NOBELPREIS Feig und faul
Eigentlich sollte Heiner Geißler nur ein Grußwort sprechen. Doch dann wärmte sich der CDU-Generalsekretär, vor 430 Parteifreunden im rheinlandpfälzischen Rockenhausen, schon mal für den Bundestagswahlkampf auf.
Er eiferte gegen die Sicherheitspolitik der SPD, klagte dem CDU-Landesparteitag vorletztes Wochenende sein Leid über eine »Verwirrung der Begriffe und eine Desorientierung der Werte« besonders hierzulande, aber auch im Westen überhaupt. Da würden, ganz irrational, Kriegsängste geschürt und Menschenrechtsverletzungen in kommunistischen Ländern tabuisiert.
So schlimm sei es schon geworden, daß ausgerechnet die Vereinigung »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges« dieses Jahr den Nobelpreis zugesprochen bekomme. Da sitze doch jener Doktor Jewgenij Tschasow im Vorstand, der sich selbst »maßgeblich« an der Verfolgung eines anderen Friedensnobelpreisträgers beteiligt habe: des prominentesten sowjetischen Dissidenten Andrej Sacharow. Der CDU-Generalsekretär: »Eine Schande.«
Geißler, des Kanzlers Kettenhund, ist wieder los. Friedensärzte und Friedenspreisverleiher, Sozis und Sowjets werden als Weltverschwörer gegen das christliche Abendland verbellt. Wahlkampfmotto diesmal: Frieden statt Sozialismus.
Die Provinzdelegierten ließen sich von ihrer eigenen Begeisterung davontragen. Geleitet vom Mainzer Landesvater Bernhard Vogel, billigten sie einstimmig Geißlers Plan, beim Osloer Nobelpreiskomitee »im Namen der CDU« zu protestieren.
Dabei steckt in Geißlers Behauptungen, wie so oft, nur wenig Wahrheit.
Jewgenij Tschasow, 56, wenigstens soweit hat der Christdemokrat recht, ist alles andere als ein Dissident. Der Leibmedikus der KPdSU-Chefs Leonid Breschnew, Jurij Andropow und Konstantin Tschernenko ist Lenin-Preisträger, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Vizeminister für Gesundheitswesen, Abgeordneter des Obersten Sowjets und sogar Mitglied des Zentralkomitees. Als Ko-Präsident des geehrten Vereins, der in 41 Ländern rund 145 000 Ärzte hinter sich geschart hat, soll er am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, den Preis entgegennehmen - zusammen mit dem Amerikaner Bernard Lown.
Seinen Protest gegen den Atomkrieg konnte der Sowjetprominente Tschasow natürlich nur verhalten formulieren. »Einige Militärs und Funktionäre versuchen, die Risiken eines nuklearen Weltkrieges zu verdrängen« - das war das Äußerste, was er 1981, auch an die Adresse seiner eigenen Regierung, im amerikanischen Warrenton (Virginia) zu sagen wagte. Und er mußte auch die landesüblichen Konzessionen machen.
Als der Atomphysiker Andrej Sacharow 1973 dem Westen riet, Entspannungspolitik an eine Demokratisierung der Sowjet-Union zu knüpfen, unterschrieb Tschasow mit 24 Kollegen eine Erklärung: »Wir sowjetischen Mediziner fühlen uns beleidigt durch das Verhalten des Akademie-Mitglieds A. D. Sacharow.« Der Dissident, der als erster Sowjetbürger öffentlich einen Atomtest-Stopp gefordert hatte, bringe »unser gesellschaftliches System in Verruf«, entstelle die sowjetische Wirklichkeit und richte sich »gegen die Friedenspolitik der Sowjet-Union«.
Danach erst stieg Tschasow auf, danach auch erst empfing Sacharow den Friedensnobelpreis - und wurde 1980 verbannt.
Seit 1973 ist Tschasow nicht mehr gegen Sacharow aufgetreten: Weder 1975, als 72 sowjetische Gelehrte den Atomphysiker angriffen, noch 1980 und 1982, als das Präsidium der Akademie der Wissenschaften sowie 21 Sowjetwissenschaftler Sacharow kritisierten.
Geißler dagegen verbreitet, Tschasow habe »in vielfacher Weise gegen die Menschenrechte in seinem eigenen Land Stellung genommen«. Und beflissene CDU-Helfer streuten in Bonn hilfsweise auch noch die Version, der Ärzte-Verein sei sowieso sowjetisch gesteuert - ähnlich wie angeblich der »Weltfriedensrat« und die »Weltföderation der Wissenschaftler«.
Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter, Vorstandsmitglied der deutschen Sektion, sieht darin eine »sorgfältig vorbereitete Diffamierungskampagne«. Er räumte zwar ein, daß einige osteuropäische Mitglieder »total ideologisch fixiert« seien und »als Delegierte nur die Politik ihrer Regierung vertreten«. Doch seit Jahren widerstehe die übergroße Mehrheit »allen Versuchen von außen, irgendwelchen politischen Einfluß auf unsere Bewegung zu nehmen«.
So auch Tschasow. In Warrenton mahnte er, den ärztlichen Friedensappell ans Weltgewissen ja nicht durch politische Statements zu gefährden: »Das wäre das Ende der Bewegung.«
Christdemokrat Geißler jedoch ließ sich nicht eines Besseren belehren. Dem vom norwegischen Parlament gewählten Nobelkomitee, das vor der Ehrung seine Preisträger zwei Jahre lang gründlich unter die Lupe nimmt, zeigte er letzte Woche die vielfältigen Funktionen Tschasows an und lamentierte bei der Gelegenheit gleich auch noch über die »Feigheit, Faulheit und moralische Dekadenz der westlichen Welt bei der Vertretung der Menschenrechte gegenüber einer Supermacht«.
Die Jury freilich, die sich traditionell nicht über ihre Preisentscheidungen äußert, blieb bisher unbeeindruckt. Und der CDU-Generalsekretär hat schon öffentlich einen Vorschlag für die nächste Ehrung unterbreitet: Da der Frieden allein auf der Verteidigungsfähigkeit der Länder des Westens beruhe, müßten Bundeswehr und Nato den Nobelpreis erhalten.