Falsche Auskünfte, Blamagen, Leisetreterei
Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt. Die Arbeit der Ständigen Vertretung in der DDR werde, so dachte ich anfangs, von der Bundesregierung für so wichtig gehalten, daß sie auf die Koordinierung der Zusammenarbeit zwischen ihrer Ost-Berliner Residenz, dem innerdeutschen Ministerium und dem Bundeskanzleramt, unserer eigentlichen vorgesetzten Behörde, größte Sorgfalt verwendet. Aus zwei Jahren schmerzlicher Erfahrung kann ich sagen: Das Gegenteil ist eher richtig.
Weder wurden wir auf unsere Tätigkeit und die insgesamt äußerst heiklen Aufgaben in der DDR besonders vorbereitet, noch gab es so etwas wie eine deutschlandpolitische Einweisung. Auf einmal waren wir da.
Während wir jedoch mit unserer Arbeit vor Ort, bei Verhandlungen mit DDR-Stellen, Hunderten von Häftlingsbesuchen, bei der Lösung von kniffligen Rechtsproblemen unseren Rückstand an Erfahrungen und Wissen schnell aufholten, blieb in Bonn die Inkompetenz der Ministerialbürokratie in DDR-Fragen bis heute weitgehend erhalten.
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Ein aufschlußreiches Beispiel für Unfähigkeit und Ignoranz lieferte Bonn etwa am 1. Juli 1975, dem Tag, von dem an West-Besucher in der DDR ihre Eisenbahnkarte für die Heimfahrt nur noch mit D-Mark bezahlen konnten. Die Bonner waren von der DDR lange vor dem Stichtag auf die neue Devisenbeschaffungsaktion hingewiesen worden, und wir hatten erwartet, daß die Bundesregierung durch Rundfunk, Fernsehen oder Flugblätter für Bahnreisende auf die veränderte Regelung hinweist. Es geschah aber nichts.
Die Folge: Im Sommer 1975 standen Hunderte von ahnungslosen, verzweifelten West-Bürgern auf DDR-Bahnhöfen vergeblich nach Fahrkarten an. Sie hatten ihr West-Geld längst ausgegeben. Für ihre aus dem Zwangsumtausch aufbewahrten Ost-Mark wurden sie aber nicht mehr transportiert.
Da die Hilfsbereitschaft der DDR-Behörden gegenüber Westlern nicht sonderlich groß, meist gleich Null ist, bekamen viele Reisende erst nach langem Umherirren den Tip, sich an die »BRD-Vertretung« in Ost-Berlin zu wenden. Da reisten sie dann aus der ganzen Republik an, um sich bei uns Darlehen für die Heimfahrt zu holen. Der Zorn unserer Landsleute traf damals die DDR. Den Mut, ihnen die Wahrheit zu sagen, hatte keiner von uns.
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Mit einer anderen Unfähigkeit der Bonner haben bisher schon Hunderte von bundesdeutschen Autofahrern leidvolle Erfahrungen gemacht. Denn Westdeutsche, die bei einem DDR-Besuch eine Panne haben und auf Ersatzteile angewiesen sind, können kaum auf Hilfe hoffen: Kaum eine westliche Autofirma darf in der DDR eine Reparaturwerkstatt oder Ersatzteillager unterhalten.
Was das bedeutet, kann nur derjenige ermessen, der einmal in einer solchen Lage war. Einfach mal eben in den Westen rüberfahren und Ersatzteile besorgen, geht nur selten. Meist wird die Genehmigung verweigert, dann wäre das Visum verbraucht, die Beschaffung neuer Reisepapiere kann wochenlang dauern. Meist bleibt nichts anderes übrig, als das Auto zu horrenden Preisen von einem VEB-Schleppunternehmen in den Westen bringen zu lassen.
Für Bonn, das über breitere Grenzübergänge, über Zahlungsverkehr und Maul- und Klauenseuche mit der DDR redet, sind derlei Malaisen jedoch offensichtlich kein Verhandlungspunkt.
Manchmal, wenn eine Familie schon am ersten Reisetag und in der Nähe von Berlin vom Pech verfolgt wurde, haben wir von der Vertretung in eigener Regie geholfen -- unter Verletzung einschlägiger DDR-Vorschriften. Wir fuhren im eigenen Pkw von Ost- nach West-Berlin, kauften dort das benötigte Teil und brachten es in den Osten, wo es dann, meist gegen Devisen-Trinkgeld, in einer DDR-Werkstatt eingebaut wurde. Auf diese Weise habe ich fast alle Kfz-Werkstätten in Kreuzberg, Moabit und Wedding kennengelernt.
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Manche Weisung, die uns aus Bonn erreichte, rief ungläubiges Kopfschütteln hervor. Als im Frühjahr 1976 der frühere DDR-Häftling Michael Gartenschläger bei dem Versuch, einen Selbstschußapparat an der Grenze abzubauen, von DDR-Posten aus dem Hinterhalt erschossen wurde und dessen Angehörige auf eine Überführung der Leiche nach Westdeutschland drängten, erhielten wir sechs Wochen nach Gartenschlägers Tod den Auftrag, »gelegentlich mit leichter Hand« die DDR-Regierung auf die Überführung der Leiche anzusprechen.
»Mit leichter Hand« bedeutet im diplomatischen Jargon: ohne Einsatz, quasi eine beiläufige Bemerkung beim Hinausgehen. Damit aber ist bei der DDR überhaupt nichts zu erreichen. Bis zu meinem Ausscheiden im März vorigen Jahres lagen die Überreste des Michael Gartenschläger noch im Osten.
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Ärgerlicher aber als falsche Einschätzungen sind falsche Auskünfte. Ein junges Ehepaar etwa mußte die Schludrigkeit westdeutscher Beamter mit einjähriger DDR-Haft büßen.
Den beiden hatten deutsche Dienststellen auf Anfrage mitgeteilt, sie könnten beruhigt die Transitwege benutzen, obwohl das Paar erst 1973 aus der DDR geflüchtet war. Als es die Fahrt nach Westdeutschland antreten wollte, wurden die Eheleute schon bei der Grenzabfertigung festgenommen, inhaftiert und später wegen Republikflucht verurteilt.
Die Auskunftgeber hatten schlicht übersehen, daß nur vor dem 1. Januar 1972 begangene Republikflucht von der DDR nicht mehr bestraft wird. Wer danach die DDR verlassen hat, der kann noch heute zur Rechenschaft gezogen werden, ohne daß die Ständige Vertretung mit der Betreuung derartiger Häftlinge etwas zu tun hat. Die DDR betrachtet diese Flüchtlinge bis zum heutigen Tag als eigene Staatsbürger.
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Schlimm auch, daß wir uns nicht selten auf höheres Geheiß blamieren mußten, so etwa als im Sommer 1975 die Horror-Nachricht durch alle Zeitungen ging, zwei harmlose Bundesbürger seien in der Nähe von Coburg, nachdem sie sich auf DDR-Gebiet verirrt hätten, von Ost-Grenzern überwältigt und festgenommen worden.
Die bayrische Staatsregierung protestierte gegen den Menschenraub und Willkürakt, das Bundeskanzleramt zögerte keine Sekunde und ließ die Vertretung bei der DDR-Regierung Protest einlegen.
Als ich wenig später in einer Sprechzelle des Staatssicherheitsdienstes den beiden gegenübersaß, reichte mir ein grinsender Stasi-Mann ein Bündel Vernehmungsprotokolle zur gefälligen Verwendung. Nach den Aussagen der Festgenommenen, die sie dann noch einmal ausdrücklich bestätigten, hatten sie die Demarkationslinie überschritten und auf dem Gebiet der DDR eine Streife der Grenztruppen zur Flucht in den Westen überreden wollen.
Obwohl wir das Märchen der bayrischen Staatskanzlei in einem Fernschreiben nach Bonn sofort korrigierten, erfolgte nie eine amtliche Richtigstellung der westlichen Presseberichte.
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Während wir bei solchen Aktionen häufig das Gefühl hatten, voreilig verheizt zu werden, hätten wir uns bei anderen Fällen wesentlich härtere Reaktionen aus Bonn gewünscht. Noch heute vermag ich bei zwei von mir bearbeiteten Fällen die Leisetreterei der Bundesregierung nicht einzusehen.
Da ist einmal der Fall eines West-Berliners, dem die DDR vorwarf, er habe Grenzanlagen beschädigt, was wohl auch zutraf. Als sich der junge Mann auf einer U-Bahn-Fahrt von Wedding nach Kreuzberg befand, wurde er aus dem Zug heraus im Bahnhof Friedrichstraße verhaftet. DDR-Posten hatten ihm aufgelauert. Die West-U-Bahn muß das Ost-Berliner Gebiet bis auf den Halt in der Friedrichstraße mit hoher Geschwindigkeit durchfahren.
Die Strecke hat Ost-Berlin für harte D-Mark der West-Berliner BVG verpachtet. In den Zügen hat es jedoch keine Hoheitsrechte, die Festnahme war also illegal. Doch Bonn rührte keinen Finger.
Ohne Protest nahm die Bundesregierung auch die Verhaftung und Verurteilung des Berliner Gastwirts Lutz Blumenstein hin, der in Bautzen eine zwölfjährige Haftstrafe wegen Fluchthilfe verbüßen muß, ohne daß er selbst je die Transitwege mißbraucht hätte.
Sein Vergehen: Blumenstein unterhielt im Berliner Stadtteil Neukölln ein Lokal, das Treffpunkt von Fluchthelferbossen und angeworbenen Schleusern war. Die DDR hätte den Gastwirt selbstverständlich von der Benutzung der Transitwege nach Westdeutschland ausschließen können. Sie wies ihn jedoch nicht zurück, sondern verhaftete ihn sofort -- ein glatter Verstoß gegen das Transitabkommen.
Bei all meinen Haftbesuchen in der DDR -- im Rahmen der Betreuung westdeutscher und West-Berliner Gefängnisinsassen durch die Ständige Vertretung -- habe ich allerdings andererseits keinen einzigen West-Häftling kennengelernt, der von sich behauptet hätte, er sitze unschuldig hinter Ost-Gittern. Ob der Vorwurf auf Fluchthilfe oder Inzest lautete, von Willkürjustiz war nie die Rede.
Dafür habe ich jedoch etwas ganz anderes festgestellt: Es dürfte kaum irgendein westdeutsches Gefängnis geben, in dem die Haftbedingungen so trostlos sind wie in der DDR, die Behandlung, bei aller formalen Korrektheit, so unmenschlich wie gegenüber politischen West-Gefangenen,
80 Prozent der von mir betreuten Häftlinge waren Fluchthelfer. Und je öfter ich ihnen in den muffigen Mauern gegenübersaß, desto stärker wuchs mein Haß auf ihre Hintermänner, die sich irgendwo im Grunewald oder in einer grünen Vorstadt in ihren weißen Villen sonnen.
Ich kann schon verstehen, wenn ein Mann, der wegen des Schmuggels von vier elektronischen Taschenrechnern im Gesamtwert von knapp 120 D-Mark einsitzt, sich aus U-Haft und von der Verurteilung wegen Zollvergehens mit einer Kaution von 40000 Mark freikauft. Lieber lebenslang Schulden als auch nur zwei Jahre DDR-Gefängnis.
Wer aber zahlt solche Beträge für jene kleinen Schleuser, die den Traum vom schnellen Geld auch nur deshalb träumen können, weil sie entweder jung oder dumm oder seelisch kaputt oder finanziell ruiniert sind? Meist sind sie alles auf einmal.
Die DDR unterscheidet zwar im Strafmaß zwischen Fluchthelfern aus ideellen Gründen, wenn etwa der Verlobte seine Braut in den Westen zu holen versucht hat, und solchen, denen es lediglich ums Geld gegangen ist. Die Folgen der DDR-Haft sind für die ersteren oft schlimmer als für die im kriminellen Milieu meist nicht ganz unerfahrenen Schleuser auf Honorarbasis.
Ein solches Fluchtunternehmen ohne Entgelt und die anschließende Haft hat zum Beispiel die Existenz eines Münchner Reiseunternehmers ruiniert. Der Mann hatte sich von seiner Frau bei einer Fahrt durch die DDR überreden lassen, einen offensichtlich verzweifelten Ost-Bürger in seinem neuen Bus zu verstecken. Das Vorhaben wurde entdeckt, der Bushalter zu einer mehrjährigen Strafe verurteilt.
Die DDR beschlagnahmte den noch nicht einmal voll bezahlten Wagen im Wert von 80 000 Mark, der Betrieb des Unternehmers ging während der Abwesenheit des Chefs in Konkurs, seine Eigentumswohnung wurde auf Betreiben der Gläubiger versteigert. Selbst nach seiner Entlassung muß der Mann noch weiter an den Folgen seiner Hilfsbereitschaft tragen: Die Schulden sind noch nicht getilgt.
Ich habe aber nicht nur Haß auf die Hintermänner des Fluchthilfe-Geschäfts gespürt, wenn ich gefaßten Schleusern gegenübersaß. Auch die Informationspolitik der Bundesregierung erschien mir angesichts dieser Männer und Frauen in einem zweifelhaften Licht. Die Häftlinge wurden extra wegen unseres Besuches aus der Haftanstalt Bautzen in Sprechzellen des Ost-Berliner Stasi-Gefängnisses in der Magdalenenstraße geschafft, oder wir besuchten sie an Ort und Stelle in der Ost-Berliner Strafanstalt Rummelsburg oder in Brandenburg.
Ganz offensichtlich sind die Bedingungen in Bautzen so schlecht, daß man dort keinen West-Betreuer hineinlassen möchte.
Zumindest in einigen Fällen ist die Bundesregierung nicht ganz unbeteiligt an der schlimmen Lage dieser Häftlinge, die in der Regel die Folgen ihrer Tat völlig falsch eingeschätzt haben. Ihnen hatten die Bosse der kommerziellen Fluchthilfe gesagt: »Macht euch keine Gedanken, wenn ihr gefaßt werdet. Allzu lange müßt ihr nicht sitzen, die Bundesregierung kauft euch raus.« Ein verhängnisvoller Irrglaube: Die Entscheidung nämlich, ob West-Bürger, die wegen sogenannter politischer Delikte in der DDR einsitzen, vorzeitig freigekauft werden, treffen Beamte des innerdeutschen Ministeriums, und sie treffen sie nach einer in der Öffentlichkeit bis heute unbekannten Maxime: Es kommt im wesentlichen darauf an, ob der DDR-Häftling im Westen vorbestraft ist.
Nicht nur daß dies im Westen keiner weiß, scheint mir problematisch, schwerwiegender noch ist die offenkundige Ungerechtigkeit der doppelten Bestrafung: Wer im Westen einen Ladendiebstahl begangen hat oder zu früheren Zeiten einmal wegen Homosexualität verurteilt wurde. und seine Strafe verbüßt hat, kann nicht damit rechnen, daß ihn die Bundesregierung vorzeitig aus DDR-Haft auslöst. Wir hatten im Gegenteil die ausdrückliche Anweisung, den Häftlingen gegenüber kein Wort über Freikauf und dessen Modalitäten zu verlieren.
Wer jedoch gegen Strafbestimmungen der Bundesrepublik bisher nicht verstoßen hat oder -- was in der Praxis des Fluchthilfemilieus häufiger der Fall ist -- bei Straftaten bisher nicht erwischt wurde, der kann darauf vertrauen, daß seine Entlassung Bonn 30 000 bis 40 000 Mark wert ist.
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Wie unerträglich ein solches pauschalierendes Verhalten der Bundesbehörden ist, zeigt der Fall meines Namensvetters, des West-Berliner Fluchthelfers Peter Wilke. Ihn hatte schon die DDR mit einem mehrfach vorbestraften Mann gleichen Namens verwechselt, und auch das innerdeutsche Ministerium teilte auf meinen Haftbericht mit, Wilke könne in die »besonderen Bemühungen« (offizielle Bonner Umschreibung für Freikauf) nicht einbezogen werden.
Wilke, ein gläubiger Sieben-Tage-Adventist, der wegen ihm verbotener Schweinefleisch-Zugaben im Gemüseeintopf mit den ostdeutschen Strafvollzugsbehörden in heftiger Fehde lag, behauptete auch bei zwei weiteren Gesprächen: Nie im Leben habe er sich bis auf Fluchthilfe irgendeines Deliktes schuldig gemacht.
Auf meinen erneuten Bericht an das innerdeutsche Ministerium und an das Bundeskanzleramt, in dem ich wiederum darauf hingewiesen hatte, Wilke sei nach eigenen Angaben nicht vorbestraft, kam aus Bonn nicht einmal eine Antwort.
Die Angelegenheit ließ mir keine Ruhe. Ich glaubte dem Inhaftierten mehr als meinen vorgesetzten Behörden. Schließlich kostete der verweigerte Freikauf meinem 1973 zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilten Klienten Jahre seines Lebens.
Aus der Registratur des Bundeshauses in West-Berlin beschaffte ich mir die Akte des verurteilten Fluchthelfers. Es war alles, wie ich erwartete: In den Unterlagen entdeckte ich eine handschriftliche Notiz von der Größe einer Briefmarke ("nicht einbeziehen, da vorbestraft"), ohne jeden Hinweis auf Straf- oder Ermittlungsakten. Unverzüglich unterrichtete ich meinen Vorgesetzten von dieser unglaublichen Schludrigkeit.
Peter Wilke wurde, wie mir seine Mutter jetzt mitteilte, am 13. Oktober 1977 drei Jahre vor Ablauf seiner Strafzeit aus der DDR-Haft entlassen.