Exodus in die Provinz
Schon die Luft riecht anders. Nicht nach Geld und Macht, sondern nach fauligem Wasser, das gegen die graue Kaimauer plätschert.
Jersey City, das ist bereits Provinz, getrennt nur durch den Hudson River von der Südspitze Manhattans. In den Glasfronten spiegelt sich die Skyline mit der Zahnlücke von Ground Zero. Steht der Wind schlecht, weht der Geruch der großen Stadt herüber: Dann riecht es nach verbranntem Gummi.
Seit den Anschlägen gilt Jersey City als heimlicher Stadtteil New Yorks. Ob Merrill Lynch, Lehman Brothers oder American Express: Viele Große der Wall Street sind auf die andere Flussseite geflüchtet. Ein Notquartier sollte es sein, schnell einzurichten und leicht erreichbar. Doch aus der Übergangslösung könnte ein Dauerzustand werden.
Ein patriotisches Zeichen setzend, hatten die plötzlich heimatlosen Wall-Street-Riesen versichert, schnell in den Finanzdistrikt zurückzukehren. Inzwischen aber setzt unternehmerischer Realismus ein: Der Wiederaufbau wird Jahre dauern, verbunden mit Baulärm und unlösbaren Verkehrsproblemen.
Seit dem Anschlag sind hochwertige und vor allem große zusammenhängende Büroflächen Mangelware. Ein Großteil der noch verfügbaren Flächen stammt aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, ohne moderne Ausstattung mit Hightech-Kommunikation.
Und während in Jersey City dank niedriger Grundstückspreise und Steuervorzügen ein Büroturm neben dem anderen entsteht, wurde seit bald 15 Jahren in New Yorks Finanzdistrikt kein neues Bürogebäude gebaut.
Eher unwahrscheinlich, dass der Exodus noch aufzuhalten ist. 60 der 73 größten ehemals im World Trade Center ansässigen Firmen haben die Pläne für ihre künftigen Domizile bereits öffentlich gemacht - 47 von ihnen werden ihre Geschäfte größtenteils aus Lower Manhattan verlagern. Von den Big Blue der Finanzwelt hat sich bislang allein die Deutsche Bank für einen Verbleib an der Wall Street ausgesprochen.
Es sind nicht allein die Kosten und die unabsehbare Dauer des Wiederaufbaus, die abschrecken. Es ist die Angst, mit ständigem Blick auf ein Massengrab zu arbeiten, als unfreiwilliger Wächter eines nationalen Trauerschreins. Nur scheinbar normal hetzen Händler, Banker und Analysten geschäftig umher. Bei vielen liegen die Nerven blank, zu surreal erscheinen die Soldaten in Tarnfarben zwischen den gedeckten blauen Einreihern, zu unwirklich der Qualm, der die Wall Street hinunterweht.
Kaum einer will über die Geschehnisse reden, nicht mit Fremden, nicht untereinander. »Wer kann, verlässt die Stadt für eine Weile«, sagt ein führender Börsenhändler. Nach Albuquerque (in New Mexico) und Montana zieht es sie, weit weg, »denn der Schock und die Psychosen setzen jetzt erst ein«.
Merrill Lynch gehört zu den ersten Unternehmen, die demnächst teilweise wieder in die Gebäude um Ground Zero zurückkehren werden. Einen Vorgeschmack auf das vermeintlich vertraute Zuhause haben einige Mitarbeiter in einem Bürogebäude am Broadway: Mancher Manager setzt für Meetings die doppelte Zeit an, weil Besucher stundenlang nur auf den Trümmerhaufen gegenüber starren. »Wir halten genügend Räume für Mitarbeiter bereit, die mit der Situation nicht fertig werden«, kündigt Firmensprecherin Selena Morris vorsorglich an.
Mit der Fähre nach Jersey City sind es nur 15 Minuten. THOMAS SCHULZ