Führungsgruppe. Je weniger Militär und Polizei sie einsetzen, desto attraktiver werden die Sowjets den weltweit grassierenden »National-Sozialismus« bedienen und manipulieren können.
Was Europa angeht, so scheint den Sowjets in undeutlichen Umrissen eine lockere Föderation sozialistischer und neutraler Staaten vorzuschweben - ein Leitbild, das auf die Deutschen naturgemäß keine bedeutende Anziehungskraft auszuüben vermag. Jedenfalls wird der europäische Zusammenschluß, der bislang wesentlich von negativen Aspekten umrahmt war, die fehlenden positiven Antriebe für absehbare Zeit auch nicht von einzelnen Staaten des Ostblocks empfangen. Sie brauchen Wirtschaftshilfe, aber keine Zollunion.
Anders die deutsche Frage. Nichts gilt mehr, weil es vor 14 Tagen galt. Jede Position muß Punkt für Punkt neu geprüft und bestätigt werden. Keine Eile ist vonnöten. Der kommunale Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen hätte die undurchdachten Äußerungen der Regierungsspitze durchaus vermissen können. Sicher scheint lediglich, daß wir, im Sinne der Anregung Carlo Schmids, nicht mit den polnischen Machthabern über die Oder-Neiße-Linie sprechen können, weder mit den jetzigen, noch mit etwaigen Nachfolgern.
Jede polnische Regierung, erst recht eine bürgerlich-christliche, müßte die Oder-Neiße-Grenze zum unantastbaren Heiligtum erklären. Wenn der Nationalkommunist Gomulka sich halten wird, dann nicht zuletzt, weil die Wahrung der jetzigen Grenzen Polens unter dem jetzigen Regime ein gemeinsames Anliegen der Russen und Polen ist, das nationale Anliegen der Polen schlechthin, die zum ersten Male innerhalb klar übersichtlicher Grenzen ausschließlich Polen regieren. Wenn wir uns alle denkbaren Bedingungen vergegenwärtigen, unter denen die Sowjets den Polen eine neue Grenzregelung zu unseren Gunsten aufnötigen könnten, wird sehr bald klar, daß wir uns eine von Moskau erzwungene Revision nicht wünschen dürfen, abgesehen davon, daß sie wirklich nicht zur Debatte steht. Aber man kann unsere Realpolitiker nicht früh genug aus ihren Großmannsträumen auf die Erde zurückholen. Wir werden uns zu überlegen haben, ob wir die nicht unwichtige Hilfe Polens bei der Wiedervereinigung Zug um Zug mit einer Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze erkaufen wollen - das ist die neue Situation.
Aus dem Dunst der Propagandaschlacht gegen Moskau und Pankow ist dank Gomulka über Nacht ein Spiel mit drei Kugeln sichtbar geworden, ein ganz unmachiavellistisches, charaktervolles Spiel, das Zähigkeit und Biegsamkeit verlangt. Es verspricht keine raschen Ergebnisse, obwohl wir uns gegen Überraschungen wappnen müssen. Die deutsche Diplomatie hat in dem Dreieck Moskau-Warschau -Pankow wieder ein Manöverfeld.
Wenn wir bisher darauf verzichtet haben, unsere Fühler nach Moskau und Pankow auszustrecken, so werden wir unsere Kontaktleute künftig nicht nur zu den dortigen Machthabern, sondern auch nach Warschau schicken müssen. Wir werden kaum darum herumkommen, diplomatische Beziehungen zu Warschau (und Prag und Budapest) aufzunehmen.
Ob wir Pankow anerkennen, hat nicht die
Wichtigkeit, wie Schuldiplomaten wohl glauben. Das A und A des Auswärtigen Amtes wird auf Dauer nicht darin bestehen können, die völkerrechtliche Anerkennung Pankows zu verhindern. Viel dringlicher wäre es, das SED-Regime auf seine Festigkeit hin abzutasten und es womöglich zu erschüttern. Die Ereignisse in Polen und Ungarn können ihren Eindruck auf die Sowjetzonen-Prominenz nicht verfehlen, die ja voller Mitläufer und Opportunisten steckt. Lassen wir sie unter sich, werden sie sich enger aneinander schließen. Wir sollten in die Zone gehen und die dortigen Machthaber auffordern, das freiheitliche Programm der Gomulka und Nagy auch für die sogenannte DDR zu verkünden. Wir sollten mit Spitzenfunktionären der SED über den »deutschen Weg zum Sozialismus« diskutieren. Es gibt für die DDR keinen derartigen Weg, denn jeder Schritt vom Stalinismus weg wird sie in unsere Arme führen. Wie wäre es, wenn unser Gesamtdeutscher Minister, der seine Broschüren ohnehin umschreiben lassen muß, mit einem zu ernennenden Parallel-Minister von Pankow einen ständigen gesamtdeutschen Ausschuß bilden würde, ohne wechselseitige formale Anerkennung?
Je härter wir dem Regime der DDR auf den Fersen sind, desto erschwinglicher machen wir den Preis, den wir den Sowjets eines Tages doch noch werden bezahlen müssen. Wenn die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« sich bereits darüber Gedanken macht, ob man den führenden SED-Funktionären, die »tätige Reue« übten, nicht Straffreiheit zusichern könne, so zeigt sich hier wieder jenes bedauernswerte und verhängnisvolle Unmaß an Fehleinschätzung, das die Ost-Vorstellungen des deutschen Bürgertums kennzeichnet. Glaubt man denn, die Zone werde uns wie eine angestoßene Pflaume ins Körbchen fallen? Eben weil es in Ost-Berlin keinen Tito geben kann, werden wir den Kaufpreis letztlich bei den Sowjets zu erlegen haben. Nur wenn man mit einem baldigen Zusammenbruch des gesamten Sowjet-Regimes rechnet, erscheint es sinnvoll, die Machthaber der DDR »im eigenen Saft« schmoren zu lassen. Abgesehen davon, das ist kein ergiebiger Saft. Pressen wir ein wenig, indem wir ihnen auf den Leib rücken! Vielleicht treffen wir dabei auf einflußreiche Leute, die den Weg zurück suchen, und die uns helfen wollen, den Preis zu drücken. Allerdings, wenn wir nur aus der Nato wieder heraus müssen, vielleicht unter gleichzeitiger Entlassung Polens oder der Tschechoslowakei aus dem östlichen Militärblock, dann werden wir billig davongekommen sein.
Sprecht mit Pankow, sprecht mit Warschau, sprecht mit den Leuten im Kreml! Die Sowjets werden ihre reichlich antiquierte deutsche Bastion nicht ewig halten wollen. Sie werden sie eines Tages zu vernünftigen Bedingungen abstoßen. Das Ende der deutschen Spaltung ist wieder in Sicht.