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»EXZELLENZ GANZ GEBROCHEN«

aus DER SPIEGEL 47/1966

Nicht nur eine Offensive, sondern die gesamte Offensivbewegung - des Jahres 1918 hatte sich verlangsamt und war ins Stocken geraten. Dies war der Augenblick des Gleichgewichts, der Unbeweglichkeit, ehe der Kampf mit nicht aufzuhaltender Stoßkraft gegen die Deutschen anzubranden begann. Die Unbeweglichkeit ... herrschte nicht nur auf dem Schlachtfeld, sie trat in Ludendorffs Denken und Wesen zutage. Am Abend des 15. Juli rief er den Generalstabschef der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht von Bayern, General Kuhl, an, wie dieser in einem Brief vom 16. Juli berichtet:

»Ludendorff ... war sehr traurig über das geringe Ergebnis. Ich riet Ludendorff trotzdem, den Angriff bei der 1. und 3. Armee heute fortzusetzen, und verwies auf den 21. März bei der 2. Armee, wo wir auch nicht vorwärtskamen... Aber er meinte, wir könnten die damit verbundenen Verluste nicht riskieren.«

Die Depression und der Zustand geistiger Beeinträchtigung hielten den ganzen 16. und 17. Juli über an. Am 16. vermerkte der Generalstabsoffizier Mertz von Quirnheim in seinem Tagebuch: »Ziemlich gedrückte Stimmung ... Schwierige Frage, was nun werden soll.«

Und am 17.: »Ich bin überzeugt, daß weder Oberstleutnant Wetzell (Chef der Operationsabteilung in der Obersten Heeresleitung) noch Ludendorff wissen, was sie als nächstes tun müssen.«

Am nächsten Tag konferierte Ludendorff mit den Armeekommandeuren; Wille und Energie waren wieder in ihm erwacht: »Ludendorff war angriffslustig und zuversichtlich«, schrieb General von Loßberg, »und hielt zu unser aller Freude an der Durchführung des Angriffs in Flandern fest.«

Doch während sie noch miteinander sprachen, traf die Nachricht ein, daß die Franzosen unter General Mangin ohne jedes einleitende Bombardement aus der Deckung des Waldes von Villers-Cotterets einen

massiven Gegenschlag begonnen hatten. Der Beschuß war mit einer Feuerwalze eröffnet worden, in deren Schutz Schwärme leichter Renault-Tanks den Vorstoß von 18 Divisionen (sieben in Reserve) angeführt hatten.

Die deutsche Linie war zusammengebrochen, und bis gegen Mittag hatten sich die Franzosen durch Felder, auf denen das Getreide stand, 6,4 km vorwärtsgeschoben... Ludendorff befand sich nun, nach seinen Worten, »selbstverständlich in größter Nervenanspannung«.

Um 14 Uhr kehrte er in sein Hauptquartier nach Avesnes zurück. Generalfeldmarschall von Hindenburg holte ihn am Bahnhof ab. Gesprächsgegenstand beim Mittagessen war die sehr bedrohliche Lage, in der sich die Truppen im Marnevorsprung aufgrund des französischen Erfolges befanden.

Von diesem Tage an verließen Gefahr und Verzweiflung Ludendorff nicht mehr. Zudem schienen Härte und Schwere des französischen Gegenangriffes, der nur drei Tage nach dem bedrückenden Fehlschlag einer solch langen Reihe militärischer Anstrengungen der Deutschen erfolgte, den Regler, der bis dahin Ludendorffs nervöse Energie unter Kontrolle gehalten hatte, zu zerbrechen, so daß sich der mächtige Mechanismus nunmehr zu überdrehen begann und auseinanderzufallen drohte.

Unbeständigkeit und Inkonsequenz, seit langem Bestandteile seines militärischen Denkens, brachen jetzt plötzlich vor den Augen der erstaunten Offiziere der Obersten Heeresleitung an die Oberfläche, und unter dem Druck dieses eigentlichen Augenblicks der Niederlage wandte sich sein Zorn gegen Feldmarschall von Hindenburg.

Oberst Mertz von Quirnheim hielt den Vorfall in seinem Tagebuch fest und schrieb sechs Monate später darüber einen ausführlichen Bericht:

»Beim Mittagessen wurde die Lage zwar in ernster Stimmung, aber ohne äußerlich hervortretenden Druck auf die Gemüter besprochen. General Ludendorff äußerte sich nicht... Generalfeldmarschall von Hindenburg sagte plötzlich zu mir gewendet: Die einfachste und gründlichste Lösung der gegenwärtigen Krisis sei seines Erachtens die, daß man sofort alle Truppen, auch die aus Flandern, heranführe und über die Höhen nordwestlich Soissons in südlicher Richtung gegen die linke Flanke des feindlichen Ansturms offensiv würde.

»Da mischte sich General Ludendorff plötzlich in das Gespräch. Er erklärte: so etwas sei gänzlich unausführbar, und es müsse daher unterbleiben, wie er das dem Generalfeldmarschall bereits hinreichend deutlich klargemacht zu haben glaube. -Der Generalfeldmarschall hob ohne ein Wort der Erwiderung die Tafel auf, und General Ludendorff ging offensichtlich verärgert mit blutrotem Kopf weg.«

Diese erstaunliche Szene wiederholte sich sogar noch melodramatischer am gleichen Abend. Nach dem Essen, so berichtet Oberst Mertz von Quirnheim weiter, »fuhr der Generalfeldmarschall mit der linken Hand über die Landkarte, und zwar so, daß er die Hand mit gespreizten Fingern über die Höhen nordwestlich von Soissons bewegte und mit halblauter Stimme, aber ganz bestimmter Betonung sagte: 'So müssen

wir den Gegenstoß führen, das würde die Krisis sofort lösen.'

»Da richtete sich General Ludendorff von der Karte auf, und mit wütendem Gesichtsausdruck wandte er sich der Türe zu, in höchster Erregung einzelne Worte wie 'Unsinn' hervorstoßend. Der Generalfeldmarschall folgte seinem Ersten Generalquartiermeister und sagte ihm, eben an mir vorbeistreifend: 'Ich möchte Sie noch sprechen'... Die beiden verschwanden dann in Ludendorffs Arbeitszimmer...«

Das war der Tag, an dem die militärische Niederlage für Deutschland zur Tatsache wurde, und auf diese Weise sah Ludendorff ihr ins Auge. Noch lagen Monate der Enttäuschung und der Katastrophe vor ihm, doch Ludendorff sollte seine Selbstbeherrschung nicht wiederenden ...

Ludendorff in der Obersten Heeresleitung (OHL) glich einem Käfer, der, auf dem Rücken liegend, wild mit den Beinen rudert und zappelt, ohne etwas auszurichten. Die Befehlsgewalt an der Spitze des deutschen Heeres während dieser kritischen Tage war gelähmt durch ungezügelten Zorn, blinde Vorwürfe und eine allgemeine Panik.

Am Morgen des 19. Juli erschien General von Loßberg (Chef des Stabes der 4. Armee und seit 1917 anerkannter Experte für Verteidigung aus der Tiefe), um mit Ludendorff und dem OHL-Stab zu konferieren. Wiederum kam es zu einem unerfreulichen und peinlichen Schauspiel: »Bei meiner Meldung (schrieb Loßberg) fand ich Ludendorff recht nervös und aufgeregt vor. Zu meinem Bedauern erhob er recht ungerechtfertigte Vorwürfe gegen den Chef der Operationsabteilung (Oberstleutnant Wetzell) und seine sonstigen Mitarbeiter, die in der Beurteilung der Kampfkraft der 7. Armee 'versagt' hätten. Es war dies eine recht peinliche Szene. Wetzell schwieg als guter Soldat, aber den Vorwurf empfand er sichtbar schwer. Seine Augen wurden vor innerer Erregung, die er aber sonst tapfer niederkämpfte, feucht.«

Ludendorffs quälende Unschlüssigkeit wurde hervorgerufen durch »Hagen«, jene Offensive, deren Endziel die Vernichtung der Engländer sein sollte. Stellte er die Verlegung der Reserven und Kanonen nach Flandern ein, um ein Unglück im Marnevorsprung zu verhindern, so müßte »Hagen«, Ziel und Rechtfertigung seiner vier vorausgegangenen großen Offensiven, verschoben werden. Und bedeutete Verschiebung angesichts der Tatsache, daß schon mehr als die Hälfte des Jahres vergangen war und seine Reserven abnahmen, etwas anderes als Aufgabe? »Hagen« aufzugeben, hieß anzuerkennen, daß Deutschland den Krieg nicht gewinnen konnte.

In der Nacht vom 20. zum 21. Juli wurde der Marnebrückenkopf südlich von Dormans geräumt; an allen übrigen Abschnitten wurde die französische Gegenoffensive abgeschlagen. Diese Lösung- der unmittelbaren taktischen Krise beendete die strategische Krise nicht. Ludendorff entsandte Offiziere darunter Loßberg -, die den Zustand der Einheiten im Marnevorsprung untersuchen und darüber Bericht erstatten sollten.

Als Loßberg Ludendorff von dem Ergebnis seiner Inspektion unterrichtete, fand er den Ersten Generalquartiermeister noch immer in einem Zustand geistiger Erschütterung vor:

»Ludendorff machte, als ich sein Zimmer betrat, auf mich einen deprimierten Eindruck. Gegen seine sonstige Gewohnheit unterbrach er meinen Vortrag öfters mit Abschweifungen auf Kleinigkeiten, zu denen wahrlich die ernste Lage keine Zeit bot.«

Ludendorff andererseits kann Loßbergs Bericht kaum ermutigend gefunden haben. Loßberg schlug vor, um die Durchführung der »Hagen«-Operation zu ermöglichen, sämtliche Truppen an der Front des Marnevorsprunges und westlich davon zur Siegfriedlinie zurückzuziehen. Scheiterte »Hagen«, so sollten auch die Flandern-Divisionen bis in diese Stellung zurückgenommen werden. Laut Loßbergs Bericht empfahl er Ludendorff weiterhin, eine rückwärtige Stellung von Antwerpen bis zur Maas vorzubereiten. Selbst »Hagen« wurde nun von Loßberg nur noch als »taktische« Operation angesehen. »Ludendorff mußte sich somit von einem seiner fähigsten Offiziere sagen lassen, daß der 18. Juli kein Alptraum war, der bei Tagesanbruch vergehen würde, sondern eine bleibende Realität. Man empfahl ihm, jeden Ehrgeiz, den Krieg durch einen Sieg im Feld zu gewinnen, aufzugeben, den Rückzug anzutreten und sodann die verdrießliche Defensiv-Strategie des Jahres 1917 wiederaufzunehmen.

Loßberg schildert, wie Ludendorff diesen Rat aufnahm: »Mein Vortrag und meine Vorschläge machten auf Ludendorff sichtbar Eindruck. Er überlegte ziemlich lange und sagte dann - dem Sinne nach - etwa folgendes: 'Ich halte Ihre Vorschläge für zutreffend, aber ich kann sie nicht ausführen - aus politischen Gründen.' Auf meine Frage: 'Was sind das für politische Gründe?' sagte Ludendorff: 'Die Rücksicht auf die Eindrücke auf den Feind, auf unser Heer und auf die Heimat.'«

Ludendorff war nicht imstande, die Lage mit Loßbergs schonungsloser Logik zu durchdenken. Ähnlich wie 25 Jahre später bei Hitler vermischten sich Furcht vor den politischen Folgen einer vernünftigen militärischen Verteidigungspolitik mit der Abneigung, den einmal gewonnenen Boden und die von der Zukunft erhofften Triumphe endgültig und radikal aufzugeben. Unter dem Druck der täglichen Lageberichte ging er sachlich vor. Am Abend des 22. Juli wurde der Rückzug von der Marne zur Vesle beschlossen, die an der Basis des Frontvorsprungs verlief...

Aber diese Entscheidung war weit davon entfernt, eine klare und entschlossene Strategie darzustellen; Ludendorff hatte noch keineswegs die Fassung zurückgewonnen; all dies wurde an jenem Nachmittag deutlich, als der Erste Generalquartiermeister, dieser harte und kühle Mann, der sich nicht einmal seiner Frau anvertraute, Mertz von Quirnheim mit höchst vertraulichen Mitteilungen geradezu überschüttete. Mertz von Quirnheim vermerkt:

»Nachmittags 5 Uhr, war eben bei Exzellenz. Er teilt mir den Entschluß mit, von der Marne zurückzugehen, und schildert mir die militärische Notwendigkeit. Exzellenz sehr ernst gestimmt. Er sagte mir: 'Ich bin nicht abergläubisch oder doch, ja, ich bin es. Sehen Sie, ich hatte auf den 15. Juli kein Vertrauen.'

»Damit öffnete er die rechte Schublade seines Schreibtisches und nahm ein ziemlich zerrissenes Gebetbuch der Brüdergemeinde heraus. Aus ihm las er mir den Spruch, der am 15. Juli dort stand, vor. Er faßte ihn im Gegensatz zu den Sprüchen an unseren anderen Angriffstagen ungünstig auf. Er las mir dann die Sprüche vom 21. März, 9. April, 27. Mai, 9. Juni vor. Wir sprachen noch lange und ernst.«

Mertz von Quirnheims Tagebucheintragung endet mit der Feststellung: »Exzellenz ganz gebrochen.«

Ludendorffs Vorahnungen in bezug auf den 15. Juli (über die er, von Mertz von Quirnheim abgesehen, niemandem gegenüber weder vorher noch nachher eine Andeutung fallen ließ) sind von geringerer Bedeutung als die von Oberst von Tieschowitz bestätigte Tatsache seines Aberglaubens, der an die Omina (Vorzeichen) und Auguren* der Kriege im Altertum und an die abergläubischen Bräuche ("Maschinenkobolde« und Talismane) heutiger Frontkämpfer (wie beispielsweise Flugzeugführer) erinnert, die großen Unbilden und Gefahren ausgesetzt sind.

Am 4. August war die Krise im Marnevorsprung überwunden; die Deutschen hatten sich hinter Vesle und Aisne gut verschanzt. In der OHL dauerte jedoch die strategische Lähmung an, ebenso Ludendorffs persönlicher Zusammenbruch. Mertz von Quirnheims Tagebuchnotizen vermitteln ein anschauliches - vielleicht zu anschauliches - Bild zweier ungewöhnlicher Wochen:

»23. Juli abends: ... Wetzell und ich haben das Gefühl, daß wir an Halbheiten zugrunde gehen. Ludendorff wird sich völlig verausgaben, ohne die Kraft zu finden, eine dynamisch wirksame Entscheidung zu treffen.

»24. Juli: Ernstes Problem der Nervosität Seiner Exzellenz sowie der Zusammenhanglosigkeit der von ihm geleisteten Arbeit... Seine Exzellenz arbeitet sich zu Tode, da er sich zuviel Gedanken über Einzelfragen macht. Die Lage ist wirklich ernst.

»25. Juli: Graf Schwerin (Generalstabschef der auf dem Balkan stehenden deutschen Heeresgruppe, war vorübergehend in Avesnes anwesend) durch Aussehen und Nervosität Seiner Exzellenz höchst betroffen. Es macht wirklich den Eindruck, als ob Exzellenz jedes Vertrauen verloren. Die Armeechefs leiden entsetzlich darunter. Telephongespräche von anderthalbstündiger Dauer demnächst an der Tagesordnung.«

Am 2. August erholte sich Ludendorff angesichts der relativ ruhigen und gesicherten Frontlage allmählich und erließ eine strategische Weisung. Sie zeichnete sich durch die vertraute Inkonsequenz aus:

»Die Lage verlangt daß wir uns

einerseits auf die Abwehr einstellen, andererseits sobald als möglich wieder zum Angriff übergehen.«

Was man tatsächlich brauchte, war, wie Loßberg argumentiert hatte, eine klare Anerkennung der Unvermeidlichkeit der Defensive und ein konsequenter und rechtzeitiger Rückzug zur Siegfriedlinie, die einmal viel kürzer und zum anderen auch weit besser befestigt war als der nur leicht geschützte Frontvorsprung in Richtung Amiens . . .

Am Morgen des 8. August lag über dem Frontabschnitt der 4. Armee Nebel. Um 4 Uhr 20 eröffneten Briten und Franzosen das Feuer: kein Trommelfeuer, sondern Sperrfeuer. In seinem Schutz stießen Infanterie und Tanks ohne Verzug durch Rauch und Nebel vor... Als die Tanks erschienen und rumpelnd durch den wogenden Nebel lavierten, brach die deutsche Verteidigung in der allgemeinen Verwirrung zusammen. Es folgte ein fluchtartiger Rückzug ...

»Der 8. August«, schrieb Ludendorff, »ist der schwarze Tag des deutschen Heeres in der Geschichte dieses Krieges.« Dieser Tag... führte Ludendorff ein Phänomen vor Augen, das dieser bis dahin zu ignorieren vorgezogen hatte - den katastrophal schnellen Niedergang der Moral und Disziplin im deutschen Heer.

Vor allem aber schlug er Ludendorff selbst in einem Augenblick psychisch zu Boden, als dieser sich noch kaum von dem Vernichtungsschlag vom 18. Juli wieder erholt hatte.

Ludendorff selbst schrieb später: »Der auf das Schlachtfeld entsandte Generalstabsoffizier (Mertz von Quirnheim) hatte mir den Zustand der von dem Angriff am 8. an erster Stelle getroffenen Divisionen derart geschildert, daß ich tief betroffen war. Ich ließ mir Divisionskommandeure und Offiziere aus der Front nach Avesnes kommen, um mit ihnen die näheren Ereignisse zu besprechen.

»Ich hörte von Taten glänzender Tapferkeit, aber auch von Handlungen, die ich, ich muß es offen aussprechen, in der deutschen Armee nicht für möglich gehalten habe: wie sich unsere Mannschaften einzelnen Reitern, geschlossene Abteilungen Tanks ergaben! Einer frisch und tapfer angreifenden Division wurde von zurückgehenden Truppen 'Streikbrecher' und 'Kriegsverlängerer' zugerufen . . . Die Offiziere hatten an vielen Stellen keinen Einfluß mehr, sie ließen sich mitreißen.«

Tatsächlich waren all diese Erscheinungen nicht urplötzlich aufgetreten. Im Winter 1916/17 waren zahlreiche Berichte über die schlechte Moral und Disziplin sowie die revolutionäre Haltung von Soldaten und zurückgekehrten Kriegsgefangenen aus Rußland eingelaufen ...

»Berichte dieser Art häuften sich im Februar und März 1918«, schrieb General Kuhl in seinem Bericht an das Reichstagskomitee nach dem Kriege. »Schüsse fielen aus den Zugfenstern. Die Soldaten stiegen bei jeder Gelegenheit aus und konnten nur mit Mühe wieder zum Einsteigen gebracht werden.«

Eingekapselt in seinen Träumen vom großen Sieg hatte Ludendorff Ausmaß

und Tempo des Verfalls seiner Armee nicht richtig eingeschätzt oder es vorgezogen, diesen Tatbestand zu ignorieren...

Wie Hitler bei Stalingrad vermochte Ludendorff keine bessere Strategie zu finden als eine Verteidigung der bestehenden Front um jeden Preis...

General Kuhl wies in Verhandlungen von quälender Ergebnislosigkeit immer wieder darauf hin, daß die Taktik, die gegenwärtigen Fronten um jeden Preis zu halten, sie an allen Abschnitten der Gefahr aussetzte, sie wehrlos ließ und ihre sämtlichen Hilfsmittel erschöpfte.

Ludendorff verschloß sich noch immer diesen Vorstellungen. Kuhl wollte, daß die 2. Armee so lange standhalten sollte, wie nötig war, um den Rückzug der 18. Armee vom Montdidier-Frontvorsprung zu decken, und daß sie sich dann ihrerseits hinter die Somme zurückziehen sollte. Ludendorff hörte nicht auf ihn.

In seiner Verzweiflung veranlaßte Kuhl Major von Leeb (damals Offizier im Stab der Heeresgruppe Rupprecht, im Zweiten Weltkrieg Generalfeldmarschall), den Bericht des Generals von der Marwitz an Wetzell zu wiederholen. Ludendorff unterbrach die Ausführungen und sagte, daß die Stellung gehalten werden müsse. Wie bei Hitler in Stalingrad und bei Churchill in Singapur sollte die Wirklichkeit gewaltsam dem Traum angepaßt werden.

»Nach langen Verhandlungen willigte Ludendorff spät abends ein«, schrieb General Kuhl später, »daß auf die Linie LEchelle - Conchy - Riquenbourg - Matz zurückgegangen werden könne. Das wurde in der Nacht vom 9. zum 10. gemacht. Ludendorff redet ununterbrochen überall in die Details hinein, spricht mit allen Armeen und Chefs, ordnet Einzelheiten an, oft ganz anders als er mir befohlen hatte. Das erschwert alles sehr. Dabei ist er äußerst aufgeregt, läßt keinen Einwand gelten.«

Am 11. August 1918 unterrichtete Ludendorff in Avesnes den Kaiser über die allgemeine Lage; über die schwere Niederlage, den schlechten Zustand der Soldaten, die Notwendigkeit, um jeden Meter Boden zu kämpfen. Schwerwiegender als all dieses aber war: Ludendorff nahm die nationale Niederlage bereits als gegeben an:

Ludendorff sah, wie er später schrieb, keine Möglichkeit mehr, »eine strategische Aushilfe zu finden, welche die Lage wieder zu unseren Gunsten festigte... Das Kriegführen nahm damit, wie ich mich damals ausdrückte, den Charakter eines unverantwortlichen Hasardspieles an, das ich immer für verderblich gehalten habe. Das Schicksal des deutschen Volkes war mir für ein Glücksspiel zu hoch. Der Krieg war zu beendigen:«

Major Niemann, OHL-Verbindungsoffizier beim Kaiser, beschreibt, wie Wilhelm II. diese Nachricht aufnahm:

»Der Kaiser bewahrte äußerlich seine Ruhe, aber wer ihm ins Antlitz-schaute, sah in den gespannten Zügen, den tiefen Furchen seelischen Leides und den flammenden Augen die übermächtige innere Erregung, die nach Lösung lechzte:

»Ich sehe ein, wir müssen die Bilanz ziehen. Wir sind an der Grenze unserer Leistungsfähigkeit. Der Krieg muß beendet werden. ... Ich erwarte die Herren also in den nächsten Tagen in Spa.'

» . . . Voll Vertrauen strahlten seine Augen den Feldmarschall an, und ein herzlicher, fester Händedruck zeigte dem Ersten Generalquartiermeister, daß er auch in Zukunft auf das Vertrauen seines Kaiserlichen Herrn rechnen konnte.«

Die Zeit von August bis November 1918 war ein sich hinziehender Abstieg: Die zuverlässigen Verbände des deutschen Heeres führten verbissen und geschickt Rückzugsgefechte in Frankreich und Belgien, während sich hinter ihnen der Rest der Armee, die Nation und die Verbündeten im Zustand der Auflösung befanden.

Weil sich Ludendorff geweigert hatte, Loßbergs Rat am 19. Juli anzunehmen, vollzog sich der Rückzug nicht freiwillig und rechtzeitig, sondern unter dem Druck ständiger alliierter Angriffsschläge. Am 28. September erzielten die Engländer den Einbruch in die Siegfriedlinie, die zu spät und in aller Hast mit unzureichenden und mutlosen Kräften besetzt worden war. Der Einbruch erfolgte zwei Tage nach einem französisch-amerikanischen Erfolg in den Argonnen.

Diese Niederlagen lösten in Ludendorff eine neue mächtige Welle der Panik aus. Was er nunmehr vorschlug, war nicht mehr ein allgemeiner Plan für Friedensverhandlungen, sondern ein sofortiger Waffenstillstand. In einer Zeit nationalen Unglücks, als Frankreich einen Clemenceau und die Engländer, in einem anderen Kriege, einen Churchill fanden, wurde Deutschland allein von diesem gebrochenen, hysterischen Feldherrn' angeführt, der, nach Mitteln und Wegen suchte, sich seiner Verantwortung, nun, da er keine Freude mehr daran hatte, zu entledigen.

In der Hoffnung, daß eine parlamentarische Regierung die nun mächtigen Parteien des linken Flügels zur Übernahme des Krieges bewegen würde, gab Ludendorff am 29. September sogar zu einer demokratischen Verfassung seinen Segen ...

Am gleichen Tage löste, wie einige Zeugen bekunden, die angehäufte Belastung bei Ludendorff einen Anfall von hysterischer Paralyse aus...

Unter dem Druck der sich häufenden schlechten Nachrichten auf militärischem wie auf politischem Gebiet, die dunklen Rauchwolken gleich über die Szenerie der endgültigen Auflösung zogen, verfiel Ludendorff immer mehr der Panik und Inkonsequenz. Ein Waffenstillstand wurde nun erforderlich; Ludendorff bestürmte die neue Regierung des Prinzen Max von Baden mit verzweifelter Hast, da - wie es sein Beauftragter, Major Freiherr von dem Bussehe, vor den Führern der im Reichstag vertretenen Parteien formulierte

- »jeder Tag, der

vergeht, unsere Lage verschlimmern kann«. Am 4. Oktober sandten die Regierungen Deutschlands und Österreichs Noten an US-Präsident Wilson, in denen sie um die Eröffnung von Waffenstillstandsverhandlungen ersuchten...

Am nächsten Tag

forderte der über Ludendorffs Schritt empörte Reichstag die Entlassung des Ersten Generalquartiermeisters. Max von Baden informierte den Kaiser entsprechend. Hindenburg und Ludendorff waren in Berlin, um an den Konferenzen über Wilsons Note teilzunehmen, die stündlich, erwartet wurde.

Am Nachmittag des 26. Oktober 1918 traf im Büro des Generalstabes die Mitteilung ein, daß der Kaiser sie beide im Berliner Schloß zu sehen wünsche. Als die beiden Feldherren vom Kaiser empfangen wurden, war allein Ludendorff das Objekt der kaiserlichen Feindseligkeit:

»Es folgten einige der bittersten Minuten meines Lebens«, schrieb Ludendorff später. »Ich sagte Seiner Majestät in ehrerbietiger Weise, Ich hätte den schmerzlichen Eindruck gewonnen, daß ich nicht mehr sein Vertrauen besäße und daher alleruntertänigst bäte, mich zu entlassen. Seine Majestät nahm das Gesuch an.«

Obwohl Hindenburg ebenfalls seinen Rücktritt anbot, lehnte der Kaiser die Annahme des Gesuches ab. Ludendorff verließ das Schloß allein. Hinter ihm lagen eine unermeßliche Verantwortung, seine glänzenden Siege und katastrophalen Niederlagen.

* Mitglieder einer altrömischen Priesterkaste, die vor wichtigen Staatshandlungen den Willen der Götter erforschte.

Kapitulierende deutsche Soldaten am 8. August 1918: »Der schwarze Tag des deutschen Heeres«

Französische Panzer bei Villers-Cotterets Juli 1918: »Niederlage besiegelt

Operationschef Wetzell

»Die Augen wurden feucht«

Verwundete deutsche Soldaten Oktober 1918: »Wir müssen Bilanz ziehen«

Strategen Hindenburg, Ludendorff: Anfall von Hysterie

Correlli Barnett

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