Europa: »Zum Zusammenraufen verdammt«
Das Signal aus Paris kam rechtzeitig zur morgendlichen Lagebesprechung im Kanzleramt. Am vergangenen Donnerstag gegen 9 Uhr avisierte die deutsche Botschaft in Paris ein Billett des französischen Staatspräsidenten Georges Pompidou an Bundeskanzler Willy Brandt.
Auch den Tenor des angekündigten Schriftstücks sagte die Botschaft schon voraus: Der Franzose werde den Kanzler wissen lassen, sein Landwirtschaftsminister Jacques Chirac habe bei seinem Interview über die deutsch-französischen Beziehungen nur für sich selber gesprochen.
Genau daran aber mögen die Bonner Regenten nicht recht glauben. Sie gehen davon aus, daß die Äußerungen des Gaullisten Chirac in der Zeitschrift »Le Point« die Meinung des Präsidenten wiedergeben, vielleicht gar von ihm inspiriert seien.
Pompidous Minister hatte harte Worte gewählt: »Deutschland bereitet mir Sorgen wegen seiner Abwendung von Europa: »Zunächst habe er geglaubt, die »Europa-Entfremdung« sei lediglich bei seinem deutschen Agrar-Kollegen Josef Ertl festzustellen. Als er jedoch im Juni Präsident Pompidou zu den deutsch-französischen Konsultationen nach Bonn begleitet habe, »entdeckte ich, daß dies in Wahrheit die Haltung der Regierung Brandt ist«.
Bei ihrer Vermutung, die von den Bonner Diplomaten in Paris angekündigte Botschaft diene lediglich dazu, dem Kanzler Genugtuung zu verschaffen, sei aber in der Sache unrichtig, stützt sich die Bundesregierung auf ein vertrauliches Gespräch, das Pompidou Anfang August führte.
In kleinem Kreis hatte Pompidou höchstpersönlich seinen Unmut über Bonn und seine Furcht vor den Deutschen artikuliert. Bei einem Mittagessen mit den Direktoren der führenden französischen Zeitungen entwarf der Staatschef das Schreckensbild eines auf Bonner Betreiben neutralisierten Mitteleuropa, an dessen Rand ein isoliertes Frankreich um seine Unabhängigkeit bangen müsse.
Äußerer Anlaß der düsteren Vision bei Tisch war eine SPIEGEL -Geschichte, in der am 23. Juli über die wachsende Europa-Müdigkeit in der Bundesregierung angesichts hoher Agrarkosten -- Bonn muß täglich vier Millionen Mark in den vorwiegend Frankreich zugute kommenden Agrar-Etat einschießen -- und der französischen Blockade einer politischen Union berichtet worden war.
In den Pariser Amtsstuben und auch im Elysee-Palast wurde der Artikel als von der Bundesregierung inspirierte Drohung mißverstanden. Das Schweigen der Bonner Botschaft deuteten die Franzosen flugs in eine offizielle Bestätigung ihres Verdachtes um. Als Kanzler Brandt ärgerlich bei seinen Bonner Beamten ein distanzierendes Wort zu dem Bericht anmahnte, war es bereits zu spät.
Während die Journalisten noch in ihren Artikeln den Alptraum des Präsidenten beschrieben, sorgte Pompidou bereits für weitere Eskalation. In der vorletzten Woche empfing er einen ihm besonders vertrauten Minister zu dreistündigem Tischgespräch: Jacques Chirac. Wenige Tage später erschien dann die Chirac-Version in »Le Paint« -- und erreichte den Adressaten, Kanzler Brandt.
Der Deutsche, der seine Regierungszeit im Dezember 1969 mit dem Europa-Gipfel in Den Haag eingeleitet und stets die Bedeutung einer fortschreitenden Einigung Europas als Grundlage seiner Entspannungspolitik gegenüber dem Osten betont hatte, fühlte sich grundlos verdächtigt.
Am vergangenen Mittwoch im Kabinett machte der Kanzler aus seiner Verbitterung keinen Hehl, schonte dabei aber Pompidou. Für den westdeutschen Regierungschef, so Brandt in der Ministerrunde, könne nur gelten, »was Präsident Pompidou in Bonn gesagt hat«.
Der Kanzler weiter: »Mir ist es ganz egal, was Chirac sagt oder meint oder was seine Motive sind. Mein Gesprächspartner ist Pompidou.« Für den Fall, daß der Franzose seinen Agrarminister decken sollte, kündigte Brandt an: »Dann bitte ich darum, daß jeder hier zur Kenntnis nimmt, daß ich nicht mit mir spielen lasse und dann auch sehr ungemütlich werden kann.«
Trotz aller Verärgerung, so wies der Kanzler seine Regierungsmitglieder an, dürfe man sich jetzt nicht in eine Konfrontation mit den Franzosen treiben lassen.
Verwirrt machten sich Kanzleramt und AA daran, Ursachen und Ziele der Attacken von jenseits des Rheins zu analysieren. Zwei Motive scheinen ihnen plausibel:
* Nach dem enttäuschenden Ausgang der französischen Parlamentswahlen sei Pompidous Stellung gegenüber den dogmatischen Anti-Europäern um den früheren Verteidigungsminister Michel Debré schwächer geworden und zwinge ihn zu Konzessionen gegenüber den Alt-Gaullisten;
* Pompidou habe sich zur Flucht nach vorn entschlossen und bereite eine Europa-Initiative vor, die er aber innenpolitisch nur verkaufen könne, wenn er deutlich mache, daß die gefährlichen Deutschen nur auf diese Weise von ihrem verhängnisvollen Drang nach Osten abgehalten werden könnten.
Als weitere Arbeitshypothese führten die Bonner Analytiker an, daß Pompidou die Deutschenfurcht als Alibi für eine grundsätzliche Schwenkung der französischen Politik aufbaue.
Sicher waren sich die West-Experten in der Annahme, daß in Paris das Gefühl der Selbstisolierung wachse. Die ehemalige Großmacht, von Bonn nicht nur wirtschaftlich, sondern seit Willy Brandts Kanzlerschaft auch politisch überholt, schlägt sich zudem mit einem deutschen Problem herum, das in der Bundesrepublik spätestens seit dem Grundvertrag mit der DDR kaum noch diskutiert wird -- der Wiedervereinigung Deutschlands.
Heimliches Ziel der Bonner Ostpolitik, so vermuten die Franzosen, sei die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten zu einem neutralen Gesamtdeutschland. Die wirtschaftliche Potenz des östlichen Nachbarn werde dann übermächtig. Überdies reichte der Einfluß der Sowjet-Union dann bis unmittelbar an den Rhein.
Als Kronzeuge für ihren Verdacht dient ihnen Brandts Ost-Architekt Egon Bahr, von dem in französischen Regierungszirkeln kolportiert wird, er wolle die Bundesrepublik aus der westeuropäischen Integration lösen und mit Billigung der beiden Supermächte USA und UdSSR eine autonome deutsche Politik betreiben. »Le Monde« dichtete denn auch bereits: »Deutschland, nach Nietzsche ein Volk der Mitte, geteilt zwischen Slawen, Romanen und Angelsachsen, spielt erneut mit dem Ost-Traum, ohne fest im Westen verankert zu sein.«
Gegen dieses Trauma der westlichen Nachbarn weiß Brandt bislang nur eine Therapie: die zähe Kleinarbeit für Europa. »Wir sind«, sinnierte letzte Woche ein Kanzler-Gehilfe, »dazu verdammt, uns zusammenzuraufen. Eine Konfrontation mit Frankreich ist unmöglich, die Trümmer wären unabsehbar.«
Folgerichtig will Brandt -- ohne dramatische Initiativen, aber beharrlich und mit verstärktem Druck -- die Franzosen dafür gewinnen, den europäischen Fahrplan einzuhalten, der für 1980 das Ziel der politischen Union setzt.