SCHULEN Fehl am Platze
In der Quinta des Wuppertaler Gymnasiums Mackensenstraße wurde dem Schüler Franz Bertram*, heute 16, zuerst »mangelhafte«, bei der Versetzung dann »ausreichende« Führung bescheinigt. Im Quarta-Halbjahreszeugnis aber stand wieder, er sei »ohne jede Disziplin« und für die Schule nicht mehr geeignet.
Nach nur vorübergehendem Wohlverhalten hatte Bertram, Sohn begüterter Eltern, einen Rekord an Unbotmäßigkeit und Flegelei aufgestellt. 90 Eintragungen im Klassenbuch innerhalb von neun Monaten verzeichneten Störung des Unterrichts, Entfernung aus dem Klassenzimmer, Erscheinen ohne Turnzeug, Verspätungen, Verweigerung der Mitarbeit, Boykott von Haus- und Sonderaufgaben, schließlich auch Mandarinen-Würfe auf Lehrer und Mitschüler.
Daraufhin beschloß die Gesamtkonferenz des Gymnasiums -- Lehrer, Eltern- und Schüler-Vertreter -- für Bertram die Schulstrafe der Entlassung; er wurde noch vor Quarta-Abschluß trotz Widerspruchs der Eltern relegiert. Das Ehepaar Bertram klagte dagegen für Sohn Franz, und nunmehr, zwei Jahre nach dem Exodus, annullierte im Berufungsverfahren der V. Senat des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster den Ausschluß als rechtswidrig und folgte damit der Vorinstanz, dem Verwaltungsgericht Düsseldorf.
Das rechtskräftige Urteil kommt vielen Eltern wie Schülern in Nordrhein-Westfalen zupaß und Schulleitern wie Schulbehörden in die Quere. Denn mit ihrem Spruch im Fall Bertram setzten die fünf Verwaltungsrichter die Zwangsentlassung von einer Schule grundsätzlich außer Kraft, »weil sie keine gesetzliche Grundlage hat«.
Im größten Bundesland mit derzeit rund 3,6 Millionen Schülern an 8800 Schulen sind alle Zuchtmittel von Rüge und Tadel über Nichtversetzung bis zu Entlassung und Verweisung lediglich in einem Runderlaß vom Januar 1950 zusammengefaßt. Nach dem Wortlaut des Münsteraner Urteils ist jedoch diese Verwaltungsvorschrift keine ausreichende Rechtsgrundlage, insbesondere nicht für die Entlassung, die als »belastender Verwaltungsakt« einer gesetzlichen Basis bedürfe.
Das heißt, daß zumindest die schweren Schulstrafen der Entlassung und Verweisung in Nordrhein-Westfalen 25 Jahre lang ohne rechtliche Absicherung vollstreckt wurden. Schon halten Düsseldorfer Parlamentsjuristen eine »Fülle von Prozessen«, etwa auf Aussetzung oder Wiederaufnahme, für denkbar und einen geordneten Schulbetrieb für »kaum noch möglich«.
Die FDP-Landtagsabgeordnete Silke Gerigk-Groht fragte die Landesregierung, wie denn jetzt noch die »Funktionsfähigkeit der Lehranstalten« gesichert sei, und SPD-Kultusminister Jürgen Girgensohn versprach, dem Landtag »so schnell wie möglich« ein Schulstrafengesetz vorzulegen. Dabei warnte er vor »übertriebenen Hoffnungen« der Schüler auf Wegfall der bisherigen Ordnungsnormen: »Davon kann keine Rede sein.«
Der siebzehnseitige Urteilstext aus Münster läßt jedoch durchaus den Schluß zu, daß Rektoren und Direktoren in Nordrhein-Westfalen künftig mit den härtesten Disziplinierungsmitteln behutsamer umgehen müssen. Abgesehen von der fehlenden Berechtigung, verwarf der OVG-Senat auch alle subjektiven und sachlichen Argumente für einen Hinausschmiß.
Vergeblich hatte das -- als Prozeßgegner der Eltern Bertram angetretene -Schulkollegium beim Regierungspräsidium Düsseldorf dargelegt, die Entlassung beziehe sich nur auf eine bestimmte Schule, der gefeuerte Schiller könne sofort in eine andere Bildungsanstalt überwechseln; erst die schwerere Strafe der Verweisung bewirke den Ausschluß von allen Schulen des Landes.
Darauf erwiderte das OVG Münster, schon die Entlassung sei »eine einschneidende Maßnahme. die unmittelbar in die Rechtssphäre des Schülers« eingreife, vor allem in sein »Recht auf Teilhabe am Bildungswesen«.
Die westfälischen Richter sahen im Fall Bertram sogar den Grundgesetzartikel 12 (freie Wahl der Ausbildungsstätte) tangiert, auch wenn damit nur die Wahl einer bestimmten Schulform und nicht eines speziellen Lehrinstituts * Name von der Redaktion geändert
gemeint sei: Diese Einschränkung könne nur solange gelten, »als der Betroffene eine bestimmte Schule noch nicht besucht. Ist er zum Zeitpunkt der belastenden Maßnahme bereits deren Schüler, ist die bloße Aufnahmechance zu einem Recht auf Ausbildung an der bestimmten Schule erstarkt«.
Mit einer derart extensiven und zugleich pingeligen Auslegung weicht gerade der V. Senat von einem Urteil ab, mit dem er erst vor einem Jahr einem Schüler den Besuch aller Oberschulen des Landes verbot, weil dieser »Widerstand, Kampf und Agitation gegen die Schulordnung im Ganzen, gegen den Leistungswillen der Mitschüler und gegen das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrerschaft und Schülerschaft« betrieben hatte (SPIEGEL 44/1974).
Der frühere Fall: Der Oberprimaner Elmar Beiers, Mitglied einer maoistischen Splittergruppe namens »Kommunistischer Oberschülerverband« (KOV), war vom Gymnasium Laurentianum in Warendorf verwiesen worden. Erfolglos prozessierte Beiers Mutter auf demselben Rechtsweg wie die Eltern Bertram gegen die totale Aussperrung ihres Sohnes von allen Oberschulen in NRW.
Der V. Senat, damals unter anderem Vorsitz, hatte zwar schon in seinem Urteil zu diesem Verfahren, 1974, den Schulstrafenerlaß eher nebenbei als einwandfrei »rechtswidrig« disqualifiziert. Er hielt aber gleichwohl einen politischen Unruhestifter wie Beiers »aus mehrfachem Grund in der Schule fehl am Platze«.
Nicht so bei unpolitischer Renitenz und Regelwidrigkeiten' wie sie Bertram im Schlager-Stil von »Charly Brown« praktiziert hatte: Weder Art noch Häufung der »kleineren Verfehlungen«, so die Senatsmitglieder diesmal. könnten die Erziehungsaufgabe der Schule oder den Bildungsanspruch der anderen Schüler in Frage stellen. Die NRW-Richter hielten minder schwere Strafen -- etwa »Verweisung vor die Klassentür« -- für ausreichend.
Der aktuelle Streitfall, so sprach der OVG-Senat den Kultusminister direkt an, sei im übrigen kein Anlaß, »im Interesse der Funktionsfähigkeit der Schulen auch nur für eine Übergangszeit auf ein ordentliche Ordnungsrecht zu verzichten«. Dezent monierten die Richter, ob der Landtag in Düsseldorf seit 1950 nicht »ausreichend Gelegenheit« hatte, die »Regelungslücke« bei Schulstrafen zu schließen -- wie dies in den letzten Jahren beispielsweise im Saarland, in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bremen geschehen ist.
Der spektakuläre Ausgang des Verfahrens, dessen gesamte Kosten dem Regierungspräsidium auferlegt wurden, wie auch die dadurch ausgelöste gesetzliche Neuregelung interessieren und betreffen Franz Bertram nicht mehr: Er besucht ein Internat in England.