WAHLEN / RHEINLAND-PFALZ Fast ohnmächtig
Wie groß ist der denn jetzt?« höhnte Freidemokrat Hans Friderichs, als er Christdemokrat Helmut Kohl (1,93 Meter) auf dem Bildschirm sah. Erste Friderichs-Hochrechnung: »Zwei Meter und fünf.«
Doch als Landeswahlleiter Walter Nellessen vorletzten Sonntag um 20.41 Uhr das »vorläufige amtliche Endergebnis« der rheinland-pfälzischen Landtagswahl verkündete, sahen sich Zweifler und Skeptiker bestätigt: Der Mainzer Kohl schießt nicht ins Kraut.
Helmut Kohl, seit 1969 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und selbsternannter Anwärter für das Amt des CDU-Bundesvorsitzenden, erreichte zwar die absolute Mehrheit und kann sein Land fortan allein regieren. Doch der Zugewinn seiner Partei am Frühlingsanfang hält den Sieg in Grenzen: Während die Christenunion ihre Position 1970 bei allen Landtagswahlen im Schnitt um 6,2 Prozent-Punkte verbesserte, ist der Wähleranteil der Kohlisten nur um 3,3 Prozent gewachsen.
Rainer Barzels Anhänger stufen den Wahlsieg der CDU an Rhein und Mosel denn auch deutlich herab. Sie gerieten weder in Glückwunsch-Stimmung, noch sahen sie einen plausiblen Grund, »nach Mainz die Königsmacher-Frage aufzuwerfen« und eine neue Personaldiskussion um die Kiesinger-Nachfolge zu beginnen. Denn Kohls unsichere Haltung in der Mitbestimmungsfrage, die ihn auf dem Düsseldorfer Parteitag zu einer falschen Handbewegung verführte, ist nicht vergessen: Im Wettrennen mit Barzel hat der Mainzer Politiker auch am 21. März nicht aufgeholt.
Wie immer man sie wendet, die Zahlen sind gegen den Landesherrn: > Während die SPD bei den Landtagswahlen 1970 im Schnitt 2,5 Punkte verloren hat, gelang den Sozialdemokraten zum erstenmal seit dem Bonner Machtwechsel wieder ein deutlicher Aufschwung: Auch Helmut Kohl blieb es versagt, die Position der sozialliberalen Koalition zu erschüttern.
* Während die FDP seit der Bundestagswahl 1969 auf Kosten der Sozialdemokraten sich halten oder zunehmen konnte, wenn sie sich bei einer Landtagswahl für eine Koalition nach Bonner Muster entschieden hatte (Ausnahme: Nordrhein-Westfalen), erlebten die Liberalen in Rheinland-Pfalz als CDU-Koalitionspartner eine eindeutige Niederlage: minus 2,4 Punkte.
* Während Helmut Kohl seine Position »links von der Mitte« sieht (so Regierungssprecher Hanns Schreiner), kann er offenbar nur rechts von der Mitte neue Wählerschichten gewinnen: Unzufriedene in Hochburgen (wo die Thadden-Partei diesmal sieben Punkte einbüßte, die Union indessen um 7,6 Punkte zunahm) und konservative Liberale -- die weitgehend freilich schon 1969 bei der Bundestagswahl nach rechts gedriftet waren. Kohls CDU erreichte laut Rechnung des Landeswahlleiters 50 Prozent der gültigen Stimmen (1967: 46,7 Prozent) und 53 (1967: 49) von 100 Mandaten. Die SPD -- in Mainz von jeher in der Opposition -- verbesserte den Besitzstand unter Führung ihres neuen, betont linken Landesvorsitzenden Wilhelm Dröscher von 36,8 auf 40,5 Prozent und von 39 auf 44 Mandate. Die FDP, seit 24 Jahren CDU-Koalitionspartner im Mainzer »Deutsch-Herren-Haus«, treibt unter der Führung ihres Vorsitzenden Hermann Eicher der politischen Paralyse zu: Mit 5,9 Prozent der Wählerstimmen (1967: 8,3 Prozent, acht Sitze) errangen die Liberalen nur noch drei Mandate. Die NPD sank von 6,9 auf 2,7, die DKP von 1,2 (DFU-Stimmen) auf 0,9 Prozent,
Als das Drama der Freien Demokraten in der Wahlnacht offenkundig war, resümierte FDP-Vize Friderichs, ehemals Bundesgeschäftsführer seiner Partei in Bonn: »Wir sind auf die Schnauze gefallen.« Vorsitzender Eicher bekannte: »Vorhin gab es eine Trendmeldung von vier Prozent -- da bin ich fast ohnmächtig geworden.«
Kaum noch imstande, künftig politische Entscheidungen zu fällen, suchte die Mainzer FDP letzte Woche nach einem Weg des Überlebens: Während Eicher und Friderichs in eine neue Koalition mit der CDU drängten (wo Eicher Justizminister werden, Friderichs Landwirtschafts-Staatssekretär, bleiben könnte), forderten Jungdemokraten und Linksliberale im Landeshauptausschuß Konsequenzen aus dem Wähler-Votum -- Marsch in die Opposition.
SPD-Führer Dröscher läßt sich unterdessen in Mainz und Bonn als Wahlsieger feiern: Er hielt sein Versprechen an den Kanzler ("Willy, wir werden_s hier wenden") und überzeugte seine Kritiker in Mainz: »Wir haben den Genossen Trend schließlich wieder auf den richtigen Weg gebracht.« Wichtigstes Resultat für den »guten Menschen von Kirn« (Mainzer Volksmund): Trotz FDP-Schlappe und trotz massiver CDU-Propaganda gegen Juso-Freund Dröscher ("Stoppt die Linken") und Bonner Wirtschaft, Politik ("Die Inflation hat Hunger") behaupteten SPD und FDP in Rheinland-Pfalz ihren gemeinsamen Punktestand der letzten Bundestagswahl -- 46,4 Prozent. Das SPD-Bundestagswahlergebnis (40,1 Prozent) wurde noch um 0,4 Punkte übertroffen.
So holten die Sozialdemokraten vor allem in ländlich-katholischen Bereichen (etwa in den Landkreisen Ahrweiler, Daun, Cochem-Zell und Bitburg-Prüm), wo die CDU früher Traumzahlen bis zu 75.5 Prozent erreicht hat, überdurchschnittlich auf. In Mayen und Andernach, wo Kohl die Bürger mit einer Gebiets- und Verwaltungsreform verprellt hatte, registrierte die SPD einen hohen Zuwachs an Protestwählern (plus 10,9 und 8,4 Punkte). Aber auch in SPD-Hochburgen wie Worms, Mainz, Kaiserslautern und Ludwigshafen machten die Linken zwischen 3,1 und 5,1 Punkte gut. Im Wahlkreis 2, der von Ahrweiler bis Birkenfeld reicht, gewann Parteiführer Dröscher 5,4 Punkte an Stimmen hinzu -- weitgehend auf Kosten seines Freundes Friderichs, der als FDP-Kandidat 9000 Stimmen einbüßte.
Schwache SPD-Gewinne gab es allein in pfälzischen Städten wie Speyer (plus 1,3) und Zweibrücken (plus 1,9 Punkte), wo die alternden Oberbürgermeister a. D. Paulus Skopp, 65, und Oskar Munzinger, 60, als Spitzenkandidaten in den beiden pfälzischen Wahlkreisen einen müden Wahlkampf absolviert hatten.
Doch nirgends zwischen Maar und Saar nahm die CDU, die ihr Bundestagswahlergebnis von 1969 um 2,2 Punkte übertrat, den Sozialdemokraten Stimmen ab; überall wo die Kohlisten gewonnen haben, behauptete sich auch die SPD. Während die Mainzer Oppositions-Partei in keinem Stadt- oder Landkreis schlechter abschnitt als 1967, erlitt die Union Einbußen in ihren Hochburgen im Norden -- so in Andernach (minus 2,1), Bad Neuenahr-Ahrweiler (minus 1,5), Mayen (minus 4,6) oder in den Landkreisen Daun (minus 1,2), Cochem-Zell (minus 1,0) und Bitburg-Prüm (minus 0,4).
Die CDU aber hielt genau dort reiche Ernte, wo die NPD ihre größten Verluste beklagte -- etwa im Donnersbergkreis (NPD-Minus 8,0 und CDU-Plus 8,6) oder im Landkreis Kusel (NPD-Minus 9,3 und CDU-Plus 8,4). Allein sechs von zehn früheren NPD-Wählern wanderten zu den großen Parteien ab.
Aber dort, wo die Sozialdemokraten 1967 Protestwähler an die NPD hatten abgeben müssen (wie im Landkreis Zweibrücken), holte die SPD von rechtsaußen (NPD-Verlust 7,8) Stimmen zurück (SPD-Plus 3,7 Punkte, CDU-Plus 4,5). Der Agrarpolitiker und EWG-Parlamentarier Wilhelm Dröscher, der im Wahlkampf fast täglich in Dorfgasthäusern mit verprellten Bauern diskutiert hatte, verhinderte vor allem in seiner Heimatregion Kreuznach/Birkenfeld, daß ehemalige NPD-Wähler geschlossen zur CDU überliefen.
Unzufriedene in den Wäldern zwischen Saargrenze und Rhein, zwischen Hunsrück und Pfälzer Wald -- wo dünne Besiedlung und kleine Höfe mit Nato-Basen, Bar-Rummel und leichten Damen kontrastieren, wo wenig verdient wird und kein Fremdenverkehr floriert -- waren einst Stimmreservoir für NSDAP und Deutsche Reichspartei. Von der NPD liefen sie schließlich zur Christenunion über, die Inflationsangst schürt und den »Ausverkauf Deutschlands verhindern« will. Historiker Kohl, dem der erwartete Zulauf von rechts die absolute Mehrheit bescherte, maulte in der Wahlnacht: »Man soll sich hüten, jetzt hier über die Harzburger Front zu meditieren.«
Solche Meditationen freilich waren in Mainz schon vorigen Advent en vogue, als die CDU mit Hilfe der vier NPD-Abgeordneten ein konservatives Hochschulgesetz gegen den Willen ihres FDP-Koalitionspartners ertrotzte. »Spätestens damals«, dämmert es heute linken Liberalen, »hätten wir aus der Koalition rausgemußt.«
Doch Bonns Freidemokrat Hans-Dietrich Genscher erklärte wenige Tage vor der Wahl »eine Koalition zwischen SPD und FDP in Rheinland-Pfalz für völlig ausgeschlossen«, weil er dem Mainzer Statthalter Eicher nur noch an der Seite Kohls einen Erfolg zutraute. Genschers Parlamentarischer Staatssekretär Wolfram Dorn (FDP) letzte Woche: »Dieser Fehlannahme ist nicht nur Genscher erlegen, sondern wir alle.« Freilich -- daß es ausgerechnet der selbstbewußte Übertaktiker Genscher war, dem die Fehlkalkulation öffentlich unterlief, kann für Bundesparteichef Scheel nützlich sein.
Auch Helmut Kohl, der sich guter Kontakte zu Genscher rühmt, war in der Wahlnacht fassungslos: »Ich versteh« des ganze Ding net.« Dann, nach den ersten Hochrechnungen, beförderte er seinen intimsten Berater, den ehemaligen Schauspieler und Journalisten Hanns Schreiner, vom leitenden Ministerialrat zum Ministerialdirigenten.
CDU-Fraktionschef Johann Wilhelm Gaddum ließ sich später zum neuen Finanzminister, Staatssekretär Heinrich Holkenbrink zum neuen Wirtschaftsminister küren. Den Amtsbürgermeister Heinz ("Blacky") Schwarz aus Bad Hönningen erwählte die CDU-Fraktion (mit 13 Gegenstimmen und vier Enthaltungen) zum neuen Innenminister.
Kultusminister Vogels Ministerialdirigentin Hanna-Renate Launen freilich, die vom evangelischen Glauben zum Katholizismus konvertiert ist und letzthin Vizepräsidentin der Würzburger Synode wurde, wartet als einzige Frau der Mannschaft bislang vergeblich auf ihre Beförderung zur Staatssekretärin: Es wäre -- gemäß dem CDU-Konfessionsproporz -- besser gewesen, wenn sie heute noch evangelisch wäre.
Helmut Kohl will »jetzt erst mal in Urlaub fahren« (nach Südtirol). Vorher bereiteten ihm Wahlstatistiker eine letzte Enttäuschung: Der Christdemokrat hat nicht, wie er stolz im Fernsehen verkündete, »die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht«, denn dazu fehlen laut vorläufigem Endergebnis genau 188 Wähler. Von 2 025 405 gültigen Stimmen entfielen 1 012 515 auf die Christenunion. Das aber sind keine 50, sondern exakt 49,990742098493881 Prozent.