Zur Ausgabe
Artikel 15 / 71

SCHULE Fehler ohne Folgen

In Hamburg werden Grundschüler, die an Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie) leiden, besonders intensiv betreut. Erfolg: Auch Legastheniker können das Abitur bestehen.
aus DER SPIEGEL 34/1973

Die Schüler schreiben »ie« statt »ei«, »M« statt »W«; sie verstümmeln Wörter bis zur Unkenntlichkeit. Aus »Botenlohn« beispielsweise wird »Lodenbohm«, »Vorderräder« verwandeln sich in »Forberreber«, und »Rechnung« besteht nur noch aus Konsonanten: »Rchnng«.

In Hamburg ergab jüngst eine Untersuchung von Schülern der zweiten Grundschulklassen, daß zehn Prozent dieses Schüler-Jahrgangs zu solchen Fehlern neigen. Sie leiden an Legasthenie -- an Lese-Rechtschreibschwäche (LRS).

Wie häufig legasthenische Störungen bei Schülern in anderen Bundesländern auftreten, läßt sich nur vermuten. Denn es gibt bislang kein bundeseinheitliches Testverfahren zur Diagnose dieses Lese- und Schreibversagens. Die Schätzungen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen schwanken zwischen einem und 20 Prozent.

Ebenso ungeklärt sind die vielschichtigen Ursachen dieses Leidens. Linig sind sich Pädagogen nur, daß Legasthenie nichts mit einer allgemeinen Minderbegabung zu tun hat. Legastheniker besitzen eine zumindest normale, häufig aber überdurchschnittliche Intelligenz.

Im Rahmen der Hamburger Untersuchung wurden Schüler als Legastheniker bezeichnet, die zwei Bedingungen erfüllten:

* ihr Intelligenz-Quotient (IQ)* mußte über 90 liegen;

* in einem diagnostischen Rechtschreib-Test (der zuvor an gleichaltrigen Schülern geeicht worden war) durfte der Prüfling nur den Prozentrang 15 (oder weniger) erreichen. Das bedeutet: In der Altersgruppe des Prüflings schneiden 85 Prozent (oder mehr) in diesem Test besser ab als er.

Oberschulrat Dr. Walter Barsch, der Referent für Schulpsychologie an der Hamburger Schulbehörde, bleibt gleichwohl skeptisch. Er ist sicher. daß trotz dieses gründlichen Verfahrens noch immer nicht alle Legastheniker erfaßt werden. Barsch: »Das Wichtigste aber ist eine frühzeitige Diagnose. möglichst noch in der zweiten Klasse. Denn ein nichterkannter Legastheniker ist weg Vom Fenster; er bleibt in der Regel sitzen und schwebt in ernster Gefahr. massiv verhaltensgestört zu werden.

Was in anderen Bundesländern noch Neuland ist oder, wie in Schleswig-Holstein, gerade erst per Minister-Erlaß eingeführt wurde (aber damit noch längst nicht allen Lehrern eingegangen ist), wird in Hamburg schon seit längerer Zeit geübt: Rechtschreibleistungen und Rechtschreibzensuren dürfen bei der Beurteilung des Schulerfolgs nicht entscheidend sein. Im Einverständnis mit den Eltern kann in der Grundschule auch die Zensierung ausgesetzt werden. Das ist ein Fortschritt, der vielen Schülern hilft. Denn die Hauptursache für Sitzenbleiben in der Grundschule war bisher das Versagen in der Rechtschreibung.

Die Hamburger LRS-Kinder sind ohnehin seit langem besser (Iran als ihre Leidensgefährten in den übrigen Bundesländern. Bereits Anfang der fünfziger Jahre spezialisierte sich in der Hansestadt ein überdurchschnittlich gut besetzter schulpsychologischer Dienst ("Dienststelle Schülerhilfe") auf die damals noch weithin unbekannte Legasthenie.

Anderswo verkümmerten derweil un -- gezählte Legastheniker in Sonderschulen. So entdeckte der Marburger Kinderpsychiater Curt Weinschenk, einer der rührigsten Legasthenie-Forscher, in Sonderschulen sehr oft Kinder mit dem ungewöhnlich hohen Intelligenz-Quo-

* IQ-Klassifizierung: 79 -- 90 -- niedrig; 91 -- 109 -- durchschnittlich; 110 -- 117 hoch; 118 -- 120 -- sehr hoch; 127 und mehr -- extrem hoch

tienten von 130. Sie waren, obgleich klüger als die Masse der Grundschüler, umgeschult worden, weil ihre Lehrer das orthographische Versagen mit Schwachsinn verwechselt hatten.

Noch folgenschwerer ist es, daß häufig eine Fehldiagnose bei Legasthenikern nicht nur zu Nachteilen in der Schulbildung führt, sondern auch eine seelische Fehlentwicklung auslöst. Sie kann sich, so Weinschenk, »in Form von kriminellen Verhaltensweisen fest einschleifen, so daß diese in manchen Fällen bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben können, zumal wenn die Betreffenden infolge ihrer Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten auch noch nach der Schulzeit Selbstwertverletzungen erleiden müssen«.

Daß Legastheniker ins Kriminelle abgleiten, läßt sich nur durch rechtzeitiges Erkennen und eine besondere pädagogische Behandlung vermeiden.

Daher sind seit gut zwei Jahrzehnten viele Lehrer am Hamburger Institut für Lehrerfortbildung in Diagnose und Therapie der Lese-Rechtschreibschwäche ausgebildet worden. Jede Grund- und Hauptschule hat mindestens einen LRS-Experten in ihrem Kollegium.

Mit Hilfe dieses Teams, dem ständig Nachwuchs zuwächst, wird die Legastheniker-Betreuung in Hamburg zentral und effektiver als irgendwo anders gesteuert. Bereits in der ersten Klasse werden LRS-verdächtige Kinder vom Lehrer dem Schulleiter gemeldet. Wenn die Diagnose, spätestens nach einer Testuntersuchung in der zweiten oder dritten Klasse, feststeht, erhalten die leichteren Fälle (rund 70 Prozent) Förderstunden vom Klassenlehrer, oder sie werden -- schulübergreifend -- in Fördergruppen von LRS-Spezialisten in Lesen und Rechtschreibung unterwiesen.

Kinder, die an besonders schweren Formen von Legasthenie leiden, werden in LRS-Kleinklassen (mit höchstens 15 Schülern) untergebracht und dort zwei Jahre lang in allen Fächern unterrichtet.

Erfolg: Rund 60 Prozent aller Legastheniker können in Hamburg »durch Zusatzmaßnahmen so gefördert werden, daß sie grundsätzlich keine Schulschwierigkeiten mehr haben« (Bärsch). Und die Leseschwierigkeiten lassen sich sogar bei neun von zehn LRS-Kindern beseitigen. Einzelne Schüler überwinden freilich ihre Legasthenie trotz aller pädagogischer Sondermaßnahmen nie.

Doch auch diesen Legasthenikern ist neuerdings das Vorankommen im Gymnasium nicht mehr verbaut. Wenn von einem Schüler bekannt ist und durch schulpsychologisches Gutachten bestätigt wird, daß er Legastheniker ist, werden seine schriftlichen Arbeiten -- auch beim Abitur -- lediglich nach dem Inhalt und nicht nach der Zahl der Rechtschreibfehler bewertet.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 15 / 71
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren