NORWEGEN / BRATTELI Feiern oder köpfen
Ein Philosoph mit Volksschulabschluß, der Schumacherssohn und Arbeiterpartei-Chef Trygve Bratteli, 61, regiert seit vorletzter Woche das Königreich Norwegen -- ohne Parlamentsmehrheit und darum vorsichtig.
Von den 150 Sitzen des Stortings hat die sozialdemokratische »Norwegische Arbeiterpartei« 74, die vier Bürger-Fraktionen belegen 76. Bratteli konnte auch nur Premier werden, weil sein Vorgänger Per Borten (Zentrumspartei) den Bürgerblock sprengte. Borten hatte den auch mit seiner Stimme gefaßten Kabinettsbeschluß für den EWG-Beitritt Norwegens insgeheim sabotiert. Als er dabei ein vertrauliches Staatsdokument unter die Leute brachte, wählten ihn seine drei Koalitionspartner ab (SPIEGEL 12/1971).
Einen parteifremden Block-Bruder als Premier wollte die Borten-Partei nicht hinnehmen. Lieber ließ sie die Koalition platzen und wurde zum Steigbügelhalter des Arbeiterführers.
Schon seit 1965 hatte Bratteli -- vergebens -- versucht, aus eigener Kraft in den Sattel zu steigen, in dem bis dahin 30 Jahre lang nur Sozialdemokraten gesessen hatten. Damals löste Bratteli den Arbeiter-Premler Einar Gerhardsen im Parteivorsitz ab. Aber gleich seine erste Reichstagswahl (1965) verlor er an den Bürgerverein, der mit 80 Mandaten die absolute Mehrheit gewann.
Der Borten-Block gewann auch die 1969er Wahlen -- mit nur noch zwei Sitzen Mehrheit. Weil Norwegens Reichstage für vier Jahre unauflöslich sind, wäre Bratteli allenfalls 1973 Premier geworden, hätte nicht Borten das eigene Kabinett -- so »Dagens Nyheter« (Stockholm) -- »betrogen«. Nun konnte Bratteli lachen, was er so selten tut, daß Norwegens Zeitungen es jedesmal meldenswert finden. Meist ist der asketisch, auf Außenstehende zunächst auch langweilig wirkende Mann nachdenklich-ernst. Sein Spitzname: »die Sphinx«.
Bratteli, Jahrgang 1910, hatte auch lange Jahre nichts zu lachen. Mit 14 war er Laufjunge, später Speck-Zuschneider auf einer antarktischen Walkocherei und Bauarbeiter. Wann immer er Zeit fand, stockte er sein Volksschulwissen auf.
1934 avancierte er zum Redakteur des Parteiblatts »Freiheit des Volkes« in der Eismeerstadt Kirkenes. Als Generalsekretär des sozialdemokratischen Jugendverbands wurde er 1942 von der Gestapo verhaftet. Aus dem KZ kehrte er 1945 mit 47 Kilogramm Körpergewicht heim und wurde stellvertretender Parteivorsitzer.
Vor dem Krieg hatte Bratteli in »Freiheit des Volkes« und der »Arbeiter-Jugend« scharfe Klassenkampf. Artikel geschrieben. Etwa gegen Norwegens »Offiziers-Clique"« die junge Menschen zu »gehorsamen Sklaven einer verlebten Kapitalistenklasse« mache (1935).
Nachher war er einer jener Politiker, die Skandinaviens Arbeiterparteien von orthodox-marxistischen Vollbärten befreiten. Bratteli 1962: »In alten Schriften werden wir die Lösung unserer neuen Probleme nicht finden.«
Seit 1951 war der Autodidakt in mehreren Kabinetten Minister, bis Premier Gerhardsen seinen Kronprinzen als Fraktionschef aufs Parkett des Stortings schickte.
Aus »wirtschaftlichen, besonders aber aus politischen und kulturellen Gründen« wünscht Bratteli westeuropäische Zusammenarbeit. Norwegen müsse in der Nato bleiben und dem Gemeinsamen Markt beitreten. Um ihn abzutasten, reiste er letztes Jahr zu Willy Brandt und anderen Parteifreunden der EWG-Länder. Und um ihn schmackhaft zu machen, will er sein Volk jetzt »allseitig und zuverlässig« informieren.
Vorgänger Borten hatte die »Volksbewegung gegen norwegischen EWG-Beitritt« widerspruchslos agitieren lassen, deren Hauptslogan die erste Strophe der norwegischen Nationalhymne -- mit ausgetauschtem Verb -- ist: »Ja, wir verkaufen (Originaltext: lieben) dieses Land.«
Bis der Lückenbüßer-Premier Norwegens EWG-Beitritt zu Ende verhandelt hat, wird er kaum gestürzt werden. Sein Kabinett will sich hüten, im Storting »einen demonstrativen Tod« zu suchen, sondern für die Wahl 1973 Punkte sammeln. Aber ob er die Erwartungen etwa der Gewerkschaften durchsetzen kann, ist fraglich. Und seine Jusos sind gleichfalls Europa-Markt-Verächter.
Bratteli weiß, was ihm 1973 drohen kann. In einem Interview mit Oslos »Aftenposten« verglich er seinen Job mit dem der norwegischen Sagen-Könige: »Sie wurden nach guten Ernten gefeiert, nach schlechten geköpft.«