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Artikel 21 / 68

Fahrplan eines Welteroberers

aus DER SPIEGEL 34/1966

2. Fortsetzung

»Mein Kampf« als Quelle

Die in der Kapitel-Überschrift gewählte Formulierung »'Mein Kampf' als Quelle« verliert ihre Berechtigung auch durch die Tatsache nicht, daß Hitler nicht Historiker, sondern Politiker war und daß »Mein Kampf« nach der Katastrophe vor der Feldherrnhalle im November 1923 nicht zuletzt auch als Verteidigungs - und Rechtfertigungsschrift gedacht war. Quellenwert können Hitlers Angaben haben, wo sie das betreffen, was er persönlich erlebte und entscheidend mitgestaltete.

In »Mein Kampf« umfaßt dieser Rahmen - unter Berücksichtigung der Stichwörter in Hitlers »Personen- und Sachverzeichnis« - unter anderem folgende Themen: »Jugend«, »Eltern«, »Wiener Lehr- und Leidensjahre«, »Hilfsarbeiter«, »Maler«, »München«, »Kriegsfreiwilliger beim Regiment List«, »Revolution«, »Entschluß, Politiker zu werden«, »Beginn der politischen Tätigkeit«, »Bildungsoffizier«, »Deutsche Arbeiterpartei«, »Propagandachef der NSDAP« und »Gesamtleiter der NSDAP«

Nirgendwo hat Hitler sich in »Mein Kampf« bemüht, seine (stets apodiktisch formulierten) Angaben zu belegen, was zur Folge hatte, daß viele seiner Feststellungen von kritischen Biographen einfach als Propaganda -Lügen bezeichnet worden sind. Zahlreiche Feststellungen Hitlers erwecken allerdings tatsächlich den Eindruck, als habe Hitler sich selbst überall dort herausstellen wollen, wo die (im Prisma Hitlers) bemerkenswerte Lösung wichtiger Fragen geschildert worden ist.

So nannte er im Zusammenhang mit seinem Entwurf der Hakenkreuzfahne Anfang 1920, um hier zunächst ein Beispiel anzuführen, den bis 1921 im Rahmen der DAP und NSDAP einflußreichen Zahnarzt Dr. Friedrich Krohn nicht. Er beschränkte sich auf die Andeutung: »Tatsächlich hat ein Zahnarzt aus Starnberg auch einen gar nicht schlechten Entwurf geliefert, der übrigens dem meinen ziemlich nahe kam.« Da sich gelegentlich »Zeugen« finden, die glaubhafte - von Hitlers Feststellungen abweichende - Angaben machen können, ist es oft nur sehr schwer möglich, die wirklichen Details und Zusammenhänge freizulegen.

Georg Franz-Willing folgt in seinem Buch »Die Hitlerbewegung« bei der Darstellung der Entwicklung der Hakenkreuzfahne den späteren Angaben Friedrich Krohns, der sich 1935 von dem einstigen Partei-Vorsitzenden Anton Drexler bestätigen ließ, die Hakenkreuzfahne entwickelt zu haben, was zweifellos nicht der Fall war.

An der Richtigkeit der Feststellungen Hitlers kann kaum gezweifelt werden. Bereits während seiner Wiener Zeit bis 1913 oder sogar schon während der Schulzeit bis 1905 hatte Hitler einen Bucheinband entworfen, auf dem er eine Hakenkreuzfahne in der Weise darstellte, wie sie seit 1920 in der NSDAP allgemein üblich war. Der Titel des Buches, auf dem als Verfasser »A. Hitler« genannt wird, sollte »Die germanische Revolution« lauten. Das 1. Kapitel des 1. Bandes von »Mein Kampf« beginnt mit einer pathetisch phrasenhaften Schilderung des kleinen Städtchens Braunau am Inn, wo Adolf Hitler am 20. April 1889 im »Gasthof zum Pommer« als 4. Kind des Zollbeamten (seit 1875 Zollamtsoffizial, seit 1892 Zollamtsoberoffizial in der Rangklasse IX) Alois Hitler (1837 bis 1903) geboren wurde. Braunau, der an der deutsch-österreichischen Grenze liegende Ort, war 1806 durch die Erschießung des Nürnberger Buchhändlers Johann Philipp Palm (1766 bis 1806) bekannt geworden, der die gegen Napoleon gerichtete Flugschrift »Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung« verlegt und den Franzosen den Namen des Verfassers nicht preisgegeben hätte.

Die Erschießung Palms und die Tatsache, daß Braunau unmittelbar an der Grenze lag, wollte Hitler als »glückliche Bestimmung« dafür gewertet sehen, daß er vom »Schicksal« auserwählt worden sei, dereinst die »Wiedervereinigung« Österreichs mit Deutschland herbeizuführen.

Hitlers sehr knapper Bericht über seinen Vater ist mehr Teil eines Märchens als wichtiger Bestandteil einer Autobiographie. So gespreizt und gewollt literarisch hat Hitler in »Mein Kampf« nur noch über seine Kriegserlebnisse geschrieben.

»In diesem von den Strahlen deutschen Märtyrertums vergoldeten Innstädtchen ...«, formulierte er, »wohnten am Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts meine Eltern; der Vater als pflichtgetreuer Staatsbeamter, die Mutter im Haushalt aufgehend und vor allem uns Kindern in ewig gleicher liebevoller Sorge zugetan. Nur wenig haftet aus dieser Zeit noch in meiner Erinnerung, denn schon nach wenigen Jahren mußte der Vater das ... Grenzstädtchen wieder verlassen, um ... in Passau eine neue Stelle zu beziehen; also in Deutschland selber.

»Allein das Los eines österreichischen Zollbeamten hieß damals häufig 'wandern'. Schon kurze Zeit später kam der Vater nach Linz und ging ... dort auch in Pension. Freilich 'Ruhe' sollte dies für den alten Herrn nicht bedeuten. Als Sohn eines armen kleinen Häuslers hatte es ihn schon einst nicht zu Hause gelitten. Mit noch nicht einmal dreizehn Jahren schnürte der damalige kleine Junge sein Ränzlein und lief aus der Heimat, dem Waldviertel, fort. Trotz des Abratens 'erfahrener' Dorfinsassen war er nach Wien gewandert, um dort ein Handwerk zu lernen ...

»Als der Dreizehnjährige aber siebzehn alt geworden war, hatte er seine Gesellenprüfung abgelegt, jedoch nicht die Zufriedenheit gewonnen. Eher das Gegenteil. Die lange Zeit der damaligen Not, des ewigen Elends und Jammers festigte den Entschluß, das Handwerk nun doch wieder aufzugeben, um etwas 'Höheres' zu werden. Wenn einst dem armen Jungen im Dorf der Herr Pfarrer als Inbegriff aller menschlich erreichbaren Höhe erschien, so nun in der den Gesichtskreis mächtig erweiternden Großstadt die Würde eines Staatsbeamten ... Nach fast dreiundzwanzig Jahren, glaube ich, war das Ziel erreicht ...

»Da er endlich als Sechsundfünfzigjähriger (nachdem er den für ihn höchsten Rang erreicht hatte) in den Ruhestand ging, hätte er doch diese Ruhe keinen Tag als 'Nichtstuer' zu ertragen vermocht. Er kaufte in der Nähe des oberösterreichischen Marktfleckens Lambach ein Gut, bewirtschaftete es und kehrte so im Kreislauf eines langen, arbeitsreichen Lebens wieder zum Ursprung seiner Väter zurück.«

Hitlers Bekenntnis, daß in seinem - sonst so hervorragenden - Gedächtnis »aus dieser Zeit« angeblich nur wenig haften geblieben sei, ist durchsichtig. Seine Behauptung, daß sein Vater erst nach »fast dreiundzwanzig Jahren«, also als rund Vierzigjähriger, Staatsbeamter geworden sei, deckt sich nicht mit den Tatsachen; denn Alois Hitler, der 1864 provisorischer Amtsassistent für den Zolldienst mit dem Amtstitel »Kontrollassistent« (und 1871, laut Verordnungsblatt Nr. 19 für den Dienstbereich des österreichischen Finanzministeriums, »Controlor bei dem Nebenzollamt 1. Klasse in Braunau am Inn") geworden war, hatte 1875 bereits den Rang eines Zollamtsoffizial erreicht. Allerdings hieß er, der unehelich geborene Sohn einerAngestellten eines jüdischen Dienstherrn namens Frankenberger, von dem nur bekannt ist, daß er 14 Jahre Alimente für das Kind (Alois) zahlte, nicht Alois Hitler, sondern Alois Schicklgruber - wie seine Mutter Maria Anna (Schicklgruber). Als Neununddreißigjähriger (1876) konnte Alois Schicklgruber seinen Namen in Hitler ändern*.

Offensichtlich hat Adolf Hitler verhindern wollen, daß Einzelheiten über seine undurchsichtige Vergangenheit bekannt werden könnten. Wahrscheinlich aus dem gleichen Grunde hatte er auch im November 1921 behauptet, daß sein Vater »Postoffizial« gewesen sei, was ganz abwegig - und absolut irreführend war. Obwohl Hitler erst 1930 als Folge eines Erpressungsversuches eines Verwandten Nachforschungen über seine eventuelle jüdische Abstammung durch Hans Frank anstellen ließ, hat er zweifellos nicht erst 1930 von einer derartigen Möglichkeit erfahren.

Ungenau ist Hitlers Feststellung, daß sein Vater als Sechsundfünfzigjähriger« in den Ruhestand ging und sich erst nach seiner Pensionierung das Lambacher »Gut« gekauft habe. Laut Kaufvertrag erwarb Alois Hitler - der mit zuletzt 2600 Kronen Jahresgehalt finanziell einem Direktor einer Bürgerschule gleichgestellt war - das von Adolf Hitler als »Gut« (mit 38 000 Quadratmetern Land) bezeichnete Haus am 4. Februar 1895, also bereits vor der Pensionierung, die erst im Juni 1895 erfolgte.

Hitler, der in »Mein Kampf« irreführend erklärte, daß sein Vater »im Kreislauf eines langen ... Lebens wieder zum Ursprung seiner Väter« zurückkehrte und das Grundstück in Lambach »bewirtschaftete«, verschweigt, daß sein unsteter Vater das Lambacher Haus bereits im Juni 1897 an einen Dr. Conrad Ritter von Zdekauer weiterverkaufte und im November 1898 wiederum ein Haus mit einem sehr viel kleineren Grundstück in Leonding erwarb, wo Adolf Hitler von 1898 bis 1900 die Volksschule besuchte.

Über seine Volksschulzeit berichtete Hitler lediglich: »Ich war ein kleiner Rädelsführer geworden, der in der Schule leicht und damals auch sehr gut lernte, sonst aber ziemlich schwierig zu behandeln war. Da ich in meiner freien Zeit im Chorherrenstift zu Lambach Gesangsunterricht erhielt, hatte ich beste Gelegenheit, mich oft und oft am feierlichen Prunke der äußerst glanzvollen kirchlichen Feste zu berauschen. Was war natürlicher, als daß, genau so wie einst dem Vater der kleine Herr Dorfpfarrer, nun mir der Herr Abt als höchst erstrebenswertes Ideal erschien.« Hitlers Schulzeugnisse zeigen, Mitschüler und Lehrer haben es bestätigt, daß der junge Hitler besonders intelligent, für einige Disziplinen auffällig begabt, oft unwillig und nicht gerade fleißig gewesen ist. In den Volksschulen, in Fischlhalm bei Lambach und in der Klosterschule des alten Benediktinerstifts in Lambach, erhielt er in allen Fächern die Note 1. Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang, daß der von Hitler erwähnte Abt (namens Hagen), mit dem er während des Gesangsunterrichts am Sängerknaben-Institut des Benediktinerstifts häufig zusammentraf,

ein stilisiertes Hakenkreuz im Wappen führte.

Auch über seine Oberschulzeit von 1900 bis 1905 berichtet Hitler nicht ausführlicher. Er verquickt die knappe Darstellung mit einem (nicht nur zwischen 1933 und 1945 sehr oft diskutierten) Bericht über seinen ständigen Streit mit dem Vater, der ihm den Wunsch nicht habe erfüllen wollen, Kunstmaler werden zu dürfen. »Solange der Absicht des Vaters, mich Staatsbeamter werden zu lassen, nur meine prinzipielle Abneigung zum Beamtenberuf an sich gegenüberstand«, heißt es in »Mein Kampf«, »war der Konflikt leicht erträglich. Ich konnte so lange auch mit meinen inneren Anschauungen etwas zurückhalten, brauchte ja nicht immer gleich zu widersprechen. Es genügte mein eigener fester Entschluß, später einmal nicht Beamter zu werden, um mich innerlich vollständig zu beruhigen ... Schwerer wurde die Frage, wenn dem Plane des Vaters ein eigener gegenübertrat. Schon mit zwölf Jahren traf dies ein ... eines Tages war es mir klar, daß ich Maler werden würde, Kunstmaler ... Als ich zum ersten Male, nach erneuter Ablehnung des väterlichen Lieblingsgedankens, die Frage gestellt bekam, was ich denn nun eigentlich selber werden wollte, und ziemlich unvermittelt mit meinem ... Entschluß herausplatzte, war der Vater zunächst sprachlos. 'Maler? Kunstmaler?' Er zweifelte an meiner Vernunft...

»Der alte Herr ward verbittert und, sosehr ich ihn auch liebte, ich auch. Der Vater verbat sich jede Hoffnung, daß ich jemals zum Maler ausgebildet werden würde. Ich ging einen Schritt weiter und erklärte, daß ich dann überhaupt nicht mehr lernen wollte. Da ich nun natürlich mit solchen 'Erklärungen' doch den kürzeren zog, insofern der alte Herr jetzt seine Autorität rücksichtslos durchzusetzen sich anschickte, schwieg ich künftig, setzte meine Drohung aber in die Wirklichkeit um. Ich glaubte, daß, wenn der Vater erst den mangelnden Fortschritt in der Realschule sähe, er gut oder übel eben doch mich meinem erträumten Glück würde zugehen lassen.

»Ich weiß nicht, ob diese Rechnung gestimmt hätte. Sicher war zunächst nur mein ersichtlicher Mißerfolg in der Schule. Was mich freute, lernte ich, vor allem auch alles, was ich meiner Meinung nach später als Maler brauchen würde. Was mir in dieser Hinsicht bedeutungslos erschien oder mich auch sonst nicht so anzog, sabotierte ich vollkommen. Meine Zeugnisse in dieser Zeit stellten, je nach dem Gegenstande und seiner Einschätzung, immer Extreme dar. Neben 'lobenswert' und 'vorzüglich' 'genügend' oder auch 'nicht genügend'. Am weitaus besten waren meine Leistungen in Geographie und mehr noch in Weltgeschichte. Die beiden Lieblingsfächer, in denen ich der Klasse vorschoß.«

Es ist sehr wahrscheinlich, daß Alois Hitler, der sich vom armen Schustergesellen zum gutsituierten Beamten emporgearbeitet hatte und in der Lage war, seinen Sohn Adolf »etwas Ordentliches« studieren zu lassen, mit dem Entschluß des Sohnes, Maler werden zu wollen, nicht einverstanden gewesen ist. Dieser Teil der Hitler-Darstellung dürfte sich mit Tatsachen decken. Ob Hitler dagegen mit seiner Erklärung über den Grund seiner unregelmäßigen und nicht guten Leistungen in den Oberschulen in Linz und Steyr nachträglich aus einer Niederlage lediglich einen Sieg hat machen und Fehlschläge als beabsichtigt und inszeniert hat erscheinen lassen wollen, oder ob er den tatsächlichen Sachverhalt schilderte, kann nicht eindeutig festgestellt werden.

Hitlers Zensuren in der vierten Klasse der Staats-Oberrealschule in Steyr lauteten wie folgt: Deutsch, Chemie, Physik, Geometrie = »ausreichend«, Geschichte und Geographie = »befriedigend«, Zeichnen = »sehr gut«.

Nach dem Abschluß der dritten Klasse der Realschule in Linz im Sommer 1904 verließ Hitler die Schule und besuchte bis zum 16. Juli 1905 die Staats-Oberrealschule in Steyr, an der er vor der Aufnahme eine Wiederholungsprüfung in Französisch ablegen mußte. Hitlers Feststellung, daß er infolge einer Krankheit die Schule habe verlassen müssen, deckt sich mit den Tatsachen. Hitler, der die dann folgende Zeit als »die glücklichsten Tage« bezeichnete, die ihm »nahezu als ein schöner Traum erschienen«, begann im Sommer 1905 ein Bummel-Leben, das bis Ende 1907 reichte.

August Kubizek, der Hitler Ende 1904 kennengelernt hatte, berichtet, daß er mit Hitler zusammen sehr oft Theatervorstellungen und Opernaufführungen besuchte, und daß Hitler sehr viel las, malte und zeichnete. Hitler selbst, der diese Zeit als »Hohlheit des gemächlichen Lebens« bezeichnete, hat sich über diese Zeit nicht weiter geäußert. Der Tod seiner Mutter am 22. Dezember 1907 setzte seinem Faulenzerleben ein Ende.

Das 2. Kapitel, das Hitler mit »Wiener Lehr- und Leidensjahre« überschrieb, beginnt wie folgt: »Als die Mutter starb, hatte das Schicksal in einer Hinsicht bereits seine Entscheidung getroffen.

»In deren letzten Leidensmonaten war ich nach Wien gefahren, um die

Aufnahmeprüfung in die Akademie zu machen. Ausgerüstet mit einem dicken Pack von Zeichnungen, hatte ich mich damals auf den Weg gemacht, überzeugt, die Prüfung spielend leicht bestehen zu können. In der Realschule war ich schon weitaus der beste Zeichner meiner Klasse gewesen; seitdem war meine Fähigkeit noch ganz außerordentlich weiterentwickelt worden, so daß meine eigene Zufriedenheit mich stolz und glücklich das Beste hoffen ließ.«

Hitler bestand die Aufnahmeprüfung nicht. In der »Classifikationsliste«, in der die Gründe für die Ablehnung angegeben worden sind, heißt es: »Die Probezeichnung machten mit ungenügendem Erfolg oder wurden nicht zur Probe zugelassen ... Adolf Hitler, Braunau am Inn, 20. April 1889, deutsch, kath., Vater Oberoffizial, 4 Realschulklassen. Wenig Köpfe. Probezeichnung ungenügend.«

Den angeblichen Vorschlag des Rektors der Akademie, die Architekturschule der Akademie zu besuchen, konnte Hitler nicht verwirklichen; denn dazu hätte er das Abitur und den Abschluß der Bauschule der Technik nachweisen müssen, was er nicht konnte: »... was ich bisher aus Trotz in der Realschule versäumt hatte«, schrieb Hitler in »Mein Kampf«, »sollte sich nun bitter rächen ... Nach menschlichem Ermessen also war eine Erfüllung meines

Künstlertraumes nicht mehr möglich.«

Hitler kehrte nach Linz zurück und pflegte seine kranke Mutter, die im Dezember 1907 starb, so daß Hitler seit Weihnachten 1907 Vollwaise war. Im Februar 1908, einige Wochen vor seinem 19. Geburtstag, ging er wieder nach

Wien, um sich dort als Autodidakt zum Maler auszubilden.

In seiner biographischen Skizze vom November 1921 behauptete er dagegen: »Ich ging als noch nicht 18jähriger als Hilfsarbeiter auf einen Bau und habe nun im Verlaufe von 2 Jahren so ziemlich alle Arten von Beschäftigungen des gewöhnlichen Tagelöhners durchgemacht.« Hitler, der in »Mein Kampf« behauptete, daß die »Unsicherheit des täglichen Brotverdienstes ... (ihm) in kurzer Zeit als eine der schwersten Schattenseiten des neuen Lebens« erschienen sei, log auch, als er in »Mein Kampf« behauptete: »Not und harte Wirklichkeit zwangen mich nun, einen schnellen Entschluß zu fassen. Die geringen väterlichen Mittel waren durch die schwere Krankheit der Mutter zum großen Teile verbraucht worden; die mir zukommende Waisenpension genügte nicht, um auch nur leben zu können, also war ich nun angewiesen, mir irgendwie mein Brot selber zu verdienen.«

Not und Hunger, wie Hitler stets behauptete, hat er von 1908 bis 1914 weder in Wien noch in München zu leiden brauchen. Im Gegenteil. Seit er im Februar 1908, rund zwei Monate nach dem Tod seiner Mutter, nach Wien ging, erhielt er monatlich 58 Kronen aus dem väterlichen Erbteil und zusätzlich monatlich 25 Kronen Waisenrente. Ihm standen also monatlich 83 Kronen zur Verfügung. Ein k.u.k. Supplent (Assessor) an einer Oberrealschule empfing bis 1914 ein Monatsgehalt von 82 Kronen, ein absolvierter Jurist nach einjähriger Tätigkeit am Gericht ein Gehalt von monatlich 69 Kronen, ein Lehrer in den ersten Dienstjahren 66 Kronen, ein Postangestellter 60 Kronen. Benito Mussolini, der 1909 in dem damals österreichischen Trient lebte, wo er Chefredakteur des »L'Avvenire del Lavoratore« und Sekretär der Sozialisten der Arbeitskammer war, erhielt ein Monatsgehalt von 120 Kronen.

Die einzige Primärquelle für die Feststellung, daß Hitler in Wien systematisch arbeitender Hilfsarbeiter gewesen sei, ist Adolf Hitler selbst geblieben. Seine Behauptung, »Fünf Jahre, in denen ich erst als Hilfsarbeiter, dann als kleiner Maler mir ... mein wahrhaft kärglich Brot verdienen mußte«, ist eine Legende. Zeugen, die ihn in Wien auf einer Baustelle oder anderswo als Hilfsarbeiter sahen, haben sich nicht gemeldet, nicht einmal vor 1945, als Mitarbeiter des Hauptarchivs der NSDAP Mitschüler, Lehrer, Geistliche, Geschäftsinhaber, Käufer von Hitler -Bildern und Mitbewohner des Männerheims in der Meldemannstraße aufspürten und systematisch über ihre Erinnerungen im Zusammenhang mit dem jungen Hitler befragten.

Dennoch braucht sein Bericht über seine Hilfsarbeiter-Erlebnisse mit Gewerkschaftlern auf Baustellen in Wien nicht eine Erfindung zu sein ... Zweifellos ist Hitler von Mitte November bis Mitte Dezember 1909 - notgedrungen - als Hilfsarbeiter tätig gewesen. Es war die kurze Zeit, in der er im Obdachlosenasyl in Wien-Meidling übernachtete, was offensichtlich geschah, um sich vor den Behörden zu verbergen, weil er sich vorsätzlich der militärischen »Verzeichnung« entzog, zu der er im Herbst 1909 nach dem Gesetz-Blatt Nr. 41 des österreichischen Wehrgesetzes vom 11. April 1889 verpflichtet war.

Bis Mitte November 1919 hatte er versucht, sich eventuellen Nachstellungen durch Behörden durch einen allmonatlichen Wohnungswechsel zu entziehen. So wohnte er vom 18. November 1908 bis zum 20. August 1909 in der Felberstraße 22, vom 20. August bis 16. September 1909 in der Sechshauser Straße 58 und von da ab bis November 1909 in der Simon-Denk-Gasse als Untermieter.

Materielle Not zwang Hitler mit Sicherheit nicht dazu, Ende 1909 im Asyl für Obdachlose zu kampieren, wie alle Biographen bis 1965 übereinstimmend behauptet haben. So schrieb der britische Historiker Bullock beispielsweise in der 1965 herausgegebenen und überarbeiteten englischen Ausgabe seiner Hitler-Biographie: »Im Sommer konnte er (Hitler) im Freien schlafen ... zu Beginn des Herbstes bekam er ein Bett im Obdachlosenasyl.« Der amerikanische Hitler-Biograph Shirer behauptet sogar, daß Hitler »aus Geldmangel ... vier Jahre ... in Obdachlosenasylen« gelebt hätte.

Kurz vor Weihnachten 1909 zog Hitler in das einem billigen Großhotel gleichende Männerheim in der Meldemannstraße, das er bis zum 24. Mai 1913 zusammen mit unverheirateten entlassenen Offizieren, Akademikern, Angestellten, Kaufleuten, Händlern - und zum Teil auch gescheiterten Existenzen und Abenteurern bewohnte. Was er in Wien entwarf, zeichnete und malte, entstand in diesem Junggesellenheim, das er jedoch nicht nennt.

In »Mein Kampf« berichtet er über diese Zeit: »In den Jahren 1909 auf 1910 hatte sich auch meine eigene Lage insofern etwas geändert, als ich nun selber nicht mehr als Hilfsarbeiter mir mein tägliches Brot zu verdienen brauchte. Ich arbeitete damals schon selbständig als kleiner Zeichner und Aquarellist. So bitter dies in bezug auf den Verdienst war - es langte wirklich kaum zum Leben -, so gut war es aber für meinen erwählten Beruf. Nun war ich nicht mehr wie früher des Abends nach der Rückkehr von der Arbeitsstelle todmüde, unfähig, in ein Buch zu sehen, ohne in kurzer Zeit einzunicken. Meine jetzige Arbeit verlief ja parallel meinem künftigen Berufe. Auch konnte ich nun als Herr meiner eigenen Zeit mir diese wesentlich besser einteilen, als dies früher möglich war. Ich malte zum Brotverdienen und lernte zur Freude.«

In einem Gespräch mit dem Photographen Heinrich Hoffmann bestätigte er seine »Mein Kampf«-Version am 12. März 1944 auf dem Obersalzberg. »Ich wollte ja kein Maler werden«, erklärte er laut Protokoll, »ich habe diese Sachen nur gemalt, damit ich meinen Lebensunterhalt bestreiten und studieren konnte ... Gemalt habe ich immer nur so viel, damit ich gerade das Notwendigste zum Leben hatte. Mehr als etwa ... 80 (Mark) habe ich im Monat nicht gebraucht ...

»Studiert habe ich damals die ganzen Nächte durch. Meine architektonischen Skizzen, die ich damals angefertigt habe, das war mein kostbarster Besitz, mein Gehirneigentum, das ich nie hergegeben hätte, so wie ich die Bilder losgab. Man darf ja nicht vergessen, daß alle meine Gedanken von heute, meine architektonischen Planungen auf das zurückgehen, was ich mir damals in diesen Jahren in nächtelanger Arbeit angeeignet habe. Wenn ich heute in der Lage bin, aus dem Handgelenk zum Beispiel den Grundriß eines Theatergebäudes aufs Papier zu werfen, so mache ich das ja auch nicht im Trancezustand. Das ist alles ausschließlich das Ergebnis meines damaligen Studiums. Leider Gottes sind mir die allermeisten meiner damaligen Skizzen abhanden gekommen.«

Hitlers Angaben über seine Wiener Zeit, die er die »gründlichste Schule« seines Lebens genannt hat, decken sich ebensowenig mit den Tatsachen wie die Behauptungen der Biographen, daß sein Aufenthalt in Wien das ziellose Vegetieren eines bettelnden Asozialen unter Landstreichern, Tagedieben, verkrachten und gestrandeten Elementen gewesen sei. Einen Teil der Legenden über seine Jugend, besonders über seine Wiener Zeit, hat Hitler allerdings vorsätzlich selbst gewebt. Verschwommene Formulierungen und (nicht selten gewollt) ungenaue Feststellungen in »Mein Kampf« haben zur Entstehung eines Hitler-Bildes beigetragen, das nicht mit dem inzwischen durch einwandfreie Dokumente als zutreffend abgesicherten Hitler-Porträt identisch ist.

Im Mai 1913 verließ Hitler Wien und ging nach München, wo er bis zum Kriegsausbruch ein Zimmer mit separatem Eingang zum Preis von 20 Mark monatlich bei dem Schneidermeister Joseph Popp in der Schleißheimer Straße 34 in Schwabing bewohnte. Er selbst behauptet allerdings in »Mein Kampf": »Im Frühjahr 1912 kam ich endgültig nach München.« Warum Hitler in diesem Zusammenhang vorsätzlich log, ist nicht festzustellen. Bereits im November 1921 hatte er diese Version verbreitet. Entsprechend der Hitler-Feststellung stand denn auch nach 1933 auf einer Metalltafel am (Popp-)Haus, in der Schleißheimer Straße, daß Hitler dort von 1912 bis 1914, insgesamt 26 Monate, gewohnt habe, obwohl er vor 1914 tatsächlich nur 14 Monate in München lebte.

Was Hitler über seine Zeit in München in dem nur mit »München« überschriebenen 4. Kapitel in »Mein Kampf« berichtet, ist als Quelle für eine Biographie nicht brauchbar. Er breitet seine Vorstellungen über »Deutschlands falsche Bündnispolitik«, über »Die vier Wege deutscher Politik«, über den »Erwerb neuen Bodens«, über die »Lösung des österreichischen Bündnisses«, über spekulative Machtkonstellationen »Mit England gegen Rußland« und »Mit Rußland gegen England«, über den »Engländer in der deutschen Karikatur«, über die »Innere Schwäche des Dreibundes« aus und erklärt: »Jedenfalls war diese Zeit vor dem Kriege die glücklichste und weitaus zufriedenste meines Lebens.«

Wie in Wien, so stellte er auch in München meist sehenswerte Gebäude der Stadt (unter anderem das Hofbräuhaus, den Münzhof, das Nationaltheater, die Feldherrnhalle, die Propyläen und das Alte Rathaus) nach photographisehen Vorlagen dar und verkaufte die selten mehr als 30 mal 40 Zentimeter großen Bilder vornehmlich in der Kunsthandlung Stuffle am Maximiliansplatz mit gutem Erfolg, was sein durchschnittliches Monatseinkommen von 100 Mark (vor 1914 eine beträchtliche Summe) bezeugt. Nach Angaben von Elisabeth Popp, der Tochter des Wohnungsinhabers Popp, las Hitler »nahezu ununterbrochen« und »bündelweise Bücher aus der Staatsbibliothek«. Den »Deutschen Flottenkalender« lernte er auswendig.

Wie wenig es Hitler darum ging, die ungeschminkte Wahrheit über sich zu überliefern, bestätigt auch sein Verzicht auf die Erwähnung oder Schilderung der erfolgreichen Bemühungen der österreichischen Behörden, ihn, den seit Herbst 1909 Stellungsflüchtigen, in München ausfindig zu machen und zur Befolgung der Musterungsverpflichtung zu zwingen.

Die österreichische Polizei wandte sich am 29. Dezember 1913 an die Münchener Polizeidirektion mit der Bitte, den stellungspflichtigen Hitler in München zu suchen. Am 10. Januar 1914 wurde ihr mitgeteilt, daß Hitler in München in der Schleißheimer Str. 34 wohne. Eine Woche danach erhielt Hitler die Weisung, sich am 20. Januar 1914 in Linz zur Musterung einzufinden. Nach einigen Bemühungen erreichte er, daß er sich erst am 5. Februar in dem näher bei München liegenden Salzburg zur Musterung zu melden brauchte. Er wurde mit folgender Begründung vom Wehrdienst befreit: »Zum Waffen- und Hilfsdienst untauglich, zu schwach. Waffenunfähig.«

Sein Bericht im 5. Kapitel über seine Reaktion auf den Ausbruch des Krieges sagt nur dem Eingeweihten, was sich hinter einigen Andeutungen verbirgt, die Hitler auf seine Weise abzusichern versucht hat. »Aus politischen Gründen hatte ich Österreich (das 'Rassenbabylon', wie Hitler die Doppelmonarchie oft geringschätzig nannte) in erster Linie verlassen«, schrieb er, »was war aber selbstverständlicher, als daß ich nun, da der Kampf begann, dieser Gesinnung erst recht Rechnung tragen mußte. Ich wollte nicht für den Habsburgischen Staat fechten, war aber bereit, für mein Volk und das dieses verkörpernde Reich jederzeit zu sterben.«

Richtig ist daran, daß er sich in München sofort zum Kriegsdienst meldete. Bereits am »3. August reichte ich ein Immediatgesuch an Seine Majestät König Ludwig III. ein mit der Bitte, in ein bayrisches Regiment eintreten zu dürfen«, heißt es im selben Zusammenhang wahrheitsgemäß. Der Bitte des im Februar 1914 als »untauglich« für den Wehrdienst befundenen Hitler wurde entsprochen. Am 16. August konnte er in das bayrische Regiment List eintreten, wo er am 8. Oktober 1914 auf den König von Bayern und anschließend auf seinen Kaiser Franz Joseph vereidigt wurde.

Nach einer ungewöhnlich kurzen und unzureichenden Ausbildung kam Hitler im Oktober 1914 an die Front. In einem langen und aufschlußreichen Brief an einen seiner Münchner Freunde, den Justizassessor Ernst Hepp, berichtete er darüber im Februar 1915:

»Nach einer beispiellos schönen Rheinfahrt kamen wir am 23. Oktober in Lille an. Schon durch Belgien konnten wir den Krieg sehen. Löwen war ein Schutt- und Brandhaufen. Bis Dourmey ging die Fahrt ziemlich ruhig und sicher. An einigen Stellen waren die Bahngleise trotz strengster Bewachung gelockert worden. Immer zahlreicher kamen jetzt gesprengte Brücken, zertrümmerte Lokomotiven ... Aus der Ferne hörten wir auch schon das monotone Rollen unserer schweren Mörser.

»Gegen Abend kamen wir in einer ziemlich zerschossenen Liller Vorstadt an. Wir wurden ausgeladen und lungerten dann bei den Gewehrpyramiden herum. Etwas vor Mitternacht marschierten wir endlich in die eigentliche Stadt. Ein endloser, eintöniger Weg, links und rechts niedrige Fabrikhäuser, endlose ruß- und rauchgeschwärzte Backsteinkästen ... Bewohner gibt es nach 9 Uhr nicht mehr auf der Straße, desto mehr Militär.

»Wir winden uns fast unter Lebensgefahr zwischen Train- und Munitionskolonnen durch, bis wir endlich zu den inneren Festungstoren gelangen ... Wir waren weit außer Lilie. Der Kanonendonner war allmählich stärker geworden. Wie eine Riesenschlange wand sich unsere Marschkolonne vorwärts. In einem Schloßpark kam um 9 Uhr dann Halt. Zwei Stunden Rast, und dann geht es wieder weiter bis 8 Uhr abends. Das Regiment ist jetzt verschwunden, es hat sich aufgelöst in seine Kompanien, und von denen nimmt jede Deckung gegen Flieger ...

»Endlich liegt knapp hinter uns eine deutsche Haubitzenbatterie und jagt alle 15 Minuten zwei Granaten über unsere Köpfe hinweg in die schwarze Nacht hinaus. Das heult und faucht durch die Luft, und dann hört man weit in der Ferne zwei dumpfe Schläge. Jeder von uns horcht nach ... Und während wir so leise flüsternd eng aneinandergepreßt daliegen und zum Sternenhimmel emporsehen, geht in der Ferne ein Lärmen los, erst noch weit, dann immer näher und näher rattert es, und die einzelnen Schläge der Kanonen werden immer zahlreicher, bis zum Schlusse ein einziges Rollen daraus wird. Jedem von uns zuckte es durch die Adern.

»Die Engländer machen einen ihrer Nachtangriffe, heißt es. Lange warten wir, ungewiß von dem, was da eigentlich vorgeht. Dann aber wird es wieder ruhiger, und endlich hört der Höllenlärm ganz auf, nur unsere Batterie dröhnt alle 15 Minuten ihren Eisengruß in die Nacht hinaus. Am Morgen finden wir ein großes Granatloch ...

»Wir kriechen auf dem Boden bis zum Waldrand vor. Über uns heult und saust es, in Fetzen fliegen Baumstämme und Äste um uns herum. Dann wieder krachen Granaten in den Waldsaum hinein und schleudern Wolken von Steinen, Erde und Sand empor, heben die schwersten Bäume aus den Wurzeln und ersticken alles in einem gelbgrünen, scheußlichen, stinkigen Dampf. Ewig können wir hier nicht liegen, und wenn wir schon fallen, dann immer noch besser draußen ...

»Ich springe und laufe, so gut es geht, über Wiesen und Rübenfelder, springe über Gräben, komme über Draht- und lebende Hecken, und dann höre ich vor mir schreien: 'Hier herein, alles hier herein!' Ein langer Schützengraben liegt nun vor mir, einen Augenblick später springe ich hinein, vor mir, hinter mir, links und rechts folgen unzählige andere ...

»Immer wieder schlug eine Granate vor uns in den vor uns liegenden englischen Schützengraben ein. Wie aus einem Ameisenhaufen quollen die Kerle daraus hervor, und nun geht es bei uns zum Sturm. Wir kommen blitzschnell über die Felder vor, und nach stellenweise blutigem Zweikampf werfen wir die Burschen aus einem Graben nach dem anderen heraus ... Was sich nicht ergibt, wird niedergemacht ...«

Nirgendwo sonst ist Hitlers Sprache in »Mein Kampf« so gewählt, sein Stil so gewollt literarisch wie im Zusammenhang mit den Schilderungen seiner Kriegserlebnisse. Wie im Brief an Hepp, so schilderte er seine erste Berührung mit dem Feind auch in »Mein Kampf«, wo es heißt:

»Und so kam endlich der Tag, an dem wir München verließen, um anzutreten zur Erfüllung unserer Pflicht. Zum ersten Male sah ich so den Rhein, als wir an seinen stillen Wellen entlang dem Westen entgegenfuhren, um ihn, den deutschen Strom der Ströme, zu schirmen vor der Habgier des alten Feindes. Als durch den zarten Schleier des Frühnebels die milden Strahlen der ersten Sonne das Niederwalddenkmal auf uns herabschimmern ließen, da brauste aus dem endlos langen Transportzuge die alte 'Wacht am Rhein' in den Morgenhimmel hinaus, und mir wollte die Brust zu enge werden.

»Und dann kommt eine feuchte, kalte Nacht in Flandern, durch die wir schweigend marschieren, und als der Tag sich dann aus den Nebeln zu lösen beginnt, da zischt plötzlich ein eiserner Gruß über unsere Köpfe uns entgegen und schlägt in scharfem Knall die kleinen Kugeln zwischen unsere Reihen, den nassen Boden aufpeitschend; ehe aber die kleine Wolke sich noch verzogen, dröhnt aus zweihundert Kehlen dem ersten Boten des Todes das erste Hurra entgegen.

»Dann aber begann es zu knattern und zu dröhnen, zu singen und zu heulen, und mit fiebrigen Augen zog es nun jeden nach vorne, immer schneller, bis plötzlich über Rübenfelder und Hecken hinweg der Kampf einsetzte, der Kampf Mann gegen Mann. Aus der Ferne aber drangen die Klänge eines Liedes an unser Ohr und kamen immer näher und näher, sprangen über von Kompanie zu Kompanie, und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!

»Nach vier Tagen kehrten wir zurück. Selbst der Tritt war jetzt anders geworden. Siebzehnjährige Knaben sahen nun Männern ähnlich. Die Freiwilligen des Regiments List hatten vielleicht nicht recht kämpfen gelernt, allein zu sterben wußten sie wie alte Soldaten.«

Bereits ein Vergleich zwischen den Hitler-Briefen von der Front und den entsprechenden Darstellungen in »Mein Kampf« schließt jeden Zweifel darüber aus, daß Hitler »Mein Kampf« womöglich nicht selbst geschrieben (diktiert) haben könnte.

Was Hitler in »Mein Kampf« als sichere Erinnerung aus seiner Kindheit überlieferte, nämlich daß er stets ein besonderes Interesse für alles aufgebracht habe, »was ... mit Krieg« zusammenhinge, haben Schulkameraden, Lehrer und Geistliche übereinstimmend bezeugt. Daß das auch - wenigstens bis 1916 - noch der Fall gewesen ist, als Hitler an der Front war, wie er in »Mein Kampf« versichert, bestätigt unter anderem seine Post von der Front.

Stets schilderte er so zum Beispiel der Familie Popp mit künstlerischem Einfühlungsvermögen nicht nur die Landschaft, die Orte, das Klima, die Beschaffenheit der Stellungen und die Positionen seiner Einheit, sondern besonders die abgeschlagenen Feindangriffe und die erfolgreich vorgetragenen Angriffe der eigenen Truppe. So hieß es beispielsweise in einer Nachricht vom 20. Februar 1915 an Joseph Popp: »Gestern Nacht kam (die) Nachricht vom Hindenburgsieg. In den Schützengräben wurde er mit dröhnenden 'Hurras' aufgenommen.«

»... Jeder von uns«, schrieb er an Ernst Hepp, »hat nur den einen Wunsch, daß es bald zur endgültigen Abrechnung mit der Bande kommen möge, zum Draufgehen, koste es, was es wolle.«

Aber der Frontsoldat Hitler, der 20 Jahre später als »Führer und Reichskanzler« auf einen Krieg hinarbeitete, wies stets auch auf die furchtbaren Verluste der eigenen Truppe, auf die ungeheuren Strapazen, auf die Zerstörung der Städte und Dörfer im Feindesland und auf seine Sehnsucht nach München hin. »... die Opfer und Leiden, die nun täglich so viele Hunderttausende von uns bringen ... (der) Strom von Blut, der hier Tag für Tag fließt«, wie er im Februar 1915 an Hepp geschrieben hatte, waren ihm nicht gleichgültig. Nur erwartete er nicht ausschließlich den Sieg über den Feind, sondern auch die »Zerbrechung« des »inneren Internationalismus«.

Doch nicht nur Hitlers Feldpost, sondern auch eine aus der Kriegszeit stammende witzig-ironische Hitler-Zeichnung, die Hitler und seine (von ihm selbst am unteren Bildrand namentlich bezeichneten) Frontkameraden Schmidt, Jakob, Bachmann, Etzelsberger und andere mit Pickelhauben und Regenschirmen vor trist und schmal in den grauen, undurchsichtigen Himmel hineinreichenden dürren Bäumen und einer umrißhaft angedeuteten Ruine auf grundlosem Boden in recht individueller Haltung marschierend zeigt, verrät Hitlers unmittelbare Kriegseindrücke deutlich (SPIEGEL 32/1966).

Der Gefreite Hitler war ein tapferer Soldat. Er wurde zweimal verwundet und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Nach den Eintragungen in der Kriegsstammrolle der 7. Ersatzkompanie/2. Bayrisches Infanterie-Regiment wurden ihm am 2. Dezember 1914 das Eiserne Kreuz II. Klasse, später das Militärverdienstkreuz III. Klasse mit Schwertern, ein Regimentsdiplom für hervorragende Tapferkeit während des Einsatzes bei Fontaine, die Dienstauszeichnung III. Klasse und am 4. August 1918 das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen.

Im Frühjahr 1922, als noch niemand gezwungen werden konnte, den einstigen Soldaten Hitler besonders positiv zu beurteilen, erklärten Oberstleutnant a.D.v. Lüneschloß, Generalmajor Petz, ein ehemaliger Kommandeur des königlich-bayrischen Reserve-Infanterieregiments Nr. 16, Oberstleutnant a.D. Spatny und Max Josef Ritter Freiherr v. Tabeuf übereinstimmend, daß der Meldegänger Adolf Hitler an der Front schneidig, opferbereit, kaltblütig und unerschrocken gewesen sei.

Nach seiner zweiten Verwundung, im Oktober 1918, die in der Kriegsstammrolle mit »gaskrank« bezeichnet wird, war der Krieg für den Meldegänger Hitler beendet. Die Revolution stand vor der Tür. In »Mein Kampf« berichtete er über dieses Ereignis, das im Rahmen seiner Autobiographie eine besonders gravierende Rolle spielt, da die Revolution seine Entscheidung »Politiker zu werden« auslöste:

»Es lag etwas Unbestimmtes, aber Widerliches schon lange in der Luft. Man erzählte sich, daß es in den nächsten Wochen 'los' gehe ... Und dann brach eines Tages plötzlich und unvermittelt das Unglück herein. Matrosen kamen auf Lastkraftwagen und riefen zur Revolution auf, ein paar Judenjungen waren die 'Führer' in diesem Kampfe um die 'Freiheit, Schönheit und Würde' unseres Volksdaseins. Keiner von ihnen war an der Front gewesen. Auf dem Umweg eines sogenannten 'Tripperlazaretts' waren die drei Orientalen aus der Etappe der Heimat zurückgegeben worden. Nun zogen sie in ihr den roten Fetzen auf ... Ich konnte mir nicht vorstellen, daß auch in München der Wahnsinn ausbrechen würde. Die Treue zum ehrwürdigen Hause Wittelsbach schien mir denn doch fester zu sein als der Wille einiger Juden ...

»Die nächsten Tage kamen und mit ihnen die entsetzlichste Gewißheit meines Lebens. Immer drückender wurden nun die Gerüchte. Was ich für eine lokale Sache gehalten hatte, sollte eine allgemeine Revolution sein. Dazu kamen die schmachvollen Nachrichten von der Front. Man wollte kapitulieren. Ja, war so etwas überhaupt auch nur möglich?

»Am 10. November kam der Pastor in das Lazarett zu einer kleinen Ansprache; nun erfuhren wir alles. Ich war, auf das äußerste erregt, auch bei der kurzen Rede anwesend ... Mir wurde es unmöglich, noch länger zu bleiben. Während es mir um die Augen wieder schwarz ward, tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und Kissen.

»Seit dem Tage, da ich am Grabe der Mutter gestanden, hatte ich nicht mehr

geweint. Wenn mich in meiner Jugend das Schicksal unbarmherzig hart anfaßte, wuchs mein Trotz. Als sich in den langen Kriegsjahren der Tod so manchen lieben Kameraden und Freund aus unseren Reihen holte, wäre es mir fast wie eine Sünde erschienen, zu klagen ... Nun sah ich erst, wie sehr alles persönliche Leid versinkt gegenüber dem Unglück des Vaterlandes. Es war also alles umsonst gewesen ...

»Ich mußte nun lachen bei dem Gedanken an meine eigene Zukunft, die mir vor kurzer Zeit noch so bittere Sorgen bereitet hatte. War es nicht zum Lachen, Häuser bauen zu wollen auf solchem Grunde? Endlich wurde mir auch klar, daß doch nur eingetreten war, was ich so oft schon befürchtete, nur gefühlsmäßig nie zu glauben vermochte. Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, daß Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche.

»Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder -Oder. Ich aber beschloß, Politiker zu werden.«

Dieser Bericht, der sprachlich noch von Hitlers emotionalem Engagement für den Krieg profitiert, macht besonders deutlich, wie sehr »Mein Kampf« in großen Teilen »protokollierte« Hitler-Reden enthält, die vor Gläubigen gehalten wurden. Hitler argumentierte nicht wie ein ernstzunehmender Schriftsteller, sondern wie Angehörige rechtsradikaler Organisationen und Kampfverbände es während ihrer Stammtischrunden in Gasthäusern taten. Seine Behauptung, daß »ein paar Judenjungen«, von denen »keiner ... an der Front gewesen« sei, über ein »Tripperlazarett« in die Heimat gekommen wären und die Revolution ausgelöst hätten, hätte in eine Versammlung der NSDAP gepaßt, in einem Buch richtet sie den Autor.

Offensichtlich ist Hitler in diesem Zusammenhang nicht aufgefallen, daß er durch diese Schilderung in den Verdacht geraten mußte, entweder gelogen zu haben oder 1918 über die tatsächliche Haltung der Bevölkerung in der Heimat ungewöhnlich schlecht informiert - und für die ihm unangenehm erscheinende Wirklichkeit blind - gewesen zu sein, obwohl er in einem Heimatlazarett war und sich leicht informieren konnte.

»Ende November 1918 kam ich (aus dem Lazarett) nach München zurück«, schreibt Hitler wahrheitsgemäß im 8. Kapitel, das er mit »Beginn meiner politischen Tätigkeit« überschrieb. In seiner Kurzbiographie vom 29. November 1921 hatte er dagegen behauptet, erst »seit Dezember 1918« wieder In München bei der Ersatz-Einheit gewesen zu sein.

Wie seine Papiere bezeugen, hatte er am 21. November 1918 das Lazarett in Pasewalk verlassen ... Bereits an der Front hatte er mit einem Kriegskameraden, dem Maler Ernst Schmidt, häufig über seine beruflichen Pläne diskutiert. Bis Oktober 1918 ist er sich allerdings nicht klar darüber gewesen, ob er nach dem Kriege Architekt oder Politiker werden sollte.

Über seine Erlebnisse nach der Entlassung aus dem Lazarett berichtet Hitler: »Ich fuhr ... zum Ersatzbataillon meines Regiments, das sich in der Hand von 'Soldatenräten' befand. Der ganze Betrieb war mir so widerlich, daß ich mich sofort entschloß, wenn möglich wieder fortzugehen. Mit einem treuen Feldzugskameraden, Schmiedt (richtig: Schmidt) ... kam ich nach Traunstein und blieb bis zur Auflösung des Lagers dort. Im März 1919 gingen wir wieder nach München zurück. Die Lage war unhaltbar und drängte zwangsläufig zu einer weiteren Fortsetzung der Revolution. Der Tod Eisners beschleunigte nur die Entwicklung und führte endlich zur Rätediktatur, besser ausgedrückt zu einer vorübergehenden Judenherrschaft, wie sie ursprünglich den Urhebern der ganzen Revolution als Ziel vor Augen schwebte.«

Daß dem radikalen Antisemiten Hitler der »ganze Betrieb ... widerlich« erschien, ist verständlich. An seiner Behauptung über die »Judenherrschaft« ist richtig, daß einige besonders exponierte Mitglieder der bayrischen Revolutionsregierung, unter anderem Kurt Eisner, Ernst Toller und Erich Mühsam, tatsächlich Juden waren. Aber Hitler blieb dennoch bis Mitte Februar 1919 in der Kaserne der 7. Ersatzkompanie des 2. Infanterie-Regiments.

Um sich zusätzlich Geld zu verdienen, half er zusammen mit Schmidt freiwillig bei der Sortierung militärischer Bekleidungsstücke. Am 12. Februar 1919 gingen Hitler und Schmidt nach Traunstein, wo die 2. Demobilmachungs-Kompanie des 2. Bayrischen Infanterie-Regiments einen Wachdienst für die dort im Gefangenenlager festgehaltenen französischen und russischen Kriegsgefangenen eingerichtet hatte. Nach der Auflösung des Lagers kamen Hitler und Schmidt im März nach München zurück, wo nach Hitlers Worten inzwischen eine »Judenherrschaft« (der Räte) errichtet worden war.

Nach eigenen Angaben ist Hitler in München im »Laufe der neuen Räterevolution ... zum ersten Male so« aufgetreten, daß er sich »das Mißfallen des »Zentralrates« zuzog und am 27. April 1919 verhaftet werden sollte. Daß Hitler am 27. April auf Veranlassung des Zentralrates verhaftet werden sollte, ist ausgeschlossen; denn der Zentralrat hat seit dem 7. April 1919 gar nicht mehr existiert.

Ernst Niekisch, der einstige Präsident des Zentralrates, bezeichnet die Hitler -Behauptung denn auch als eine Erfindung Hitlers. Hitlers Feststellung, von der Auflösung des Traunsteiner Gefangenenlagers im März 1919 bis zum Eintreffen der Truppen von Epp und Noske Anfang Mai 1919 in München geblieben zu sein, entspricht dagegen den Tatsachen. Nach unveröffentlichten Feststellungen des Historikers Ernst Deuerlein soll er während dieser Zeit versucht haben, sich der USPD und den Kommunisten anzuschließen, was mit Sicherheit allerdings nichts weiter als eine Schutzmaßnahme gewesen ist, wenn Deuerleins Behauptung tatsächlich durch Dokumente abgesichert werden kann.

Nach dem Einmarsch der Angehörigen des Freikorps Epp in München wurde Hitler jedenfalls in der Max-II. -Kaserne verhaftet. Nach Angaben von Ernst Schmidt sollen aus der Kaserne Gewehrschüsse auf die in München einrückenden Befreiungstruppen abgegeben worden sein, was zur Verhaftung einiger Soldaten geführt habe. Der Fürsprache einiger Offiziere, denen er bekannt war, verdankte Hitler schließlich seine Freilassung. Diese Verhaftung hat er fünf Jahre später in »Mein Kampf« in einen - von ihm mit Hilfe eines Karabiners vereitelten - Verhaftungsversuch durch Angehörige der kommunistischen Roten Armee umgewandelt.

Über seine erste Tätigkeit nach dem Ende des Krieges hatte Hitler in seiner Kurzbiographie vom 29. November 1921 geschrieben: »Während der Räteperiode auf der Konskriptionsliste stehend, wurde ich nach Niederschlagung der roten Herrschaft in die Untersuchungs-Kommission des 2. Infanterie -Regiments kommandiert.« In »Mein Kampf« heißt es übereinstimmend: »Wenige Tage nach der Befreiung Münchens (in den ersten Maitagen) wurde ich zur Untersuchungskommission über die Revolutionsvorgänge beim 2. Infanterie-Regiment kommandiert.«

Hitlers Berichte decken sich im wesentlichen mit den Tatsachen. Er verschweigt lediglich, daß er nach der Niederwerfung der Räte von Angehörigen des Freikorps Epp festgenommen und auf Veranlassung von Offizieren wieder freigelassen wurde, die schließlich dafür sorgten, daß er zu der von ihm erwähnten Untersuchungskommission kommandiert wurde.

Mit Sicherheit war Hitler, der sich während der Rätezeit in München aufgehalten hat, damit beauftragt, die Unteroffiziere und Mannschaften ausfindig zu machen, die während der Rätezeit auf der Seite der kommunistischen Räte gestanden hatten.

Hitler, der die ihm übertragene Aufgabe zur vollen Zufriedenheit seiner vorgesetzten Dienststelle erfüllt haben muß, wurde zu einem Aufklärungskurs kommandiert, der vom 5. bis 12. Juni 1919 an der Universität München stattfand und den zu demobilisierenden und aus der Gefangenschaft heimkehrenden Soldaten nach Hitlers Formulierung »bestimmte Grundlagen zu staatsbürgerlichem Denken« vermitteln sollte. Im Rahmen dieses Kurses, der vom Reichswehrgruppenkommando 4 (der bayrischen Reichswehr) mit Mitteln der Berliner Reichswehrverwaltung und mit privaten Zuwendungen für Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften eingerichtet worden war, hatte Hitler sich in Vorlesungen und Seminaren über folgende Themen zu informieren: »Die deutsche Geschichte seit der Reformation«, »Die politische Geschichte des Krieges«, »Der Sozialismus in Theorie und Praxis«, »Unsere wirtschaftliche Lage und die Friedensbedingungen«, »Der Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Politik«.

Über die nächste Station seiner ungewöhnlichen Karriere, die nach dem verlorenen Krieg im Rahmen der Reichswehr ihren Ausgang nahm, berichtet Hitler wie folgt: »Ich meldete mich eines Tages zur Aussprache. Einer der Teilnehmer glaubte, für die Juden eine Lanze brechen zu müssen, und begann sie in längeren Ausführungen zu verteidigen. Dies reizte mich zu einer Entgegnung. Die weitaus überwiegende Anzahl der anwesenden Kursteilnehmer stellte sich auf meinen Standpunkt. Das Ergebnis aber war, daß ich wenige Tage später dazu bestimmt wurde, zu einem damaligen Münchener Regiment als sogenannter 'Bildungsoffizier' einzurücken.«

Richtig ist an dieser Feststellung, daß Hitlers überzeugend vorgetragener antisemitischer Diskussionsbeitrag bei den Dozenten des Kurses einen so imponierenden Eindruck hinterlassen hatte, daß er dazu ausersehen wurde, im Rahmen der Reichswehr eine wichtige politische Funktion zu übernehmen. Nicht mit den Tatsachen deckt sich dagegen die Behauptung, daß er als »Bildungsoffizier« eingesetzt, worden sei. Bildungsoffiziere waren in der Regel vom Heeresdienst beurlaubte und in München studierende Offiziere.

Hitler, der trotz seiner einhellig bezeugten Tapferkeit und der für einen Mannschaftsdienstgrad ungewöhnlich zahlreichen Auszeichnungen auch am Ende des Krieges nur Gefreiter war, war nicht Bildungsoffizier, sondern »Vertrauensmann« ("V-Mann") im Rahmen der Abteilung I b/P, die wechselweise als »Nachrichtenabteilung«, »Presse- und Propagandaabteilung« und »Aufklärungsabteilung« bezeichnet wurde und unter der Leitung des bayrischen Richtersohnes Hauptmann i.G. Karl Mayr (gestorben im KZ Buchenwald) stand.

Über seine Vortragstätigkeit (als »V -Mann") vor Angehörigen der Truppe im Sommer 1919 schreibt Hitler in »Mein Kampf": »Ich begann mit aller Lust und Liebe. Bot sich mir doch jetzt mit einem Male die Gelegenheit, vor einer größeren Zuhörerschaft zu sprechen, und was ich früher immer, ohne es zu wissen, aus dem reinen Gefühl heraus einfach angenommen hatte, traf nun ein: ich konnte 'reden' ... Keine Aufgabe konnte mich glücklicher machen als diese, denn nun vermochte ich noch vor meiner Entlassung in der Institution nützliche Dienste zu leisten, die mir unendlich am Herzen gelegen hatte: im Heere.

»Ich durfte auch von Erfolg sprechen: Viele Hunderte, ja wohl Tausende von Kameraden habe ich Im Verlaufe meiner Vorträge wieder zu ihrem Volk und Vaterland zurückgeführt. Ich 'nationalisierte' die Truppe und konnte auf diesem Wege auch mithelfen, die allgemeine Disziplin zu stärken.«

Schriftliche Berichte von Angehörigen des Aufklärungskommandos Beyschlag, zu dem Hitler seit dem 22. Juli 1919 gehörte, bestätigen die Angaben Hitlers, dessen rhetorische Fähigkeiten einhellig hervorgehoben, besonders gelobt und neidlos anerkannt werden. Diese Tätigkeit Hitlers bildete die entscheidende Zäsur in seiner persönlichen und politischen Karriere.

»Eines Tages erhielt ich«, heißt es im 9. Kapitel von »Mein Kampf«, »von der mir vorgesetzten Dienststelle den Befehl, nachzusehen, was es für eine Bewandtnis mit einem anscheinend politischen Verein habe, der unter dem Namen 'Deutsche Arbeiterpartei' in den nächsten Tagen (am 12. September 1919) eine Versammlung abzuhalten beabsichtige ... ich müßte hingehen und mir den Verband einmal ansehen und dann Bericht erstatten.«

Hitler, der den von ihm erwähnten Befehl auftragsgemäß ausführte, berichtet über das Ergebnis des Versammlungsbesuches wie folgt: »Als ich abends in das für uns später historisch gewordene 'Leiberzimmer' des ehemaligen Sterneckerbräues in München kam, traf ich dort etwa 20 bis 25 Anwesende, hauptsächlich aus den unteren Schichten der Bevölkerung.«

Hitlers Feststellungen sind ungenau. Nicht 20 bis 25, sondern 46 Teilnehmer waren (zusammen mit Hitler) zur Versammlung im »Leiberzimmer« des »Sterneckerbräu« erschienen. Ebenso ungenau ist seine Behauptung, daß es sich bei den Teilnehmern vornehmlich um Angehörige der »unteren Schichten der Bevölkerung« gehandelt habe. Nach den Eintragungen in der Anwesenheitsliste handelte es sich bei den Versammlungsbesuchern um einen Arzt, einen Chemiker und zwei Geschäftsinhaber, um zwei Kaufleute, zwei Bankangestellte, einen Maler, zwei Ingenieure, einen Schriftsteller und eine Landrichterstochter. Sechzehn der Anwesenden waren Handwerker, hauptsächlich Bekannte des Eisenbahnschlossers Anton Drexler, der zu den Gründern der Deutschen Arbeiterpartei gehörte. Sechs Teilnehmer waren Soldaten, fünf Studenten. Fünf Teilnehmer gaben ihre Berufe nicht an.

Der in Zivil erschienene V-Mann Adolf Hitler, der in dem Zusammenhang erstmalig in einem Dokument der Deutschen Arbeiterpartei auftaucht, trug sich nicht als Bildungsoffizier oder als Beauftragter der Truppe, sondern als »Gefreiter« ein und gab als Wohnort den Truppenteil an.

Über die Veranstaltung der DAP heißt es bei Hitler: »Der Vortrag Feders war mir schon von den Kursen her bekannt, so daß ich mich mehr der Betrachtung des Vereins selber widmen konnte ... Als Feder endlich schloß, war ich froh. Ich hatte genug gesehen und wollte schon gehen, als die nun verkündete freie Aussprache mich doch bewog, noch zu bleiben.

»Allein auch hier schien alles bedeutungslos zu verlaufen, bis plötzlich ein 'Professor' zu Worte kam, der erst an der

Richtigkeit der Federschen Gründe zweifelte, sich dann aber - nach einer sehr guten Erwiderung Feders - plötzlich auf den 'Boden der Tatsachen' stellte, nicht aber ohne der jungen Partei auf das angelegentlichste zu empfehlen, als besonders wichtigen Programmpunkt den Kampf um die 'Lostrennung' Bayerns von 'Preußen' aufzunehmen.

»Der Mann behauptete mit frecher Stirne, daß in diesem Falle sich besonders Deutschösterreich sofort an Bayern anschließen würde, daß der Friede dann viel besser würde und ähnlichen Unsinn mehr. Da konnte ich denn nicht anders, als mich ebenfalls zum Wort zu melden und dem gelahrten Herrn meine Meinung über diesen Punkt zu sagen - mit dem Erfolge, daß der Herr Vorredner, noch ehe ich fertig war, wie ein begossener Pudel das Lokal verließ.

»Als ich sprach, hatte man mit erstaunten Gesichtern zugehört, und erst als ich mich anschickte, der Versammlung gute Nacht zu sagen und mich zu entfernen, kam mir noch ein Mann nachgesprungen, stellte sich vor (ich hatte den Namen gar nicht richtig verstanden)

und drückte mir ein kleines Heftchen, ersichtlich eine politische Broschüre, in die Hand, mit der dringenden Bitte, dies doch ja zu lesen.«

Hitler, der bis Ende März 1920 Angehöriger der Truppe war und in den Unterkünften des 2. Infanterie-Regiments wohnte, las die Drexler-Schrift, die den Titel »Mein politisches Erwachen« trug, nach seinen eigenen Angaben in der Kaserne. Eine Woche nach der Versammlungskontrolle war ihm zugleich mit einer Einladung zu einer Ausschußsitzung von der DAP-Leitung mitgeteilt worden, daß er, ohne sich darum bemüht zu haben, Mitglied der DAP geworden sei, was er nicht ohne Berechtigung als »Einfangung« bezeichnete.

»Ich war«, schrieb Hitler, »über diese Art, Mitglieder zu 'gewinnen' ... mehr als erstaunt und wußte nicht, ob ich mich darüber ärgern oder ob ich dazu lachen sollte. Ich dachte ja gar nicht daran, zu einer fertigen Partei zu gehen, sondern wollte meine eigene gründen. Dieses Ansinnen kam für mich wirklich nicht in Frage. Schon wollte ich meine Antwort den Herren schriftlich zugehen lassen, als die Neugierde siegte und ich mich entschloß, am festgelegten Tage zu erscheinen, um meine Gründe mündlich auseinanderzusetzen.«

Die diesem Hitler-Bericht unmittelbar folgenden Ausführungen sind pathetische Phrasen. Sie enden in der berühmt gewordenen Behauptung: »Nach zweitägigem qualvollem Nachgrübeln und Überlegen kam ich endlich zur Überzeugung, den Schritt tun zu müssen. Es war der entscheidendste Entschluß meines Lebens. Ein Zurück konnte und durfte es nicht mehr geben. So meldete ich mich als Mitglied der Deutschen Arbeiterpartei an und erhielt einen provisorischen Mitgliedsschein mit der Nummer sieben.«

Hitlers Bericht enthält eine bewußte

- und auf Legendenbildung ausgerichtete - Lüge. Sie hat einen erheblichen Beitrag zur Bildung des Hitler-Kultes sei dem Erscheinen des I. Bandes von »Mein Kampf« geliefert. Hitler war nicht das 7. Mitglied der Deutschen Arbeiterpartei, wie er behauptete, sondern das 55. Mitglied mit der Mitglieds-Nummer 555. Von Juli 1921 bis Anfang 1925 hatte Hitler die Mitglieds-Nummer 3680. Er war Mitglied Nr. 7 lediglich im Arbeitsausschuß der DAP (als Werbeobmann). Nach der Neubegründung der NSDAP im Jahre 1925 beanspruchte er die Mitglieds-Nummer 1.

Hitlers Behauptung in »Mein Kampf«, daß der »Ausschuß (der Deutschen Arbeiterpartei) praktisch die ganze Mitgliedschaft repräsentierte«, diente dem gleichen Zweck wie die mystische Beziehungen andeutende Legende über Hitlers angebliche Partei-Mitglieds -Nummer 7. Hitler wollte es mit der nüchternen und sachlich unbestreitbaren Feststellung nicht genug sein lassen, daß er es gewesen ist, der aus der im Herbst 1919 rund vier Dutzend Mitglieder zählenden kleinen DAP eine Partei schuf, die am 9. November 1923, ungefähr vier Jahre nach seiner Aufnahme in die Partei, insgesamt 55 787 Mitglieder zählte und zu einem bemerkenswerten Machtfaktor nicht nur im Rahmen der Politik in Bayern geworden war.

Trotz der zahlreichen Ungenauigkeiten und irreführenden Angaben in

»Mein Kampf«, der oft erheblichen Differenzen zwischen den Berichten und Feststellungen Hitlers und den tatsächlichen und zweifelsfrei zu belegenden Daten, Ereignissen und anderen eindeutig abgesicherten Details und Zusammenhängen ist Hitlers Werk bis 1965 eine maßgebliche und richtungweisende Quelle für die Hitler-Biographen und Historiker wie Bullock, Shirer, Gisevius, Nolte, Domarus und Freund geblieben, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus publizistisch und lehrend auseinandersetzten.

Von 1925 bis 1945 waren die Hitler -Texte für nationalsozialistische Autoren das nicht ohne grundsätzliche Konsequenzen anzuzweifelnde »Evangelium«. Dokumente, die geeignet waren, Hitlers Angaben in »Mein Kampf« zu widerlegen, befanden sich hauptsächlich im Hauptarchiv der NSDAP und waren den Biographen und Historikern nicht zugänglich. Von 1945 bis 1965 haben deutsche und ausländische Hitler-Biographen und Historiker Hitlers Werk zwar auch als Quelle benutzt, weil es in zahlreichen Punkten Quellenwert besitzt und die Akten und Dokumente des ehemaligen Hauptarchivs der NSDAP, die 1945 in alliierte Hände fielen, bis 1955 unbeachtet in einem Armee-Magazin in Alexandria in Virginia lagerten und der internationalen (besonders der deutschen) Forschung nicht zugänglich waren; aber Hitlers Feststellungen wurden nahezu ausschließlich negativ artikuliert, was nicht selten zu krassen Verzeichnungen der tatsächlichen Zusammenhänge geführt hat.

Ein eindrucksvolles Beispiel für die zuerst genannte Kategorie bildet die »geschichtliche« Darstellung des nationalsozialistischen Autors Johann v. Leers, der 15 Jahre nach seiner Flucht aus Deutschland im Jahre 1965 als »Professor Omar Amin von Leers« in Ägypten starb, wo er, zum Islam übergetreten, nach eigenen Angaben dem Kultusminister als »antisemitischer Berater« und »Judenfachmann« gedient hatte.

In seiner 1932 unter dem Titel »Adolf Hitler« erschienenen Hitler-Biographie hielt er sich peinlich genau und kritiklos an die Behauptungen in Hitlers Buch »Mein Kampf«. So wiederholte er Hitlers Bericht über seinen Aufbruch nach Wien mit folgenden Worten: »Der junge Adolf steht mit einem Köfferchen voll Kleider und Wäsche ... plötzlich allein.« Hitler hatte in »Mein Kampf« geschrieben: »Einen Koffer mit Kleidern und Wäsche in den Händen ... fuhr ich ... nach Wien.«

Die im folgenden kommentierten Gegenüberstellungen von Textstellen aus »Mein Kampf« mit Feststellungen kritischer Hitler-Biographen und Historiker bezeugen exemplarisch, daß »Mein Kampf« auch nach 1945 zum Beispiel von Alan Bullock, William L. Shirer, Walter Görlitz, Hans Bernd Gisevius, Ernst Nolte, Max Domarus und Michael Freund nicht nur als roter Faden benutzt worden ist.

In »Mein Kampf«, wo Hitler behauptete, daß es ihm in Wien sehr schlecht ergangen sei, heißt es zum Beispiel: »Auch heute noch kann diese Stadt (Wien) nur trübe Gedanken in mir erwecken. Fünf Jahre Elend und Jammer sind im Namen dieser Phäakenstadt für mich enthalten. Fünf Jahre, in denen ich erst als Hilfsarbeiter, dann als kleiner Maler mir mein Brot verdienen mußte; mein wahrhaft kärglich Brot, das doch nie langte, um auch nur den gewöhnlichen Hunger zu stillen.«

Dieser Passus ist von allen Hitler -Biographen nach 1945 ebenso als wahrheitsgemäße und autobiographische Schilderung gewertet worden wie von den kritischen und nationalsozialistischen Hitler-Biographen vor 1945. Hitler, der vor dem Volk unbedingt ein einfacher »Mann aus dem Volke«, »ein Arbeiter«, gewesen sein wollte, der einmal Not gelitten habe, ist es gelungen, diese propagandistisch besonders wirkungsvoll auswertbare Feststellung

durch geschickt formulierte Behauptungen in »Mein Kampf« glaubhaft zu machen.

Aus zahlreichen biographischen Texten ist deutlich herauszulesen, wieweit »Mein Kampf« als Quelle wirkte, was im folgenden wenigstens durch einige Beispiele belegt werden soll.

Hitler schrieb im ersten Band von »Mein Kampf": »Im Laufe der neuen Räterevolution trat ich zum ersten Male so auf, daß ich mir das Mißfallen des Zentralrates zuzog. Am 27. April 1919 frühmorgens sollte ich verhaftet werden - die drei Burschen aber besaßen angesichts des vorgehaltenen Karabiners nicht den nötigen Mut und zogen wieder ab, wie sie gekommen waren.«

Gisevius polemisiert zwar gegen Hitlers Behauptung, ohne jedoch nachweisen zu können, wie es sich im Frühjahr 1919 wirklich verhalten hat. »Drei Burschen«, so heißt es bei Gisevius, »hätten ihn noch kurz vor Toresschluß verhaften wollen, worauf er sie mit vorgehaltenem Revolver vertrieben habe.«

Auch Shirer übernahm den Hitler -Bericht in gleicher Weise. »Im Frühjahr«, schrieb der amerikanische Autor, »war er (Hitler) wieder in München. In »Mein Kampf« erzählt er, er habe sich das 'Mißfallen' der Linksregierung zugezogen und sei der Verhaftung nur dadurch entgangen, daß er drei 'Burschen', die ihn abholen wollten, geistesgegenwärtig seinen Karabiner vorgehalten habe.«

Und auch bei Helmut Heiber heißt es ähnlich: »Wie er (Hitler) später berichtet hat, versuchten Anhänger der neuen Machthaber ... ihn in seiner Kaserne zu verhaften; in Anbetracht seines vorgehaltenen Karabiners seien sie jedoch wieder abgezogen, wie sie gekommen waren.«

Tatsache ist, daß Hitler im Frühjahr 1919 nicht nur verhaftet werden sollte, sondern daß er auch verhaftet wurde. Allerdings ist das nicht durch Beauftragte des »Zentralrates« geschehen, wie Hitler behauptet, sondern - nach der Niederwerfung der kommunistischen Räteherrschaft - durch Angehörige des Freikorps Epp.

An einer anderen Stelle berichtete Hitler: »So meldete ich mich als Mitglied der Deutschen Arbeiterpartei an und erhielt einen provisorischen Mitgliedsschein mit der Nummer sieben.« Leers übernahm diese Hitler-Lüge. Aber auch William L. Shirer schrieb in seiner Hitler-Biographie: »So trat Adolf Hitler als Mitglied Nr. 7 der Deutschen Arbeiterpartei bei.« Und auch in den biographischen Skizzen von Max Domarus findet sich die »Mein Kampf«-Version, daß Hitler das Partei »Mitglied Nr. 7« gewesen sei.

Exemplarisch für die Bedeutung von »Mein Kampf« als Quelle sind auch die Darstellungen der Biographen über die Entwicklung Hitlers zum Antisemiten. Er selbst berichtete, daß er nicht genau sagen könnte, wann ihn »zum ersten Male das Wort 'Jude' ... zu besonderen Gedanken« veranlaßt habe. In seinem angeblich »weltbürgerlich« (und in Hitlers Version damit nicht antisemitisch) zugeschnittenen Elternhaus seien derartige Artikulationen weder üblich noch möglich gewesen. Von seinem Vater behauptete Hitler, daß »der alte Herr ... schon in der besonderen Betonung dieser Bezeichnung eine kulturelle Rückständigkeit erblickt haben« würde.

»Auch in der Schule fand ich«, heißt es in »Mein Kampf« weiter, »keine Veranlassung, die bei mir zu einer Veränderung dieses übernommenen Bildes hätte führen können. In der Realschule lernte ich wohl einen jüdischen Knaben kennen, der von uns allen mit Vorsicht behandelt wurde, jedoch nur, weil wir ihm in bezug auf seine Schweigsamkeit ... nicht sonderlich vertrauten; irgendein Gedanke kam mir dabei so wenig wie den anderen.«

Entsprechend heißt es denn auch weiter: »Erst in meinem vierzehnten bis fünfzehnten Jahre stieß ich öfters auf das Wort Jude, zum Teil im Zusammenhange mit politischen Gesprächen. Ich empfand dagegen eine leichte Abneigung und konnte mich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren, das mich immer beschlich, wenn konfessionelle Stänkereien vor mir ausgetragen wurden.«

In Wien, so behauptet Hitler, habe er sich »die ersten antisemitischen Broschüren ... (seines) Lebens« gekauft, nachdem ihm auf der Straße »eine Erscheinung in langem Kaftan mit schwarzen Locken« begegnet sei. Nach einer »Zeit ... bitteren Ringens zwischen seelischer Erziehung und kalter Vernunft« als Folge der maßlosen Bezichtigungen der Juden in den antisemitischen Pamphleten und der Beobachtung der Prostitution (und des »Mädchenhandels") in Wien, die Hitler als jüdische Geschäftsquelle und als Mittel zur Zerstörung der arischen Rasse ansah, ist er - nach seiner eigenen Erklärung - Antisemit geworden.

»Als ich zum ersten Male den Juden in solcher Weise als den ebenso eisig kalten wie schamlos geschäftstüchtigen Dirigenten dieses empörenden Lasterbetriebes des Auswurfes der Großstadt erkannte«, heißt es in »Mein Kampf«, »lief mir ein leichtes Frösteln über den Rücken. Dann aber flammte es auf. Nun wich ich der Erörterung der Judenfrage nicht mehr aus ... nun wollte ich sie.«

Tatsache ist jedoch, daß Hitlers Vater nicht »Weltbürger« war, wie Hitler behauptet, sondern Schönerianer** und damit »sicherlich ... entschieden« Antisemit. Auch die Behauptung Hitlers, daß er während der Schulzeit mit antisemitischen Tendenzen nicht konfrontiert worden sei, deckt sich nicht mit den wirklichen Zusammenhängen. Nach den Aufzeichnungen seines Jugendfreundes Kubizek war Hitler bereits im Jahre 1904 als Schüler ein überzeugter Antisemit. Die nach Hitlers »Machtergreifung« von Mitarbeitern des Hauptarchivs der NSDAP zusammengetragenen Dokumente bezeugen ebenfalls, daß Hitler sich schon als Oberschüler in Linz durch die antisemitischen »Linzer Fliegenden Blätter« intensiv und ständig über antisemitische Argumente informierte.

Alan Bullock übernahm jedoch Hitlers Version. Der im Rahmen der Hitler-Schilderung erwähnte Jude im Kaftan und die Prostitution bildeten für ihn - wie in »Mein Kampf« vorgezeichnet - die entscheidenden Zäsuren auf Hitlers Weg zum Antisemiten. Entsprechend schildern William Shirer, Hans Bernd Gisevius und Max Domarus die Entwicklung Hitlers zum Antisemiten.

Gisevius, der einen Abschnitt seiner Hitler-Biographie sogar mit dem Titel »Der Kaftanjude« versehen hat, folgert

- in Umkehrung der Hitler-Erzählung:

»Genau umgekehrt müssen wir die Geschichte dieser schicksalhaften Begegnung lesen. Hitler ist schon längst auf der Suche nach einem Sündenbock. Jemand muß ja schließlich an seiner jetzigen Misere und dem nahenden Unheil schuld sein, wohlgemerkt keine Institution, keine ungünstige Konstellation, keine Irrlehre, keine unzureichende Sachkunde, keine falsche Idee und keinesfalls persönliches Versagen, nein, einer, ein Mensch aus Fleisch und Blut.«

Diese Deutung, die wesentlich von der Hitler-Lüge in »Mein Kampf« ausgeht, daß Hitler nach 1908 in Wien eine »Misere« durchzustehen hatte, trifft zweifellos ebensowenig die tatsächlichen Zusammenhänge wie die von Olden, Bullock und Shirer verbreitete Theorie, daß Hitler nicht zuletzt auch infolge eines (vermuteten) Sexualneids Antisemit geworden sei.

Daß sich - besonders nach 1945 auch Psychologen mit diesem Hitler -Bericht auseinandersetzen würden, war zu erwarten. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen haben infolge des Charakters der Hitler-Erzählung jedoch

nur zur Konstruktion fiktiver Bilder beigetragen, die mit dem wirklichen Hitler vor 1914 wenig gemeinsam haben. Bezeichnend ist dafür zum Beispiel das Resultat der Überlegungen von Alexander Mitscherlich, der behauptet, daß sich bei Hitler zwischen 1912 und 1914 ein »Verfolgungswahn« ("Wahnidee") herausgebildet habe, der Hitlers Entscheidungen und Verhaltensweisen bis zum Tode entscheidend bestimmte.

Mitscherlich, der seine These von Hitlers Tendenzbericht in »Mein Kampf« ableitet, ist der irrigen Auffassung, daß Hitlers »Verfolgungswahn« (der weder für die Jugendzeit noch für die frühe Zeit als Politiker nachweisbar ist) von der angeblichen Begegnung Hitlers mit einem Juden im Kaftan sichtlich ausgelöst worden sei. Die vorhandenen Dokumente lassen Hitlers Bericht als eine »literarisch« gemeinte Schilderung des Werdeganges eines ("welt«-)bürgerlich erzogenen jungen Menschen zum fanatischen Antisemiten erscheinen. Mit Hitlers Entwicklung haben sie nur wenig zu tun.

Der junge Hitler war bereits überzeugter Antisemit, als er nach Wien kam. Er war es jedoch nicht in der krankhaften Weise, wie Mitscherlich es glaubt. Viele der Kunden Hitlers, die zwischen 1909 und 1913 Bilder von ihm kauften, waren Juden, was Hitler in allen Fällen wußte. Vorübergehend verkaufte seit Sommer 1910, rund zwei Jahre nach dem angeblichen Zwischenfall mit dem »Kaftan-Juden«, ein ungarischer Jude namens Neumann sogar Hitlers Bilder und teilte den Erlös mit Hitler. Wann Hitlers Antisemitismus den krankhaft-bestialischen Charakter annahm, ist nicht exakt nachweisbar. Fest steht lediglich, daß das nicht vor 1914 der Fall gewesen ist.

IM NÄCHSTEN HEFT:

»Blut und Boden« - Die Katastrophe als Korrektur - NS -Außenpolitik - Arier und Juden

- Der nationalsozialistische Staat

Copyright by Bechtle Verlag, München und Esslingen.

* Erst 1876 wurde Alois Schicklgruber legitimiert. Der Pfarrer Zahnschirm in Döllersheim, bei dem die Legitimation stattfand, trug den Namen des Vaters (des Müllergefellen Johann Georg Hiedler) im Taufbuch falsch ein: Georg Hitler.

** Georg Ritter von Schönerer (1842 bis 1921) war als antiklerikaler und antisemitischer Politiker Führer der sogenannten Los-von-Rom -Bewegung.

NS-Umzug mit erster Hakenkreuzfahne in München 1922: »Nicht schlechter Entwurf von einem Zahnarzt«

Fahnen-Entwurf Hitlers (vor 1914)

»Bemerkenswerte Lösung«

Abt-Wappen mit Hakenkreuz in Lambach

»Erstrebenswertes Ideal«

Hitlers Elternhaus in Leonding: »Von den Strahlen ...

... deutschen Märtyrertums vergoldet": Hitlers Taufschein

Hitlers Schulzeugnis 1905: »Der alte Herr ward verbittert«

Deutscher Flottenkalender 1914*

»Auswendig gelernt«

Oberschüler Hitler*

»Nicht gerade fleißig«

Hitlers Wohnung in München: »Bündelweise Bücher gelesen«

Hitler-Zeichnung

»Die architektonischen Skizzen ...

Hitler-Entwurf

... sind mein kostbarster Besitz«

Meldegänger Hitler, 1915

»Ich springe und laufe ...

... zur Erfüllung unserer Pflicht« Frontsoldat Hitler (2.v.r), Kriegskameraden

Verhaftete Revolutionare, Münchner Bürgerwehr 1919: »Alles umsonst gewesen«

Revolutionär Eisner

»Eine Hand dem Kaiser ...

... die andere zum Dolch": Konterrevolutionär von Epp (2.v.l.), Freikorps

Parteigründer Drexler 1923: »Ärgern oder lachen«

Hitlers D.A.P.-Mitgliedskarte Nr. 555 (1920)

»Nach qualvollem Nachgrübeln ...

Hitlers NSDAP-Mitgliedsbuch Nr. 1 (1927)

... der entscheidendste Entschluß«

Neugründung der NSDAP 1925*: »Dann aber flammte es auf«

* Der Flottenkalender erscheint auch heute noch im Wilhelm Köhler Verlag, Minden (Westfalen).

* Die Zeichnung wurde von Hitlers Schulfreund Sturmlechner 1905 in Steyr angefertigt.

* V. l. am Quertisch: Philipp Bouhler, Dr. Hans Severus Ziegler, Alfred Rosenberg, Walter Buch, Franz Xaver Schwarz, Hitler, Gregor Strasser, Heinrich Himmler, Karl Fiehler.

Werner Maser
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