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Artikel 39 / 69

Feierabend: Bildschirm im Blick

aus DER SPIEGEL 6/1975

Das Fernsehen war total, die Bundesrepublik saß vor dem Bildschirm.

Die Meßgeräte schienen ihren Dienst zu versagen. Sie meldeten, daß nicht nur 100, sondern sogar 103 Prozent aller Fernsehempfänger eingeschaltet waren.

An diesem Abend wurden demnach, wenn ein Fernsehgerät im Haus war, weder Bücher gelesen noch Skatkarten gemischt, weder Platten gehört noch Partys gegeben. Und selbst Kranke und Trauernde vergaßen ihren Schmerz.

Doch keine einzige Schlagzeile, nicht einmal irgendeine Notiz war diesem Fernsehereignis des Jahres 1974 gewidmet.

Es geschah vor knapp einem Jahr, am 22. Februar, einem Freitag. Ab 20.15 Uhr lief im ersten Programm »Mainz bleibt Mainz«, im zweiten der »Kommissar«. 69 Prozent der Geräte waren auf Karneval, 34 Prozent auf Krimi eingestellt.

Ob das Fernsehen an seinem diesjährigen Karnevalstag wieder so total ist wie 1974, ist fraglich.

Wenn am Freitag nicht die ARD, sondern diesmal das ZDF »Mainz bleibt Mainz« ausstrahlt, werden zwar wieder zwei von drei Bundes-Deutschen die Narren stundenlang für spaßig halten. Und die ARD handelt nach der Erkenntnis, daß ohne Tote dagegen nicht anzukommen ist: Im Ersten läuft der Schlöndorff-Film »Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kornbach« mit zwei Selbstmorden und doppelt so vielen Hinrichtungen. Aber langjährige TV-Erfahrung besagt, daß Serien-Krimis mehr Zuschauer anziehen als Spielfilme.

Für den absurden Eindruck, es seien mehr Bildschirme in Betrieb als überhaupt vorhanden, sorgten am 22. Februar 1974 jene Zuschauer, die sich nicht entweder mit ARD-Spaß oder mit ZDF-Spannung begnügen wollten.

Viele wechselten, kaum daß sie den Täter wußten, vom Superfahnder Erik Ode und seinem Assistenten-Trio auf die Mainzer Jeck-Stars um. Einige Unersättliche schalteten sogar, solange sich beide Sendungen überschnitten, hin und her. Sie versuchten, hier wie dort im Bild zu bleiben und simultan Mord und Bütt zu genießen.

Die Um- und Wechselschalter wurden doppelt und sogar mehrfach gezählt und täuschten darüber hinweg, daß auch an diesem Abend ein Bruchteil der Deutschen nicht fernsah.

Einschaltquoten wie am 22. Februar wurden bislang nicht wieder erreicht, nicht einmal bei den Spielen um die Fußballweltmeisterschaft. Zwar schauten sich mehr Bundesbürger die deutsche Elf als die Mainzer Narren an. Aber wenn die Kämpfe übertragen wurden, blickten nur kümmerliche Reste der Nation in den anderen Kanal. Während des Spiels gegen Schweden zum Beispiel (Einschaltquote 73 Prozent) waren nur 9 Prozent der Apparate auf die Komödie »Maß für Maß« eingestellt. Immerhin: Beckenbauer + Shakespeare = 82 Prozent.

Zwei von drei Deutschen treibt es in die Fernsehsessel, wenn »Tatort«-Blut oder Peter Alexanders Schmalz, wenn Wim Thoelke ("Der große Preis« alias »Drei mal Neun") oder Hans Rosenthal ("Dalli -- Dalli") angesagt sind. Der fette Gannon und der lahme »Chef« fanden für ihre Serien-Krimis ebenfalls ein etwa so großes Publikum, bis sie im vergangenen Jahr von den deutschen Bildschirmen verschwanden. Andere Fernsehstars wie Tier-Grzimek und Frühschoppen-Höfer haben weit weniger Zuspruch. Beispiele dafür, wie verschieden die durchschnittlichen Quoten im Jahre 1974 waren (in Prozent*):

Wurde 1974 der Mehrheit auf dem einen Kanal Quiz oder Krimi geboten und eine ansehnliche Minderheit mit dem anderen »Programm zufriedengestellt, so waren 75 bis 90 Prozent der Deutschen vor der flimmernden Röhre versammelt.

Das sind zwischen 33 und 40 Millionen Menschen -- in der Spitze mehr als die drei größten Bundesländer (Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg) Einwohner haben, Säuglinge inklusive.

Die fast allabendliche Regel ist, daß eine zwar nicht ganz so überwältigende, aber doch eindeutige Mehrheit der Deutschen fernsieht. Und selbst wenn das Programm die Zuschauer mehr gähnen als gucken läßt, halten sie aus. Es hat im vergangenen Jahr nur je einen einzigen Dienstag, Donnerstag, Freitag und Sonnabend sowie zwei Sonntage gegeben, an denen weniger als die Hälfte der Fernsehgeräte eingeschaltet war. Durchschnittlich läuft auf zwei von drei Geräten das Programm entweder der ARD oder des ZDF.

Nur zweimal im Laufe der 24 Stunden eines Werk- oder Sonntags tun die meisten Deutschen das gleiche: von 20 bis 21.30 Uhr sehen sie fern, von 22.15 bis 6.30 Uhr schlafen sie. Früher (oder später) liegt nur eine Minderheit schon (oder noch) im Bett.

* Zahlen für »Wort zum Sonntag« und »Ziehung der Lottozahlen« nur bis einschließlich September, da sie später nur noch sporadisch ermittelt wurden.

Im übrigen haben die Deutschen nicht einmal die Mahl-Zeiten gemeinsam. Morgens und abends differieren sie noch stärker als mittags, doch auch sogar zwischen 12 und 13.30 Uhr sitzt nur eine Minderheit bei Tisch.

Abends aber wächst sich das Publikum im Pantoffelkino binnen weniger Viertelstunden (der üblichen Meßeinheit) von einer Minderheit zur Mehrheit aus. Es sehen nach einer 1974er Zählung fern in der Zeit von

Pro Abend bringt es der Deutsche im Durchschnitt auf zwei Stunden Fernsehen. Der papierenen Rechnung nach geht damit der halbe Feierabend der Familie drauf. Denn nur knapp fünf Stunden bleiben von der Heimkehr der berufstätigen Familienmitglieder bis zur Bettruhe.

In Wirklichkeit aber beherrscht das Fernsehen den Feierabend des Durchschnitts-Deutschen nicht halb, sondern so gut wie ganz.

Denn die übrige Zeit wird entweder dafür gebraucht, sich um Kinder, Küche und häuslichen Kram zu kümmern, oder aber »sie ist insofern typische Freizeit, daß man miteinander redet, die Zeitung liest, dies und das tut und daß einem dabei die Zeit unter den Händen zerrinnt, ohne daß man am Ende recht weiß, wo sie geblieben ist«. So sieht es Professor Viggo Graf Blücher, ein renommierter deutscher Freizeit-Forscher, der beim Emnid-Institut in Bielefeld arbeitet und an der Universität Bern lehrt.

Aber nicht nur an den Einschaltquoten, sondern auch an den Daten über die Lebensgewohnheiten des Bundesbürgers ist zu erkennen, in welchem hohen Maße das Fernsehen seine Freizeit bestimmt: am Feierabend, am Wochenende und sogar in den Ferien.

Freizeit der Deutschen -- das ist zunächst einmal Fernsehen und dann erst, mit Abstand, vieles andere mehr. Das ergab eine Untersuchung, mit der das Emnid-Institut vom SPIEGEL beauftragt und die unter Leitung von Freizeit-Blücher durchgeführt wurde.

Um möglichst viel Material über die Fernseh-Gewohnheiten zugrunde zu legen, beschränkte sich der SPIEGEL nicht darauf, diesem Thema in der Emnid-Untersuchung etliche Fragen zu widmen. Neben den Ergebnissen der eigenen Umfrage wurden zahlreiche weitere, größtenteils unveröffentlichte Zahlen der Institute Infratest (München) und Infratam (Wetzlar) verarbeitet.

Die beiden Infra-Institute sind seit langem auf Fernsehforschung spezialisiert, die sie bis zum 31. Dezember 1974 für den internen Gebrauch der Rundfunk- und Fernsehanstalten betrieben. Erst seit dem 1. Januar 1975 hat ein von Infas (Bonn) und dem Institut für Demoskopie (Allensbach) gemeinsam gegründetes Institut diese Aufgabe übernommen.

Infratam arbeitete mit sogenannten Tammetern, die in 825 Haushalten aufgestellt waren. Auf Registrierstreifen wurden durch elektrische Impulse die Zeiten festgehalten, zu denen das erste oder das zweite Programm eingeschaltet waren. Infratest ermittelte zweitäglich per Fragebogen bei 600 Zuschauern vor allem deren Urteil über die Sendungen der beiden Vortage. Höchster Wert war 5,0 gleich »sehr gut«, niedrigster 0,0 gleich »sehr schlecht«.

Aus dem Material, das die Interviewer von Emnid und Infratest zusammentrugen und die Tammeter aufzeichneten, ließ sich ein Bild des deutschen Fernsehzuschauers gewinnen. Es ist in vielem anders, als es von den Sendern selbst und von den Programmzeitschriften entworfen wird.

Gern geben sich die Fernsehmanager so, als sei ihr Medium über den Verdacht erhaben, es mache sich allzu breit und manipuliere die Massen. Und sowenig ein Schlachtermeister die vegetarische Ernährung zu preisen vermag, sowenig sind die Programmzeitschriften als Foren für eine Debatte geeignet, ob das Fernsehen zuviel Freizeit frißt.

Programm-Macher und -Blätter werden nicht müde, den Zuschauer zu rühmen: wie klug er sich sein Programm wähle, wie entschieden er bestimme, wieviel Fernsehen es in seiner Freizeit gehen soll, ja wie sehr das elektronische Medium es sogar vermöge, seinen politischen und geistigen Horizont zu weiten.

Die meisten Zuschauer sind mittlerweile selbst davon überzeugt. Sie reagieren sogar schon dann empfindlich, wenn die Fernsehanstalten in eigener Sache (etwa im »Glashaus« oder in »Mikado") mal ein kritisches Wort sagen. In einer Analyse des Echos unter den Zuschauern stellte Infratest fest: »Je stärker mit der Selbstkritik des Fernsehens auch fest verwurzelte Einstellungen und Sehgewohnheiten der Zuschauer in Frage gestellt werden, desto wahrscheinlicher sind ablehnende Reaktionen auf seiten der Betroffenen.«

Die Begriffe Bundesbürger und Fernsehzuschauer sind Synonyme geworden. Es gibt kaum jemanden (von Säuglingen und Kleinkindern abgesehen), der nicht zumindest gelegentlich fernsieht. Hinsichtlich der Ausstattung mit Erstgeräten ist das Maximum nahezu erreicht. Binnen zehn Jahren hat sich die Zahl in den Haushalten beinahe verdoppelt. Sie betrug

Schon 1970, als noch 16 Prozent der Haushalte ohne Gerät waren, fand Infratest, daß es sich »vor allem um einkommensschwache, ältere Personen aus unteren Bildungsschichten« handele. Das gilt heute mehr denn je.

In einigen tausend Exemplaren gibt es allerdings auch noch den Fernsehgegner aus Überzeugung. Zu ihnen zählt Axel Freiherr von Campenhausen, 41, ordentlicher Professor der Rechte an der Universität München. Seine vier Kinder, vier bis neun Jahre alt, müssen zum Nachbarn gehen, wenn ihr Vater im Fernsehen auftritt.

Gründe des kinderreichen gelehrten Freiherrn für seine TV-Abstinenz: »Ich lese viel Zeitung und fühle mich dadurch hinreichend informiert. Meine Frau und ich sind knapp mit der Zeit, und wir meinen, daß man sie besser nutzt, wenn man in der Familie viel Bücher liest, auch gemeinsam liest und darüber spricht. Und schließlich haben wir mit den Kindern die Erfahrung gemacht, daß sie durch Märchen- und Abenteuerplatten viel besser angeregt werden als durch den Bildschirm. Sehen sie mal bei anderen Leuten fern, so kommen sie mit roten Ohren nach Haus und sind unverträglich.«

In fast allen Familien gehört das TV-Gerät ebenso zum Inventar wie Kühlschrank und Radio. Trotzdem ist die Entwicklung noch nicht zu Ende. Der Trend zum Zweitgerät hat gerade erst begonnen, bislang 13 Prozent der Familien besitzen es. Und vor allem ist die Umstellung von Schwarzweiß auf Farbe im Gange. In 24 Prozent der Haushalte wurde sie bereits vollzogen.

Ein Fernsehgerät in jeder Wohnung. 23 Millionen insgesamt -- die Folgen sprengen noch immer manche Vorstellung. Abgesehen von einigen Politgrößen und wenigen Sport- und Showstars gibt es niemanden, der so bekannt wäre wie zum Beispiel »Kommissar« Erik Ode ("Schon einmal gesehen": 94 Prozent der Zuschauer), wie Beruferater Robert Lembke (93 Prozent), Tierschau-Grzimek (90 Prozent) und die Ohnsorg-Volksbelustiger (89 Prozent). Aber selbst das »Gesundheitsmagazin Praxis« kennen drei von vier Deutschen aus eigener Anschauung.

Kein anderes Medium erreicht auch nur annähernd diese Dimensionen. »Ekel Alfred«-Darsteller Heinz Schubert müßte im ausverkauften Deutschen Schauspielhaus zu Hamburg 44 Jahre lang täglich auftreten, sollten ihn dort so viele Zuschauer sehen, wie es im Schnitt bei einer Sendung »Ein Herz und eine Seele« geschah. Der Bayern-Elf aus München schauten beim Pokalspiel in Magdeburg gegen den 1. FC mehr Leute per TV zu, als bei 400 Heimspielen ins Olympiastadion passen.

Selbst wenn nur jedes vierte Gerät läuft (was beispielsweise beim politischen Magazin »Panorama« das Minimum ist), dann sehen mehr Deutsche fern, als »Bild« Leser hat.

Auch die Kinowelle, die es derzeit nicht nur wegen des Mannes, der rot sieht, wegen des »Exorzisten« und wegen der nackten Romy ("Das wilde Schaf") gibt, bietet dem bewegten Bild im Heim keine Konkurrenz. Wenn etwa in Hamburg die Kinos mit insgesamt 23 000 Plätzen an einem Abend allesamt ausverkauft wären, so reduzierte sich die Zahl der hansestädtischen erwachsenen Fernsehzuschauer nur um zwei bis drei Prozent.

Überhaupt gibt es, sieht man vom Geschlechts- und vom Autoverkehr ab. neben dem Fernsehen nichts, was die Mehrheit der Deutschen zu fesseln vermag. Auch das Radio läßt sich mit dem Fernsehen nicht mehr vergleichen, obwohl es sogar öfter eingestellt und länger gehört wird. Für viele liefert es aber nur noch Nebengeräusche.

Lebensgewohnheiten wandeln sich sonst langsam, zumeist erst von einer Generation zur anderen. Das Fernsehen aber veränderte die Menschen ein und derselben Generation.

Es macht alle Abende gleich. An Sonnabenden und Sonntagen wird sogar noch öfter und noch länger ferngesehen als an einigen anderen Wochentagen. Von je 100 Geräten sind eingeschaltet (erstes oder zweites Programm, Zahlen 1974):

Montags und mittwochs nehmen sich lediglich deshalb mehr Zuschauer als sonst vom Fernsehen frei, weil dann das Programm politisch ist, entweder nur bei der ARD (montags: Magazine »Panorama«, »Monitor«, »Report") oder auf beiden Kanälen (mittwochs: »Im Brennpunkt« und entweder »ZDF-Magazin« oder »Bilanz").

An diesen Wochentagen zeigt sich, daß für politische Sendungen selten mehr als ein Drittel der Zuschauer zu gewinnen ist. Das gilt nicht nur für alle politischen Magazine, sondern erst recht für alle Debatten, von Höfers »Frühschoppen« bis zur Lorenz-Runde »Journalisten fragen -- Politiker antworten«.

Sonst läßt der Bildschirm die meisten vergessen, ob's draußen stürmt oder schneit. Es waren 1974 von je 100 Geräten abends eingeschaltet im

Die Deutschen wurden noch mehr. als sie es früher waren, zu Stubenhockern. Freizeit wird, wie Infratest zahlreiche Untersuchungen resümiert, »wesentlich häufiger zu Hause verbracht. Tätigkeiten, die außer Haus stattfinden, sind reduziert worden«.

Ob am Sonnabendnachmittag die Bundesbürger spazierengehen oder sich mit Freunden treffen, hängt mehr noch als vom Wetter davon ab, ob zum Beispiel der »Blaue Bock« auf dem Programm steht. Ist der Äppelwoi-Singschnack angekündigt, dann sitzt jeder zweite Deutsche auch bei schönstem Wetter in der Stube.

Das Fernsehen macht alle gleich. Männer opfern dem Bildschirm ebensoviel Zeit wie Frauen, sogar mehr als Ehefrauen, die berufstätig sind und abends noch im Haushalt zu tun haben. Nichts ist dran an dem Männer- Märchen, die Hausfrauen gluckten den halben Tag vor der Mattscheibe.

Und bei großen Ereignissen schmelzen sogar die letzten Unterschiede dahin. Im Laufe der Fußball-WM wuchs der Anteil der zuschauenden Frauen, die sonst bei Sportsendungen eine kleine Minderheit sind. Beim Endspiel bildeten sie -- zum erstenmal -- die Mehrheit.

Über Ohnsorg-Klamauk lachen auch die meisten Bayern, über deren Bauerntheater auch die meisten Friesen. Am unterschiedlichsten sind die Präferenzen je nach Alter, aber sogar bei der »Hitparade« ist jeder dritte Deutsche zwischen 30 und 40 Jahren und ist sogar jeder siebente Opa zumeist dabei. Auf die Frage anhand einer Liste, welche Sendungen sie »regelmäßig sehen«, nannten von je 100 Befragten im Alter von

In ihren Fernsehgewohnheiten sind sich auch der Fürsorgeempfänger und der Großverdiener, der frühere Volksschüler ohne Lehre und der Akademiker ähnlicher als in irgendeinem anderen Freizeitverhalten. Zwar begnügt sich der eine häufiger mit den populärsten Sendungen, und der andere sieht auch Kulturmagazine. Aber Unterschiede gibt es nur in der Vorliebe für das eine oder das andere Programm, kaum hinsichtlich des Quantums Fernsehen, mit dem die Deutschen ihre Freizeit füllen. So macht es auch keinen Unterschied, ob ein Ehepaar allein lebt (Seh-Zeit: 121 Minuten werktäglich) oder Kinder zu Hause hat (116 Minuten).

Nicht viel größer sind die Zeitdifferenzen je nach Alter. Es sehen werktäglich fern Bundesbürger

Auch die Schulbildung erhöht oder vermindert den TV-Konsum kaum. Frühere Volksschüler bringen es auf 123, ehemalige Mittel- und Oberschüler nebst Akademikern auf 105 Minuten pro Werktag.

Und bei Show, Quiz und Krimi sitzt das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und Schichten, dem Gott Tele zu Füßen.

In dieser Millionen-Gemeinde gibt es auch Gläubigkeit. Für viele ist allein das Fernsehen die Quelle, die allen die Wahrheit und das Leben bringt.

Mehr als die Hälfte der Bundesbürger ist davon überzeugt, daß »das Fernsehen wahrheitsgetreu berichtet und die Dinge immer so wiedergibt, wie sie in Wirklichkeit sind«. Von der Zeitung meint das nur jeder vierte. Auf die Frage, wem sie bei einander widersprechenden Berichten »voraussichtlich am ehesten glauben würden«, wählten 69 Prozent das Fernsehen, 13 Prozent den Hörfunk und 11 Prozent die Zeitung.

Als Infratest im Abstand von sechs Jahren fragte, ob und wie sehr das Fernsehen bei Totalausfall vermißt würde, entschied sich zunächst ein Drittel für »stark« oder »sehr stark«. Beim zweitenmal waren es zwei Drittel.

Ebenso deutlich fielen die Antworten auf eine fiktive sogenannte Entscheidungsfrage aus: »Angenommen, Sie könnten in Zukunft nur noch eines haben, Radio oder Fernsehen oder Tageszeitung, wofür würden Sie sich entscheiden?«

Ergebnis: 62 Prozent würden sich fürs Fernsehen, 21 Prozent fürs Radio, 15 Prozent für die Zeitung entscheiden. Während die innere Verbundenheit mit dem Medium Fernsehen wuchs, haben sich die äußeren Daten kaum verändert.

Selbst in dem Jahrzehnt, in dem sich die Zahl der Geräte verdoppelte und das zweite sowie das regionale dritte Programm eingeführt worden, erhöhte sich die Sehdauer pro Gerät und Tag nur um 12 Minuten.

Zwei Stunden Fernsehen pro Tag zwischen 19 und 22 Uhr -- das wirkt so, als werde durchweg noch Maß gehalten und viel, aber nicht zuviel ferngesehen.

Aber diese Durchschnittszahl ist nur eine rechnerische Größe. Sie läßt zum einen die Vielfalt deutscher Fernsehgewohnheiten nicht erkennen, zum anderen verdeckt sie sogar, wie sehr eine Minderheit dem Medium bereits verfallen ist.

Denn sieht zum Beispiel jemand nur an zwei Wochentagen je zwei Stunden fern und ein anderer von Dienstag bis Sonntag jeweils vier Stunden, so gleichen sich ihre Zeiten (vier Stunden der eine, 24 Stunden der andere) zum Durchschnitt aus. Doch der eine ist noch enthaltsam, der andere schon süchtig.

An den Tabellen der Einschaltquoten ist abzulesen, daß -- grob gerechnet -- etwa ein Drittel der Zuschauer länger, zum Teil weit länger als zwei Stunden täglich, vor dem Fernsehgerät sitzt. Und auch die Gewohnheiten beim Umgang mit der Rohre zeigen, daß eine so große Minderheit der Deutschen dem elektronischen Medium allzuviel Freizeit und Familienleben opfert.

Sie läßt den Bildschirm nicht nur an keinem Tag, sondern offenbar auch an keiner Nachmittags- oder Abendstunde ganz aus dem Auge. Mehr Fernsehen geht nicht, als es dort gibt.

Es sehen -- wie die SPIEGEL-Umfrage offenbarte -- von je 100 Erwachsenen das Programm (und schalten nicht etwa nach »Tagesschau« und Wetterkarte ab) pro Woche an

Von den anderen haben drei Prozent »keine Gelegenheit, fünf Prozent »kein Interesse«, zwei Prozent gaben keine Auskunft.* Wie jeder dritte

* In den Graphiken sind die Befragten, die keine oder eine »sonstige« Antwort gaben, meistens nicht gesondert ausgewiesen. Die Antworten summieren sich deshalb zum Teil auf weniger als 100 Prozent.

Deutsche zum täglichen Dauerkonsumenten jedweden Programms geworden ist, so hat bei einem weiteren Drittel (mit vier bis sechs TV-Abenden je Woche) das Fernsehen eindeutig Vorrang vor anderen Beschäftigungen. Nur noch von etwa knapp einem Viertel der Bürger (ein bis drei TV-Abende jede Woche) kann man sagen. daß für sie das Fernsehen lediglich eine von mehreren Möglichkeiten ist, den Feierabend zu gestalten.

Und wieder zeigt sich, daß die Deutschen sich in allen Schichten gleichen: Je ein fernsehsüchtiges und fernsehfreudiges Drittel sowie eine kleinere Minderheit, die auf mehr Distanz hält, gibt es nahezu unabhängig von Alter. Beruf, Einkommen und anderen Merkmalen.

In vielen Wohnungen läuft das Gerät auch vor leeren Sesseln. Das ergibt sich aus dem (bislang von niemandem gezogenen) Vergleich zweier Infratest-Untersuchungen, die jüngst kurze Zeit nacheinander gemacht wurden. Sie besagen, daß um 19 Uhr nur 32 Prozent der Bundesbürger ab 14 Jahren vor dem Bildschirm sitzen, zu diesem Zeitpunkt aber bereits 64 Prozent der Geräte eingeschaltet sind. Erklärung des Instituts: Um diese Zeit diene jeder zweite eingeschaltete Apparat entweder als Babysitter für kleinere Kinder, oder aber die Erwachsenen seien so mit anderem beschäftigt, daß sie ihre »Anwesenheit bei laufendem Fernsehapparat nicht als »Sehen' gewertet haben«.

Mancher mag versucht sein, dieses Verhalten als beginnende Distanzierung zum Fernsehgerät zu deuten --

ähnlich wie das Rundfunkgerät an Bedeutung verloren hat, seit es als Unterhaltungsmittel durch die Television ersetzt worden und für die meisten zum Lieferanten von Begleitmusik herabgesunken ist: Wer den Blick vom Bildschirm zu wenden vermöge, stehe doch nicht mehr so in seinem Bann wie der, der sich nichts entgehen lasse.

In Wirklichkeit dürfte es genau umgekehrt sein, denn der Vergleich zwischen Hören und Sehen hinkt schon deshalb, weil vom tönenden Bild eine andere Suggestion ausgeht als vom bildlosen Ton.

Wo das Fernsehgerät bei Beginn des Feierabends ein- und erst beim Abmarsch ins Bett ausgeschaltet wird, hat es eine abendfüllende Funktion bekommen. Die bewegten Bilder laufen zwar auch, wenn niemand zusieht, und der Ton wird auch dann nicht abgedreht, wenn niemand zuhört. Insofern sind die Schirm-Bilder zur bewegten Kulisse geworden. Aber wann immer sich's lohnt (und es lohnt sich eigentlich immer nach landläufiger Ansicht), wird intensiver hingeschaut. Das Fernsehgerät gehört zur Familie, es regiert den Abend. Die Unterhaltung mit Frau und Kind wird zum Pausenfüller und zum Programm-Ersatz oder wird nebenher erledigt, den Bildschirm fest im Blick.

Eine weitere Frage -- ob das Gerät den ganzen Abend läuft oder nur für bestimmte Sendungen eingeschaltet wird -- sollte helfen, den Sachverhalt zu präzisieren. Wieder stößt man auf eine Minderheit von einem Drittel, die zu diesem Freizeitgestalter Nummer eins offenbar die Distanz nicht erhöht, sondern verloren hat. Es erklärten von je 100 Erwachsenen

Nicht den ganzen Abend, wohl aber beim Abendessen fernzusehen, ist schon bei einer größeren Minderheit Brauch geworden. Sie vermag ihr Augenmerk auf Wurstbrot und Weltgeschehen, auf Schwatz der Familie und Show zu verteilen. Von je 100 Befragten haben das Fernsehgerät beim Abendessen

Viele essen nur deshalb ohne fernzusehen, weil es ihnen an Gelegenheit fehlt, beides zugleich zu tun. Das stellte sich heraus, als Emnid danach fragte, »in welchem Raum normalerweise Abendbrot gegessen« werde. Es essen von je 100 Befragten

Das bedeutet, von Ausnahmen abgesehen: Wer im Wohnzimmer ißt, läßt auch das Fernsehen laufen. Locken »Tatort« oder »Dalli -- Dalli«, dann quartieren sich weitere Familien mitsamt Proviant um und essen vor dem Bildschirm und nicht am Küchentisch.

Das Abendessen ist nicht die einzige und nicht einmal die häufigste Beschäftigung neben dem Fernsehen. Als gefragt wurde, »was bei Ihnen im (Wohn)-Zimmer noch alles getan wird, wenn dort das Fernsehgerät eingeschaltet ist« und eine Liste überreicht wurde, sagten von je 100 Befragten außerdem (mehrere Antworten waren möglich)

Nur noch 30 Prozent sehen fern ohne irgendeine dieser Haupt- oder Nebenbeschäftigungen

Vor allem bei den Deutschen, die ihre Freizeit nicht dem Fernsehen opfern wollen, wächst die Erkenntnis, daß der Bildschirm »das Familienleben beeinträchtigt«. Insgesamt 40 Prozent der von Emnid Befragten vertraten diese Ansicht -- eine hohe Zahl angesichts der Tatsache, daß sonst die positiven Ansichten über das Fernsehen überwiegen.

Aus vielen Daten der SPIEGEL-Umfrage und der Infratest/Infratam-Untersuchungen läßt sich der Schluß ziehen, daß die Einstellung zum Abendprogramm zwischen acht und halb zehn anders ist als zu den Bildern, die vorher zwischen fünf und acht Uhr laufen.

Auch nach 20 Uhr gibt es noch Familien, in denen wie am frühen Abend das TV-Gerät mal als tönender Gast die Unterhaltung übernimmt, mal ungenützt vor sich hinflimmert. Aber zwischen acht und halb zehn hat die Fernsehsucht meist andere Symptome. Der Schalter wird häufiger bedient, es wird nach dem jeweils lustigeren oder blutigeren Programm gesucht.

Denn es stimmt zwar, daß der Zuschauer wählerischer geworden ist als früher. ZDF-Programmplaner Alois Schardt etwa rühmt »die größere Auswahlbereitschaft der Bevölkerung. Man hat wieder entdeckt, daß es Umschaltknöpfe gibt«.

Nur wählen bei weitem nicht alle Zuschauer so klug und besonnen, wie Schardt und seinesgleichen es gern glauben machen möchten.

Das zeigt auch die Programmreform vom Oktober 1973, wie sich jetzt -- 16 Monate später -- übersehen läßt. Geändert wurden vor allem die Anfangszeiten. Das ZDF verlegte seine Nachrichtensendung »heute« von 19.45 auf 19 Uhr vor und beginnt seine abendliche Hauptsendung an zwei Wochentagen (dienstags und donnerstags) schon um 19.30 statt um 20.15 Uhr.

Diese Reform führte laut Infratest nicht dazu, daß sich das tägliche Quantum Fernsehen des Bundesbürgers erhöhte. Auch zwischen den beiden Programmen hat sich nicht viel verändert. Infratest-Kommentar: »Es gibt keinen eindeutigen Sieger oder Verlierer, wenn es auch zu bestimmten Sendezeiten zu sehr starken Veränderungen bisheriger Sehgewohnheiten kam.«

Weil aber die Zuschauer unterschiedlich auf die Programmreform reagierten, hatte sie positive wie negative Folgen.

Viele Zuschauer haben tatsächlich gelernt, auf vernünftige Weise zu wählen. Das wirkte sich sogar auf Reihen aus, die schon seit vielen Jahren laufen. Es ist zu Einbrüchen gekommen, wie sie bis dahin nie stattgefunden haben. Das zeigt ein Vergleich der Einschaltquoten für 1974 mit früheren:

Aber es wird auch deutlicher als früher: Ein beträchtlicher Teil der Zuschauer ist so gut wie nie zum Verzicht -- zum Abschalten -- bereit. Solange ihnen nichts anderes geboten wird, sehen sie sich auch Sendungen weiterhin an, die ihnen nicht mehr sonderlich gefallen.

Daß es seit gut einem Jahr mit manchen Reihen stärker bergab geht als früher, liegt vor allem daran, daß die beiden Programme weniger um Kontrast bemüht sind als vielmehr einander Konkurrenz machen. Zimmermanns »Aktenzeichen XY« störten früher die parallel laufenden politischen Reportagen, Dokumentationen und Kulturmagazine nicht. Aber gegen Spielfilme tut sich Zimmermanns Kriminal-Show schwer. Als zum Beispiel »Menschen im Hotel« im Ersten lief, hielt nur noch eine Minderheit bei dem halbamtlichen ZDF-Fahnder aus.

Mehr denn je ist der Erfolg einer Sendung (mißt man ihn an der Einschaltquote) davon abhängig, was das Gegenprogramm bietet. Ganz deutlich zeigt sich dies bei den verschieden hohen Zahlen des »Kommissars«. Je attraktiver das Gegenprogramm ist, um so weniger Bundesbürger bleiben dem farblosen Serien-Beamten treu. Es sahen von je 100 Zuschauern

Allerdings kommt es zu solch erfolgreicher Gegenwirkung nur dann, wenn sich eine Reihe nicht mehr als widerstandsfähig erweist. Daß die ARD-Serie »Tatort« sich besser hält als der triste »Kommissar«, erklärt sich nicht nur daraus, daß ihr zumeist ein esoterisches Programm entgegengesetzt wird: Oper und Schauspiel haben selten Massen anziehen können. Aber auch Rudolf Schock mit »Maske in Blau« vermochte die »Tatort«-Gemeinde kaum zu verkleinern. Es sahen von je 100 Zuschauern

Aber kein Detektiv und kein Sänger, kein Magazin-Moderator und kein Quizmaster kann sich seines Publikums während der Sendung sicher sein. Oft kommen Unruhe und Schaltfreude in den Wohnzimmern auf.

Geht es in beiden Programmen gleichermaßen lustig oder langweilig zu, so schlägt sich dies in Zickzack-Linien nieder, wenn die Einschaltquoten graphisch dargestellt werden: Unzufriedene Zuschauer tasten hin und her nach dem besseren Programm und wechseln erst endgültig über, wenn sie sich überzeugt haben, einen guten Tausch zu machen.

Ist eine Sendung weit attraktiver als die andere, so wird die Graphik zur Treppe: Die Zuschauer, die dem einen Programm weglaufen, strömen dem anderen zu und erhöhen Minute für Minute die Quote.

Aber es gibt noch eine andere Art der Fortbewegung vom einen Programm ins andere. Sie ereignet sich an Tagen wie dem 14. November 1974, als Wim Toelkes »Der große Preis« ab 19.30 Uhr bis 20.45 Uhr im ZDF und der Krimi »Kein Feuer ohne Rauch« (aus der Serie »Sonderdezernat K 1") ab 21.04 bei der ARD liefen. Als der Showmaster abtrat und ein Bericht über die »Aktion Sorgenkind« folgte, wurde jedes zweite deutsche Fernsehgerät umgeschaltet. Es sahen

Immer dann, wenn auf dem einen Kanal eine Show sich dem Ende nähert und auf dem anderen ein Krimi beginnt, eilt das Fernsehvolk an die Knöpfe. Binnen weniger Minuten schwappt das Publikum vom Ersten ins Zweite oder umgekehrt.

Für andere Beschäftigungen als Fernsehen bleibt vielen nur am Wochenende und im Urlaub Zeit. Doch auch wenn ihn der Bildschirm nicht fesselt, verhält sich der Bundesbürger anders, als gemeinhin gemutmaßt wird.

Im nächsten Heft

52 Beschäftigungen auf der Spur -- Emanzipation und Auto -- Radiomusik als Stimulans -- »Trimm Dich": Werbung und Wahrheit -- Tabu-Thema Alkohol -- Wieviel Freude am Sex?

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