ATOMENERGIE Falsches Spiel
Immer häufiger befallen den schleswig-holsteinischen SPD-Bundestagsabgeordneten Reinhard Ueberhorst heftige Selbstzweifel: »Kann ich das noch leisten?«
Der Dreißigjährige ist sich nicht mehr sicher, ob er noch guten Gewissens die politische Rolle spielen kann, für die er sich bei seinen Wählern bislang immer stark gemacht hat: Ueberhorst kümmert sich in Bonn um die Sicherheit der Kernenergie; er gehört zu jener parlamentarischen Minderheit, die zum Verdruß des Bundeskanzlers dem weiteren Ausbau der Atomwirtschaft skeptisch gegenübersteht.
Für diese Gruppe sind in Bonn schlechte Zeiten angebrochen. Der Ausfall der persischen Ollieferungen hat wie ein Schock gewirkt. SPD-Forschungsminister Volker Hauff rief dazu auf, ja keine Chance zur Energiegewinnung auszulassen, »denn keiner von uns weiß, wie hoch das Preisniveau für Erdöl« Ende der achtziger Jahre sein wird. Für CDU-Chef Helmut Kohl ist wegen des stagnierenden Ausbaus der Kernenergie bereits »eine lebensbedrohende Situation« entstanden.
Im Karlsruher Kernforschungszentrum disqualifizierte vergangenen Montag August Wilhelm Eitz, Brüterexperte des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks, alle Bedenken gegen den Bau des Schnellen Brüters als »vordergründige Zweifel« in »Verkennung der Fakten«, vorgetragen von Leuten, die den Brüter »als politisches Vehikel mißbrauchen«.
Und wer wie Ueberhorst immer neue Einwände gegen die gigantische, über zehn Milliarden Mark teure Atomfabrik im niedersächsischen Gorleben erhebt, der stellt sich gar gegen seinen Kanzler. Helmut Schmidt hat nämlich mehrfach den zügigen Bau jener niedersächsischen Entsorgungs- und Wiederaufarbeitungsfabrik verlangt, ohne die ein weiterer Betrieb und Ausbau von Reaktoren kaum möglich sei.
»Mit so einem Pflock in der Regierungserklärung«, mäkelt Ueberhorst, »müssen wir Abgeordneten nun ständig die faktische Sicherheit der Entsorgung hinterfragen.« Doch der Abweichler will hart bleiben, auch wenn nun eine neue Energiekrise das Argument liefert, hastig den Ausbau der Kernenergie voranzutreiben: »Hier muß ein Riegel vorgeschoben werden, wenn Sicherheitsüberprüfungen mit Chomeini und so einem Kram aufgeweicht werden sollen.«
Doch die kleine Minderheit der Bonner Atomskeptiker steht ziemlich hilflos den Argumenten aus Administration, staatlicher Forschung und Industrie gegenüber, wie erst kürzlich wieder der Technologie-Ausschuß des Bundestages in einer Veranstaltung zum Entsorgungsproblem zeigte.
In dieser internen Sitzung polemisierte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Wiederaufarbeitung (DWK), Günther Scheuten, gegen die Sicherheitsbedenken eines Sozialdemokraten, indem er dem Gorleben-Kritiker kurzerhand abstritt, die Ängste der Bevölkerung zu kennen: »Ich glaube nicht, daß die sicherheitstechnische Frage beim großen Teil der Bevölkerung im Vordergrund steht. Ich glaube, daß hier ein großes Vertrauen in die Staatsverwaltung besteht, daß das Notwendige zum Schutz der Bürger getan wird.«
Der Atommanager wußte auch gleich, wie man kritische Jugendliche ruhigstellt: mit der Aussicht auf Arbeitsplätze in Gorleben. Scheuten: »Dann wächst die Jugend praktisch mit der Anlage und mit der Chance und der Hoffnung auf, in dieser Anlage selbst die berufliche Heimat zu finden. Das sind nach unserer Kenntnis die Dinge, die Sorgen, die die Bevölkerung bewegen.«
Eine solche Stimmungslage verträgt keine Kritik, zumal der Bonner Technologie-Ausschuß sonst nur Experten geladen hatte, die für die Kernenergie argumentierten. Als Ueberhorst auf ein Gutachten verwies, in dem der Hamburger Geomorphologe Professor Eckhard Grimmel den Salzstock von Gorleben für die Einlagerung radioaktiver Abfälle als ungeeignet eingestuft hatte, wurde es heftig.
Professor Helmut Venzlaff von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover warf dem Hamburger Kollegen Demagogie vor: »Dort sind in bewußter Art aus den verschiedenen Sphären Sachen zusammengezogen worden, um ein Spektakulum zu malen, was mit den wahren Verhältnissen überhaupt keinen Zusammenhang bat.«
Die Parlamentarier tun sich schwer, wenn sie sich über Probleme der Kernenergie halbwegs objektiv informieren und nicht immer die Meinungen jener Wissenschaftler aus Regierung oder Industrie hören wollen, deren atomfreundliche Position bekannt ist.
Bundesforschungsminister Hauff verweist die Abgeordneten auf die Wissenschaftler in den bundeseigenen, öffentlich finanzierten Großforschungszentren. Doch Zweifel an deren Unabhängigkeit sind aufgetaucht, seit Verbindungen mit der Atomindustrie bekanntwurden.
So will beispielsweise das Kernforschungszentrum Karlsruhe mit der privatwirtschaftlichen DWK einen »Kooperationsvertrag« über »Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Entsorgung von Kernkraftwerken« schließen, der Entwurf liegt bereits vor.
Und der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht hat einer Reihe von skeptischen Wissenschaftlern gekündigt, die -- unter dem Management der Hamburger Firma Ökosystem GmbH -- ein Gutachten über die möglichen Auswirkungen der Gorlebener Atomfabrik auf die Umwelt dieser Region ausarbeiten sollten.
Von dieser jetzt nur von Atombefürwortern erstellten Untersuchung hängt, nach Absicht der Landesregierung in Hannover, die Erteilung der ersten Baugenehmigung ab.
Weitgehend zum Zuschauen verurteilt sind die Abgeordneten auch bei einem anderen bürokratischen Verwirrspiel zwischen Hannover und Bonn: Seit Monaten streiten sich der Bund und das Land Niedersachsen um die sogenannte Asse, einen Salzstock bei Wolfenbüttel, der von Bonn seit 1967 unter dem Etikett eines Forschungs- und Entwicklungsprojekts für die Einlagerung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen betrieben wurde -- angeblich, um Lagertests für Gorleben anzustellen.
Ende vergangenen Jahres machte der niedersächsische Ministerpräsident dem falschen Spiel ein Ende, die Asse wurde geschlossen: Die bis dahin »versuchsweise« eingelagerten 100 000 Fässer mit schwachem und die rund 1500 Fässer mit mittelaktivem Abfall entsprachen ziemlich genau der Menge, die von 1967 bis 1978 in Kernkraftwerken, Krankenhäusern und Fabriken angefallen war. Von »Versuchen« konnte da wohl kaum die Rede sein. In einem Gespräch mit Helmut Schmidt verlangte Albrecht, nunmehr müsse, wie das Kanzleramts-Protokoll vom 21. 2. 78 vermerkt, »mit offenen Karten gespielt werden«.
Auch im Nuklearrat -- einem Gremium aus Vertretern von Bund und Ländern, Gewerkschaften, Wissenschaft und Industrie -- fehlen die kritischen Volksvertreter. Kein Wunder, daß vorletzte Woche im Nuklearrat Bonns Forschungsminister sich widerwillig bereit erklärte, künftig auf »Endlagerung zu Forschungszwecken« zu verzichten und sein »Versuchsendlager« in eine ordentliche Endstation umzuwandeln.
Dafür ist ein Planfeststellungsverfahren nötig, das -- wegen der zu erwartenden Bürgerproteste -- bis zu fünf Jahren dauern kann. Schwierigkeiten der Bundesländer, deren regionale Sammelstellen dann nicht ausreichen, sind unvermeidlich.
Vergeblich protestierten am vorigen Donnerstag auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Bonn mehrere Landeschefs. Albrecht blieb hart: »Ich mache das nicht mehr mit.«
Er ist lediglich bereit, die Asse demnächst wieder zur sogenannten Zwischenlagerung zu öffnen. Dann müsse aber garantiert werden, daß die Fässer wieder »rückholbar« im Salz gelagert werden. Das zeigt die Vordergründigkeit des komplizierten Manövers: Fässer, die so gelagert werden, daß sie jederzeit wieder aus den Salzkavernen herausgeholt werden können, bergen für die unter Tage arbeitenden Menschen größere Risiken als nicht rückholbare, amtlich bisher zu »Versuchszwecken« gelagerte Behälter.
Doch auch diese Entscheidung wird den Trend zur Ausweitung der Kernenergie nicht brechen können. Um Auswege ist die Industrie nicht verlegen.
So berichtete DWK-Scheuten dem Forschungsausschuß von einem neuentwickelten Behälter aus Gußeisen und Kugelgraphit, der, angeblich sicher bei Erdbeben und Flugzeugabstürzen, sowohl für den Transport als auch für die Lagerung von strahlendem Abfall geeignet ist und den man, wie Scheuten schwärmt, »irgendwo -- sogar noch bewacht oder geschützt -- hinlegt und einfach dort liegenläßt«.
Voll Verwunderung, daß alles so simpel sein soll, fragte Kritiker Ueberhorst nach, ob denn der alte Lehrsatz seines Kanzlers noch Gültigkeit habe, ohne Gorleben gebe es keine neuen Kernkraftwerke. Der Abgeordnete bekam eine verblüffende Antwort.
Auch ohne die Gorlebener Atomfabrik, so Scheuten, stehe die Industrie »nicht vor einer ausweglosen Situation, die Unheil zur Folge hätte. Wir wissen, daß wir mit den Brennelementen dann irgend etwas anderes, sicherheitstechnisch Verantwortbares tun können, ohne irgend jemand zu gefährden -- und wenn wir die Behälter ständig einhüllen müßten, um sie für weitere zehn Jahre standfest zu machen«. Schöne Aussichten.