KREML Falsche Schwiegertochter
An jenem Tag, da in allen anderen Ländern Europas die Weihnachtsgeschenke fällig wurden, wünschten sich in Moskau die Genossen nur zu behalten, was sie hatten: den Status quo und ihren örtlichen Chef Wiktor Grischin.
Jeder neunte Einwohner der Neun-Millionen-Stadt ist Mitglied der Staatspartei KPdSU. Die Prominenten unter dieser Million Kommunisten verwalten von den Büros der Hauptstadt aus das Sowjetreich. Ihr Parteisekretär ist in der UdSSR ein einflußreicher Mann.
18 Jahre lang war das Grischin, ein gebürtiger Moskowiter und gelernter Lokomotivführer. Chruschtschow machte ihn im Hoffnungsjahr 1956 zum Gewerkschaftsvorsitzenden. Diesen Posten gab er 1967 an den vormaligen KGB-Chef Schelepin ab und übernahm die wichtige Parteiorganisation in Moskau.
Diese Hausmacht ist so stark, daß mit ihr der Bolschewik Kamenjew einst jahrelang Stalin hatte die Stirn bieten können und Chruschtschow nach Stalins Tod zum Gesamtparteichef aufstieg.
Grischin hatte die hauptstädtischen Genossen in den Partei-Dienststellen und Ministerien, den Planzentralen und Instituten hinter sich. Am Ende der Tschernenko-Ära 1984 wurde er in den Medien groß herausgestellt und mit Orden überhäuft. Er vertrat den kranken
Parteichef Tschernenko bei Festveranstaltungen im Lande, in Belgrad und in der Mongolei.
Wenige Tage vor Tschernenkos Ableben im vorigen März führte Grischin den Sterbenskranken im Fernsehen an einer Wahlurne vor. Danach galt er selbst als ein Kandidat für die Tschernenko-Nachfolge - gegen Gorbatschow aus Stawropol im Kaukasus.
Grischin, der sich auch auf eine testamentarische Empfehlung Tschernenkos berufen haben soll, genoß zwar das Vertrauen des ruhebedürftigen Parteiapparats, aber er war den Genossen wohl doch zu alt, zudem von zwei Herzinfarkten gezeichnet.
Außerdem haftete an ihm ein Makel, der in der Sowjet-Gesellschaft der Gegenwart schon als Ruch empfunden wird: Grischins Sohn Alexander ist mit Marta Berija verheiratet, der Tochter des grausamen Geheimpolizeichefs von Stalin.
Grischin stellte sich gut mit dem neuen Parteichef Gorbatschow, den er bei werbewirksamen Besuchen in Fabriken und Krankenhäusern Moskaus begleitete; gemeinsam tranken sie Tee in der Wohnung der Arbeiterfamilie Nikischin.
Doch am 24. Dezember wurden die Delegierten der Moskauer Partei plötzlich zu einer Sondersitzung gerufen. Sie erfuhren die Entlassung Grischins, 71, und äußerten Unmut, wie Teilnehmer berichteten. Generalsekretär Gorbatschow erschien, wurde heftig und empfahl als Nachfolger den Ingenieur und ZK-Sekretär Dolgich.
Obwohl die Mehrheit der Moskowiter sich überhaupt keinen Nachfolger wünschte, mußte Grischin gehen und bekam nicht einmal ein Dankeswort in der »Prawda«. Er verliert auch seinen Sitz im Politbüro - das oberste Machtgremium der KPdSU hat damit eine völlig andere Zusammensetzung als zu der Zeit, da Gorbatschow unter Breschnew 1980 in diesen Bojaren-Rat eintrat.
1980 saßen im Politbüro 14 Spitzengenossen. Zwei von ihnen, die Parteichefs der Ukraine und Kasachstans, Schtscherbizki und Kunajew, nehmen an den wöchentlichen Sitzungen im Kreml nicht regelmäßig teil, weil sie nicht in Moskau wohnen.
Von dem übrigen, entscheidenden Dutzend sind binnen fünf Jahren zehn ausgeschieden - sechs durch Tod und vier auf Beschluß ihrer Kollegen, die über die Zusammensetzung des Politbüros selbst befinden.
Es starben in rascher Folge die Politbürokraten Suslow, Breschnew, Pelsche, Andropow, Ustinow und Tschernenko. Wegen Krankheit mußte 1982 das Haupt des militärindustriellen Komplexes, der ZK-Sekretär Kirilenko, zurücktreten.
Ausgeschlossen wurden der Kirilenko-Nachfolger Romanow, der Premier Tichonow und nun der Moskau-Sekretär Grischin - alle drei innerhalb eines halben Jahres, in der Ära Gorbatschow.
Grischins Sturz ist ein Paradebeispiel für die derzeit geübte Methode der Entmachtung. Im Mai hatte sich Grischin noch über modernen Wohnungsbau informiert, in der Hauptstadt der DDR ließ er sich von einer Maurerkolonne als Ehrenmitglied mit einem gelben Schutzhelm beschenken.
Wieder in Moskau, geriet er unter Beschuß. Unter der Überschrift »Kehricht in der Hütte« enthüllt die Zeitung »Sowjetskaja Rossija«, in der Hauptstadt sei es gängige Praxis, Neubauten für bezugsfertig zu erklären, obwohl es noch bis zu einem Jahr dauere, bis alles installiert und bewohnbar sei. So kämen die Verantwortlichen vorzeitig zu ihren Erfolgsprämien.
Die Staatsanwaltschaft belangte 300 von ihnen, zog 120000 Rubel Strafe ein und klagte 52 Beamte der Falschbeurkundung an. Die Kampagne richtete sich äußerlich gegen den Hausherrn, den Bürgermeister Promyslow, 77, der denn auch nach 22 Amtsjahren vorige Woche durch den Direktor einer Autofabrik ersetzt wurde. Doch zu den Vorwürfen wegen Pfuschs am Bau gesellten sich auch Beschwerden über die schlechte Versorgung der sowjetischen Hauptstadt mit Lebensmitteln, über Mängel beim Busverkehr und im Telephonnetz, Versagen beim Räumen von Schnee und Eis.
Geschäftsführer von Fleischverteilungsstellen und Obst- und Gemüse-Basen kamen in Haft - eine ernste Sache seit vor 18 Monaten der Direktor eines Moskauer Delikatessengeschäfts wegen Korruption hingerichtet wurde.
Einer der Festgenommenen nannte vor Gericht den Namen, um den es wirklich ging: »Ich sage nicht mehr aus, solange neben mir auf der Anklagebank nicht der Genosse Grischin sitzt.«
Im Oktober übte Grischin - einzigartig für ein Politbüro-Mitglied - in »Sowjetskaja Rossija« öffentliche Selbstkritik, wegen nachlässiger Aufsicht über die Stadtbehörden. Das genügte offenbar nicht.
Nach Grischins Sturz sind aus Breschnews Politbüro von 1980 nur zwei Genossen übrig: Gromyko und der damalige Benjamin Gorbatschow.
Doch das Politbüro, dem Gorbatschow heute vorsteht, hat nicht nur neue Mitglieder, sondern auch eine neue Struktur. Früher war die führende Rolle bewährter Parteifunktionäre im Politbüro selbstverständlich und - für eine Parteidiktatur - auch logisch: die Macht gehörte einer Mehrheit von Mändie
in langen Partei-Dienstjahren ihren Weg gemacht haben.
Heute gibt es unter den in Moskau ansässigen neun Politbürokraten nur noch einen, der die Partei-Karriere von ganz unten auf durchlaufen hat: Generalsekretär Gorbatschow.
Politbüro-Genosse Worotnikow war immerhin je vier Jahre Gebietssekretär in Kuibyschew und Woronesch, dann Vize-Ministerpräsident der Russischen Föderation (RSFSR), bis Breschnew ihn als Botschafter nach Kuba abschob; danach setzte er als Parteichef von Krasnodar die dort im Sommer angesiedelten Spitzenfunktionäre unter Druck: Er wies ihnen Korruption nach. Ein anderes Politbüro-Mitglied war 20 Jahre Gebietssekretär in Sibirien: Gorbatschows Vize, inoffiziell der »Zweite Sekretär« genannt, Jegor Ligatschow, 65.
Im übrigen aber steht an der Spitze der Partei nun an Stelle eines Kollegiums erfahrener Partei-Apparatschiks ein Politbüro aus Mitgliedern zweier verschiedener Nicht-Partei-Gruppen: zu einem Teil Repräsentanten des KGB, zum anderen Exponenten der Rüstungswirtschaft.
Zu den Geheimdienstlern gehören: *___KGB-Chef Tschebrikow, 62, Polizei general; *___Außenminister Schewardnadse, 58, Polizeigeneral, früher ____Sicherheitschef von Georgien; *___Vizepremier Alijew, 62, Polizeigene ral, früher ____Sicherheitschef von Aser baidschan.
Parteichef Gorbatschow, 54, dürfte dieser Gruppe nahestehen, da er vom seinerzeitigen KGB-Chef Andropow nach oben gehievt wurde.
Die Vertreter des militärindustriellen Komplexes der UdSSR sind: *___"Zweiter Sekretär« und ZK-Perso nalchef Ligatschow, 65, ____studierter Flugzeugingenieur aus Moskau; *___Sowjetpremier Ryschkow, 56, ein Metallurgie-Ingenieur, ____der es bis zum Generaldirektor des Rüstungskon zerns ____"Uralmasch« brachte; *___Partei-Revisor Solomenzew, 72, Rü stungsingenieur aus ____Leningrad, dann Fabrikdirektor im Ural; und *___Ministerpräsident der RSFSR Wo rotnikow, 59, ____Flugzeugingenieur aus Kuibyschew.
Die Rüstungsingenieure erobern vor allem den Staatsapparat. Drei Stellvertreter des neuen Premiers Ryschkow haben wie ihr Chef das Polytechnische Institut in Swerdlowsk am Ural absolviert, ebenso ein Bauminister (vorher auch »Uralmasch«-Generaldirektor).
Grischins Nachfolger an der Spitze der Moskauer Parteiorganisation ist gleichfalls ein Rüstungsmann: der Swerdlowsker Ingenieur Boris Jelzin, 54, war zehn Jahre lang Parteisekretär in der Waffenschmiede, zuständig für all die Ingenieure, die jetzt am Drücker sind.
Bevor Jelzin die Grischin-Nachfolge antrat, wurde er 1985 aus dem Ural für acht Monate ins Moskauer ZK geholt, wo er sich als Saubermann hervortat. Noch im Dezember rügte er in Taschkent angeblich lokale - in Wahrheit unionsweite - Usancen der »Bestechung, Täuschung und Prinzipienlosigkeit«. Nur zehn Prozent der Landesprodukte erreichten die vorgeschriebenen Qualitätsnormen, klagte Jelzin; der Mangel an Strom und Wasser sei »alarmierend«.
Die beiden Gruppen im Politbüro verbindet die Entschlossenheit, Rußlands technologischen Rückstand aufzuholen, die Wirtschaftsproduktivität zu heben und die von Reagan angefochtene Weltmachtrolle der UdSSR zu restaurieren.
Für mehr Disziplin sorgt das KGB; ein Polizeigeneral leitet jetzt das Fernsehen. Die Rüstungsingenieure, die Rußlands einzige Erfolge verkörpern, sollen die Wirtschaft modernisieren - mit ihren eigenen Mitteln. Ihr Anführer Ligatschow: »Bedingungslose Erfüllung der Staatspläne«; Grischins Parteiorganisation warf er »Arroganz« vor.
In der Weltpolitik brauchen beide Fraktionen eine Atempause, wobei die gut informierten KGB-Leute wohl eher der Entspannung den Vorzug geben als die gelernten Waffenproduzenten. Dabei wollten sie sich von keinem Querkopf der alten Garde stören lassen.
Ein Störenfried ist Grischin schon 1968 gewesen: Auf der Politbüro-Sitzung am 18. August 1968 sprach er sich gegen den Einmarsch in die CSSR aus. Er soll danach aus Furcht vor Verhaftung wochenlang nicht in seine Moskauer Stadtwohnung gekommen sein.