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CHEMISCHE WAFFEN Falsche Fährte

Die Amerikaner wollen nachweisen, daß die Sowjet-Union in Afghanistan und Südostasien einen Giftkrieg führt. Reichen die Beweise aus?
aus DER SPIEGEL 24/1983

Judge« Clark mußte ran. Der Richter aus dem kalifornischen San Luis Obispo, der einst unter dem Hohngelächter der Nation zum stellvertretenden Außenminister, dann zum mächtigen Sicherheitsberater des Präsidenten aufstieg, erhielt einen wichtigen Auftrag: Er sollte die These seines Chefs belegen, daß die Sowjets wirklich »Lügner und Betrüger« seien.

Auf Drängen einiger Senatoren der äußersten Rechten hatte Präsident Reagan Mitte April eine Kommission eingesetzt, die unter Clarks Leitung entscheiden soll, ob die Sowjets Rüstungskontroll- und Begrenzungsabkommen durchbrochen hätten.

Auf der langen Liste angeblicher Vertragsverletzungen, über deren Wahrheitsgehalt

die Clark-Kommission zu befinden hat, fehlen allerdings solche Anklagen, die noch im letzten Jahr den Amerikanern als ein wichtiges Zeugnis dafür galten, daß die Sowjets internationale Verträge verletzt und verbotene Waffen eingesetzt hätten: die Anschuldigung, die Sowjets und die mit ihnen verbündeten Vietnamesen führten einen Giftkrieg in Afghanistan und Südostasien.

Zwei vom State Department vergangenes Jahr herausgegebene Reports hatten die Existenz hoher, für Menschen schädlicher Dosen von Mykotoxin-Trichothezinen (hochgiftigen Stoffen, die sich in einigen Pilzkulturen bilden) anhand von Blut-, Urin-, Gewebe- und Vegetationsproben nachgewiesen. In Afghanistan hatte man sogar zwei sowjetische Gasmasken gefunden, die ebenfalls Trichothezine enthielten.

Hunderte von Zeugnissen afghanischer und südostasiatischer Flüchtlinge hatte die Administration gesammelt: von vielfarbigen giftigen Wolken, die auf ihre Dörfer niedergegangen seien, Menschen und Vieh getötet hätten. »Yellow rain«, gelber Regen, wurde zur Kurzformel für den Verdacht auf einen sowjetischen Gifteinsatz.

Für Außenminister Shultz ist deshalb erwiesen, daß »die Sowjet-Union und ihre Verbündeten chemische und andere Giftkampfstoffe einsetzen«. Zuerst thailändische, dann auch kanadische Wissenschaftler bestätigten Teile der amerikanischen Ergebnisse und fanden Beweise für den Einsatz von Giften.

Sogar ein Forschungsteam der Uno, das freilich weder in Laos noch in Kambodscha war, kam zu dem Schluß, es gebe Indizien für Giftkampfstoffe - ohne Angabe der Herkunft - in den umkämpften Gebieten.

Doch seltsam: Clark verzichtete darauf, die Russen weiterhin des Bruchs des Genfer Protokolls von 1925 und der Uno-Konvention von 1972 anzuklagen, welche die chemische und biologische Kriegführung verbieten. Grund: Das amerikanische Bemühen, andere Alliierte von der Richtigkeit ihrer Beschuldigungen zu überzeugen, erlitt spektakuläre Rückschläge.

Zunächst in Australien. Dort fand im März der neue Außenminister Bill Hayden einen Untersuchungsbericht vor, den sein Vorgänger unter Verschluß gehalten hatte. Der Chemiker Hugh Crone urteilte darin über Vegetations- und Kieselsteinproben aus dem Norden Thailands mit verdächtigen gelben Punkten:

»Nicht toxisch, aus gelben Blütenstaubteilchen ... Die wahrscheinlichste Erklärung geht dahin, daß Blütenstaub von Regenwaldbäumen gesammelt wurde. Entweder bereits dort oder später wurde das Material mit Blütenstaub aus Waldlichtungen vermengt.«

Militärische Bedeutung: »Eindeutig nein. Es handelt sich um Fälschungen. Die Anwesenheit von Mykotoxinen in Größenordnungen von einigen Teilen per Million ist irrelevant.«

»Mit Sicherheit« konnte Crone ausschließen, daß die Proben nach dem Angriff eines Sprühflugzeuges gesammelt wurden, die Blütenstaubflecken waren vielmehr auf das Material appliziert worden. Über die Motive der Fälscher konnte Crone nur spekulieren: »Finanzieller Gewinn, der Wunsch, sich bei den Autoritäten beliebt zu machen, eine Desinformationskampagne.«

Washington bestätigte nur das Vorhandensein dieses Gutachtens, das Hayden bald nach Amtsantritt veröffentlichte, ohne Kommentar. Denn auch die Amerikaner hatten inzwischen Proben untersucht, die statt des erwarteten hohen toxischen Gehalts vornehmlich Blütenstaubpollen aufwiesen.

Einige dieser Proben stammten von einem Vorfall, der sich am 19. Februar 1982 im Grenzgebiet von Thailand und Kambodscha ereignet hatte. Damals besprühte ein Flugzeug (ein vietnamesisches Flugzeug, so die Amerikaner) sechs thailändische Dörfer mit einer gelben Substanz.

Vegetationsproben davon erhielten außer den Amerikanern auch Briten, Franzosen und Kanadier. Abschlußberichte _(Oben: sowjetische Gasmaske, die ) _(angeblich Giftstoffe enthält, im ) _(Washingtoner Außenministerium; unten: ) _(US-Photos von Giftopfern in Laos. )

über die Untersuchung dieses Vorfalls wurden bisher nicht veröffentlicht. Man wolle, so heißt es aus London, den Amerikanern eine Blamage ersparen.

Doch weder die in Australien untersuchten Fälschungen noch die anderen rätselhaften Blütenstaubproben beweisen, daß die amerikanischen Anschuldigungen ganz grundlos sind. Sie werfen vielmehr zwei ungeklärte Fragen auf: Könnte Yellow rain ein natürliches Phänomen sein, und eignet sich Blütenstaub als Transportmittel für Giftstoffe?

Die inneren Blutungen, Erbrechen, Hautausschläge und Krämpfe, die vor allem von den südostasiatischen Flüchtlingen als Folge der Giftangriffe beschrieben wurden, ähneln den Symptomen, an denen in den 40er Jahren Tausende von Sowjetbürgern litten und starben, nachdem sie von unsachgemäß gelagertem Getreide gegessen hatten: Als das Korn schimmelte, bildeten sich hochgiftige Pilzkulturen.

Daß die Sowjet-Union seit der Zeit intensiv die Wirkungsweise dieser Mykotoxine erforscht, werteten die Amerikaner als Hinweis, es könnte gelungen sein, die Gifte industriell zu produzieren und als Kampfstoff einzusetzen.

Doch die Trichothezine in Südostasien kommen auch in der Natur vor, wie schon Ende der 30er Jahre ein französischer Wissenschaftler nachgewiesen hat. Und 1973 berichtete ein japanisches Wissenschaftlerteam über den in Südostasien heimischen Pilz Fusarium roseum, der Trichothezine produziert. Ungeklärt bleibt die hohe Konzentration der Gifte, in einigen Proben bis zu 20fach mehr, als bisher bei natürlichen Pilzvergiftungen beobachtet werden konnte.

Der bei Yellow-rain-Proben nachgewiesene Blütenstaub kann nach Ansicht amerikanischer Regierungsexperten als Träger des Pilzgiftes dienen: Die nur ein bis zwei hundertstel Millimeter großen Partikel dringen, durch Nase und Mund eingeatmet, tief in die Lunge ein.

Dagegen sprechen Erfahrungen beim Versprühen von Herbiziden und Pestiziden aus der Luft: Die Staubkörnchen sinken nicht mehr zielgenau, wenn sie kleiner als zwei zehntel Millimeter sind. Nur zwischen ein und zwei hundertstel Millimeter groß, wie im Yellow rain, »hätten sie die gleiche Chance, in Australien zu landen wie in Laos«, urteilt Dr. Alastair Hays, Pathologe der Universität von Leeds. »Sie würden dorthin fallen, wo sie der Wind hinträgt.«

Washington hält solche Gutachten für Desinformation. Doch vorletzte Woche schienen die rätselhaften Blütenstaubpollen eine natürliche Erklärung zu finden, die möglicherweise einen Teil der amerikanischen Anschuldigungen lächerlich macht.

Zusammen mit vier weiteren Wissenschaftlern legte der Harvard-Biochemiker Matthew Meselson Untersuchungsergebnisse vor, die darauf hindeuten, daß es sich bei den meisten Yellow-rain-Proben

um Bienenexkremente handelt. Unter dem Elektronenmikroskop hatte er Proben aus Thailand und Laos mit Bienenexkrementen verglichen, die aus dem heimatlichen Cambridge stammten. Die Ergebnisse, so Meselson, »eröffnen eine zuvor noch nicht untersuchte Möglichkeit einer natürlichen Erklärung für Yellow rain«.

Unverdauliche Reste von Blütenstaub werden von den Bienen im Umkreis von knapp 50 Metern um das Nest ausgeschieden. Viele Bäume in den tropischen Regenwäldern, so Thomas Seeley, Biologe an der Yale-Universität und Spezialist für südostasiatische Bienen, beherbergen gewöhnlich 100 000 Bienen - mehr als genug, die Vegetation mit den typisch gelben Flecken zu versehen, die bislang das Kennzeichen der meisten Yellow-rain-Proben waren.

Meselson, der dem Weißen Haus, dem Pentagon und dem Außenministerium als Experte für Fragen der biochemischen Kriegführung diente, forderte die Regierung auf, Yellow-rain-Proben erneut zu untersuchen. Dabei müßte vor allem die Frage geklärt werden, wie die nachgewiesenen Mykotoxin-Trichothezine in die Proben kommen.

Der Wissenschaftler hält es für möglich, daß in der Luft schwebende Pilzsporen auf den Bienen-Exkrementen landen, dort wachsen und die Giftstoffe bilden. Diesen Prozeß hat er bereits in Cambridge nachweisen können.

Obwohl die Ergebnisse, die Meselson und seine Kollegen jetzt veröffentlichten, dem US-Außenministerum seit Wochen bekannt waren, konnte die Administration nur schwachen Widerspruch einlegen. Als »großen Bienen-Witz« verhöhnte Außenamtssprecher Alan Romberg die Ergebnisse des einst geachteten Experten. Man müsse nur die Gesamtheit der amerikanischen Beweise beachten, dann dränge sich nach wie vor auf, daß die Sowjet-Union zu Recht angeschuldigt wurde.

Diese Argument hätte Romberg lieber nicht anführen sollen. Denn läßt man solche Yellow-rain-Proben außer Betracht, die Blütenstaubpollen als Bestandteil aufweisen, dann reduzieren sich die »erdrückenden Beweise« auf ganze drei: eine Probe verseuchten Wassers und die beiden afghanischen Gasmasken. Deren Beweiskraft ist auch nicht unumstritten, da das Gift nicht, wie man eigentlich erwarten sollte, im Filter gefunden wurde.

Schon auf ihrer Pressekonferenz hatten sich die Wissenschaftler im voraus gegen den Verdacht gewehrt, ihnen gehe es um eine Reinwaschung der UdSSR. »Wir sagen ja gar nicht«, erklärte Bienenexperte Seeley, »daß es keine chemische Kriegführung gäbe. Wir sagen lediglich, daß wir uns auf der falschen Fährte befinden, wenn wir uns weiterhin auf die gelben Punkte konzentrieren.«

Genau das aber haben die Spurensammler des State Department bisher getan.

Oben: sowjetische Gasmaske, die angeblich Giftstoffe enthält, imWashingtoner Außenministerium; unten: US-Photos von Giftopfern inLaos.

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