IRLAND Fehler kaschiert
Nacht in Monasterevin. Hinter ihren Stativen kauern Bildreporter um ein kleines offenes Feuer, jenseits der Seilabsperrung schweigt sich eine Gruppe von Polizisten an -- lustlose Bewacher.
Plötzlich zerreißt ein langgezogener Schrei die Stille der nebeligen Nacht: »Eddie, wir ergeben uns.« Keiner der Umstehenden lacht -- nach zweiwöchiger Belagerung von Eddie Gallagher, Marion Coyle und ihrer Geisel Dr. Tiede Herrema sind Bewacher und Beobachter mit ihren Nerven am Ende.
Niemand draußen weiß, wie es im Inneren des kleinen Hauses aussieht, in dem die Entführer mit ihrem Opfer festsitzen. Irlands Regierung behandelt alle Vorgänge im Haus als Staatsgeheimnis. Die Journalisten erfahren nicht einmal, womit die Brote belegt sind, die den Kidnappern täglich von der Polizei geliefert werden,
Absurd, doch nicht ohne Methode: Durch die totale Nachrichtensperre werden, wie der SPIEGEL in Irland ermittelte, schwere Fehler in der Behandlung des Entführungsfalls kaschiert.
Am 3. Oktober verließ Dr. Tiede Herrema, Leiter einer holländischen Fabrik in Limerick, die Einlagen für Stahlgürtelreifen produziert und 1200 Arbeiter beschäftigt, pünktlich wie jeden Tag um 8.05 Uhr das Wohnhaus, um zur Fabrik zu fahren.
Nach wenigen hundert Metern wurde er von einem Uniformierten angehalten, doch der vermeintliche Gesetzeshüter zog eine Waffe, zerrte den Geschäftsmann in ein wartendes Auto und verschwand. Schon eine halbe Stunde später entdeckten Herremas Kinder Idse, 16, und Haram, 13, auf der Fahrt zur Schule vom Bus aus das leerstehende Auto ihres Vaters am Straßenrand. Sie alarmierten den Direktor, der die Firma, diese wiederum die Polizei.
Doch erst als um 11.30 Uhr ein Telephonanruf der Entführer bei der holländischen Botschaft einging, wurde eine Großfahndung eingeleitet.
Aber wie: Bei einigen Polizeistationen in unmittelbarer Nähe des Tatortes ging der Dubliner Alarm erst um 14 Uhr ein, und auf einigen Hauptstraßen der Gegend zwischen Tipperary und Limerick wurden die ersten Straßensperren um 17 Uhr errichtet, ganze neun Stunden nach der Entführung.
Schon am nächsten Tag erfuhren die Behörden auf Grund verschiedener Indizien die Identität der Entführer -- und damit den Umfang der Gefahr, in der sich der Entführte befinden mußte. Denn die vermutlichen Entführer Eddie Gallagher, 27, und Marion Coyle, 19, waren bekannte Mitglieder der IRA. Hauptforderung der Entführer war die sofortige Freilassung dreier Terroristen aus irischen Gefängnissen: des IRA-Kommandoführers Kevin Mallon, der Engländerin Dr. Rose Dugdale und des IRA-Partisanen Jimmy Hyland.
Marion Coyle ist seit Jahren eng mit Kevin Mallon befreundet. Sie war bis zur Entführung Mitglied jener Kommandoeinheit der IRA, die von Kevin Mallon aufgestellt und geführt wurde und der neben Eddie Gallagher auch die beiden Schwestern Marion und Dolors Price angehören, die wegen mehrerer Bombenattentate in England verurteilt wurden.
Diese Kommandoeinheit, 1972 in der Grafschaft Leitrim in Mittelirland und in Dublin selbst ausgebildet, ist die einzige ihrer Art und die Eliteeinheit der IRA. Ihre Mitglieder wurden einer Sonderbehandlung unterzogen, bei der sie schwerste Folterungen zur Erpressung von Geständnissen und anderen Psychoterror überstehen lernten. Auf ihr Konto gehen fast alle spektakulären Unternehmungen der Armee -- die Bombenanschläge in England, die Hubschrauberentführung dreier IRA-Führer, aus dem bis dato als ausbruchsicher geltenden Mountjoy-Gefängnis 1973 (Mitausbrecher Kevin Mallon), die Massenflucht von Portlaoise, als unter Führung wiederum von Kevin Mallon 19 IRA-Häftlinge mit Dynamit Löcher in die Gefängnismauern sprengten.
Dr. Rose Dugdale, Tochter eines wohlhabenden britischen Offiziers, hatte Gallagher 1973 in Irland kennengelernt. Beide verliebten sich ineinander und ergänzten sich bei waghalsigen
* Am Fenster (Pfeil) Entführter Tiede Herrema.
Kommandounternehmen zum Vorteil der IRA. Sie mietete den Hubschrauber an, mit dem die Mallon-Einheit 1974 das Gefängnis von Strabane in Nordirland bombardierte, und sie entführte Bilder aus dem Hause eines in Irland lebenden britischen Millionärs, um auf diese Weise -- erfolglos -- die Verlegung der Bombenschwestern Marion und Dolors Price aus britischen in nordirische Gefängnisse zu erzwingen. Rose Dugdale verbüßt derzeit im Gefängnis von Limerick eine neunjährige Freiheitsstrafe und hat im Gefängnis einen Sohn geboren, dessen Vater Eddie Gallagher sein soll.
Über die Gefährlichkeit der Entführer, über ihren Mut und ihre psychische Stärke mußte sich die irische Regierung also im klaren sein. Dennoch entschied sie sich zu einem Vorgehen, das die Entführer eigentlich nur zum Mord an Herrema ermuntern konnte: Sie lehnte nicht nur die Erfüllung sämtlicher Forderungen der Entführer kategorisch ab, sondern auch jede noch so geringe Konzession und nahm sich damit jeden Verhandlungsspielraum.
Doch auch die Unbeweglichkeit der irischen Regierung hatte -- wegen der völlig unvorhersehbaren Geduld der Entführer -- keine negativen Folgen.
Prompt folgten die nächsten Fehler: Kaum hatte die Polizei das Kidnapperversteck in Monasterevin erfahren, stürmte sie auch schon. Ohne Rücksicht auf das Leben der Geisel, ohne den geringsten Verhandlungsversuch griffen schwerbewaffnete Polizisten an. Entführer samt Opfer retteten sich ins Obergeschoß, unten zogen die Gesetzeshüter ein. Wieder hatte die Regierung Gliick, die Entführer erschossen Herrema nicht. Die »Irish Times« kommentierte erbittert: »Es ist einfach unaufrichtig zu behaupten, daß diese Politik primär auf die Sicherung des Lebens von Dr. Herrema gerichtet ist.« In der Tat nicht, ganz im Gegenteil. Denn anstatt wenigstens nach Auffindung der Entführer alle Mittel einzusetzen, diese zur Aufgabe zu bewegen, entschied sich die Regierung zunächst dafür, bei der Verfolgung ihrer harten Linie keine Außenstehenden als Vermittler zu beteiligen -- und nahm dabei in Kauf, das Leben Herremas zu gefährden.
Die Regierung ließ Vermittlungsversuche aus den verschiedensten politischen Kreisen, auch von völlig unverdächtigen Personen, gar nicht erst zu:
* Der IRA-Veteran Joe Cahill und ein weiterer IRA-Führer, ein Vertreter der Herrema-Firma, der protestantische Pfarrer Arlow und der Vorsitzende des irischen Roten Kreuzes reisten gemeinsam zum Gefängnis von Portlaoise, um dort in einem Gespräch Kevin Mallon dafür zu gewinnen, die Kidnapper zur Aufgabe zu bewegen. Ohne Angabe von Gründen verbot die Regierung der Fünfer-Kommission ein Gespräch ohne Aufsicht der Gefängnisbehörde.
* Wiederholte Angebote des irischen Gewerkschaftsführers Philip Flynn, in einem Gespräch die Belagerten zur Aufgabe zu bewegen, wurden ebenso abgelehnt wie ähnliche Vermittlungsversuche des Kapuzinermönchs Donal O'Mahoney.
* Auch eine gemeinsame Initiative des katholischen Bischofs Daly von Londonderry und der britischen Regierung scheiterte am Veto des Justizministers. Die Briten hatten sich bereit erklärt, den in Nordirland wegen verschiedener Bombenanschläge einsitzenden Bruder Philip der Entführerin Marion Coyle vorzeitig zu entlassen, um dem Jungen Gelegenheit zu einem Gespräch mit seiner Schwester zu geben. Die Härte der Dubliner Regierung hat freilich Gründe. Die größere der beiden Regierungsparteien, Fine Gael, hat einen Gesetzentwurf eingebracht. der die ohnehin für eine Demokratie beispiellos scharfen Antiterroristengesetze des Landes noch wesentlich verschärfen soll.
Das neue, von der Opposition ebenso wie vom Koalitionspartner, der Labourpartei, abgelehnte Gesetz sieht vor, daß in Zukunft die Entscheidung eines Polizeioffiziers ausreicht, die Häuser von Verdächtigen ohne richterlichen Haussuchungsbefehl zu durchsuchen.
Die Regierungspartei von Premierminister Liam Cosgrave will aus der Behandlung des Falles ihre Kompetenz im Kampf für Law and Order unter Beweis stellen und das dabei erhoffte Verdienst mit niemandem teilen. Ihr Kalkül: Endet die Affäre blutig, dann wird der Ruf nach mehr Staat und härteren Mitteln lauter -- endet das Drama friedlich, dann hat die Regierung der Welt und dem eigenen Volk ein Beispiel gegeben.