FUTUROLOGIE / SYSTEMS 69 Falsch programmiert
Im Kongreßsaal auf dem Münchner Messegelände versagten die Mikrophone, knatterten Krachsalven aus den Lautsprechern, streikten die Dia-Projektoren, flimmerten verblaßte Filme über die Leinwand.
Von Montag bis Samstag letzter Woche kämpften in München Vortragsredner und Tagungsteilnehmer mit den Tücken einer entfesselten Technik -- beim internationalen Symposium über Zukunftsfragen »Systems 69«.
Ein halbes Hundert prominenter Forscher, Techniker und Wissenschaftler und eine Tausendschaft ausgewählter »Führungskräfte« (so das Tagungsbüro) hatte »Systems«-Organisator Professor Karl Steinbuch, Ordinarius für Nachrichtentechnik in Karlsruhe, in die Bayern-Hauptstadt eingeladen. Es gelte, so erläuterte Steinbuch, »die deutsche Öffentlichkeit« und alle »für die Zukunftsplanung Verantwortlichen« über den Weg in die 70er Jahre zu unterrichten
Ziel des Symposiums sei »eine umfassende Systemanalyse« der »voraussehbaren Veränderungen unserer wissenschaftlich-technischen Kultur«.
Steinbuchs futurologische Schau, dargeboten als Vortragsfolge und Diskussionsreigen, ließ kaum ein Zukunftsthema aus. Doch was die Futurologen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Industrie für die nahe Zukunft vorauszusagen wußten, klang meist dunkel und vieldeutig -- es wechselte zwischen vagen Prognosen und unverbindlicher Utopie:
* Daß Großstädte als Siedlungsform und Automobile als Verkehrsmittel schon jetzt als überholt gelten müßten, erläuterte Professor Dennis Gabor aus London; es sei nun an der Zeit, daß die Menschheit neue Lebensformen finde und endlich wieder seßhaft werde -- wie solcher Wandel bewirkt werden könnte, ließ Gabor freilich offen.
* Daß im Gegenteil bis zum Jahre 2000 der Auto- und Flugverkehr rapide zunehmen werde, prophezeiten ein Sprecher der Bölkow-Werke und Professor Werner Holste vom Volkswagenwerk -- über Fluglärm, Verkehrschaos oder Abgasentgiftung sprachen die Experten nur am Rande.
* Daß der Städtebau radikal neuer Lösungen bedürfe, konstatierten die Professoren Horst Rittel und Gerd Albers -- doch eine Aussicht auf praktikable Neuerungen und auf eine Reform des fortschritthemmenden Bodenrechts vermochten die Baumeister nicht zu eröffnen.
Die indifferente Gelassenheit, mit der die Zukunftsexperten in München drohende Menschheitskatastrophen ebenso ankündigten wie Fortschritte beim Computerbau, erregte schnell den Unwillen mancher Tagungsteilnehmer. Er vermisse, ·so rügte ein ergrauter Zwischenrufer, auf dem Diskussionspodium jene Generation, von deren Zukunft hier gesprochen werde -- die Jugend: »Sie alle da oben werden, soweit ich sehe, das Jahr 2000 doch nicht mehr erleben.«
Auch Tagungsleiter Steinbuch vermochte der keimfreien Kongreß-Atmosphäre keinen Hauch von Zukunftsschwung einzublasen. Sein Vortrag -- eine Sammlung von ausgewählten Steinbuch-Zitaten aus bereits publizierten Schriften -- skizzierte immerhin den Menschentyp der Zukunft: Er müsse aggressiv und stets bereit sein, alles Bestehende in Frage zu stellen.
Als indes eine Gruppe von Berliner Studenten den Futurologen beim Wort nahm und die konventionelle Form der Tagung (Zwischenruf: »Falsch programmiert") zu kritisieren begann, retirierte Steinbuch in die Vergangenheit: Er halte die überkommenen Kongreß-Bräuche unverändert für angebracht -- die Ton-Techniker wurden veranlaßt, den Studenten die Mikrophone abzuschalten.
Fortan versammelten sich die unzufriedenen Studenten, verstärkt durch etwa 200 Tagungsteilnehmer, zu kritischer Zukunftsbetrachtung im Sitzungssaal der Kongreßhalle oder im nahen »Bavaria-Keller«. Dort berieten, bei Weißwurst und Leberkäs. sachkundige Manager aus dem Kongreßplenum die Studenten beim Formulieren von Flugblättern und von Zwischenfragen, die später in den »Systems«-Sitzungen die Zukunftsexperten aus der Fassung bringen sollten.
Freilich, auch das Bündnis zwischen Tagungs-Apo und gestandenen Führungskräften brachte die in München versammelten Zukunftsplaner nicht aus dem Gleichgewicht: Per Abstimmung beendete das Kongreß-Plenum am Donnerstag letzter Woche eine Diskussion über Verkehrsprobleme der Zukunft -- die Mehrheit der Teilnehmer wollte einen Film sehen.