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Richter Feldpost 168 34 S

Der West-Berliner Landgerichtsdirektor Hans Heinsen hat die Justizbehörden, wie SPIEGEL-Recherchen ergaben, über Einzelheiten seiner NS-Vergangenheit getäuscht.
aus DER SPIEGEL 11/1972

Zweimal fühlte sich Hans Heinsen, 64, Bauernsohn aus dem Niedersächsischen, zum Richteramt auf Lebenszeit berufen.

Das erstemal, 1934, begann der promovierte Jurist die Justizlaufbahn als Hilfsrichter bei einem Amtsgericht. Er befaßte sich mit »Zwangsvollstreckung, Nachlaß- und Konkursakten«, doch die ihm »zugewiesenen Sachgebiete« empfand Heinsen damals als »außerordentlich trocken«; er ging nach einem Jahr zur Gendarmerie.

Das zweitemal, 1951, stellte er sich der Justiz in West-Berlin zur Verfügung und brachte es in 21 Jahren bis zum Landgerichtsdirektor. Ihm galt ein Pulversatz, von Linksanarchisten vor seiner Wohnung deponiert, der wirkungslos verpuffte. Und Heinsen bestätigte in zweiter Instanz die zehnmonatige Freiheitsstrafe gegen den Kommunarden Karl-Heinz Pawla, der im Gerichtssaal Fäkalien abgelassen hatte. »Der Heinsen«, so hieß es dann mitunter im Amt, »ist schon mit ganz anderem fertig geworden.«

Doch nun, wenige Monate vor seiner Pensionierung, scheint nicht ausgeschlossen, daß der Richter -- derzeit nach Angaben der Justizverwaltung zu Hause an einem »Ohrenleiden« laborierend -- wegen seiner Vorkriegskarriere die Nachkriegskarriere vorzeitig beenden muß.

Ins »Zwielicht der Vergangenheit« ("Der Tagesspiegel") geriet Heinsen durch Vorwürfe des West-Berliners Willi Weber. Der NS-Verfolgte beschuldigte den Richter, in Nazi-Diensten französische Juden in den Tod getrieben oder aber ihre Deportation ins KZ betrieben zu haben. Heinsen soll Mitarbeiter des Eichmann-Referats IV B 4, Berlin, Kurfürstenstraße 116, und als solcher mitbeauftragt gewesen sein, »Paris und Frankreich judenrein zu machen« -- so Weber in einer Strafanzeige.

Doch obwohl West-Berlins Justizverwaltung Webers Enthüllungen (Textprobe: »Der Henker von Paris") seit Monaten kennt; obwohl die für NS-Delikte in Frankreich zuständige Kölner Staatsanwaltschaft »gegenwärtig nicht die geringsten Anhaltspunkte für Heinsens Beteiligung« an »irgendeinem Verbrechen, hat (so West-Berlins SPD-Justizsenator Horst Korber); obwohl schließlich selbst französische Widerstandskreise eine Namensverwechslung nicht »ausschließen, erhebt Weber Vorwürfe über Vorwürfe. Gerichtlich bisher unbeanstandet, behauptet er, daß Heinsen »am Tod von mindestens 50 000 französischen Juden entweder direkt beteiligt, zumindest aber über deren Schicksal genauestens unterrichtet war

Heinsen selber ließ seine Dienstherren wissen, er lehne zu den Vorwürfen »öffentliche Stellungnahmen generell ab«, weil er sich unschuldig fühle. Und auch Korbers Amt tut sich mit Klagen schwer: Anzeigen-Erstatter Weber leide wohl ein wenig, so interpretiert ein Mitarbeiter die Stimmung des Hauses, »unter psychischen Regelwidrigkeiten auf Grund seiner Verfolgung.

Der wahre Grund für die Zurückhaltung freilich dürfte das Unbehagen über Heinsen selber sein: Der Richter wurde zwar einmal, 1950, rechtskräftig von einem Entnazifizierungsausschuß in die Gruppe der Unbelasteten eingestuft. Als ihn 1953 aber der West-Berliner Richterwahlausschuß nach zweijährigem Dienst auf Zeit in sein Lebensamt zu berufen hatte, tat er es »trotz gewisser Widersprüche« und »verbleibender Zweifel des damaligen Justizsenators« (so Korbers Personalreferent Herzig).

Die Widersprüche ergaben sich damals aus der Diskrepanz zwischen Selbstauskünften Heinsens und dem Aktenmaterial aus dem Document Center (der mit rund 25 Millionen NS-Akten bestückten Archivsammlung, die von der Berliner US-Mission verwaltet wird).

So hatte Heinsen behauptet, daß er »niemals Mitglied der NSDAP« oder »einer ihrer Gliederungen« gewesen sei. Das 1953 gesichtete Dokumentenmaterial hingegen weist Heinsen als Parteigenassen aus (bis zur 1931 vollzogenen Streichung der Mitgliedschaft wegen Nichtfeststellung des Wohnsitzes). Mitgliedsnummer bis dahin: 3120551; Eintrittsdatum: 1. Mai 1933. Daß er PG sei, so wußte Heinsen Fragesteller zu überzeugen, habe er nicht gewußt. Vielleicht sei die Aufnahme in die NSDAP zu Referendarzeiten und »ohne eigene Willenserklärung« pauschal erfolgt.

Einen von Heinsen selber unterschriebenen Antrag, in »dem er sich dem SA-Sturm 6/7 10 in Goslar (vom 1. 3. 1933 bis zum 31. 1. 1935) zurechnet, begründete Heinsen dem Wahlausschuß gegenüber freilich anders: Das habe er zu NS-Zeiten »der Wahrheit zuwider« nur angegeben, um wenigstens »eine Mitgliedschaft vorzuweisen

Angehöriger der Schutzstaffel Heinrich Himmlers -- dies ein weiterer Befragungspunkt -- sei er ebenfalls nie gewesen. Vielmehr habe er als späterer Gendarmerieführer (Dienstherr ebenfalls SS-Chef Himmler) lediglich einen »entsprechenden SS-Angleichungsdienstgrad« erhalten.

SPIEGEL-Recherchen hingegen ergaben letzte Woche, daß Dokumente die SS-Mitgliedschaft Heinsens belegen -- er selber streitet sie ab.

So stellte Heinsen am 19. Juli 1938 einen »Antrag um Aufnahme« in die SS, der von seinen Vorgesetzten zwei Tage später »an die SS-Personalkanzlei befürwortend« übersandt wurde. Die Kanzlei-Herren baten denn auch den Aspiranten, Personalpapiere -- in denen er sich unter anderem durch Unterschrift verpflichtete, »die Bewegung mit allen Kräften zu fördern« -- wie auch einen Lebenslauf mit drei Lichtbildern nachzureichen. Das geschah.

»Der Hauptmann der Gendarmerie Dr. Hans Heinsen«, so meldete am 17. Februar 1939 die Abteilung P 11 der Personalkanzlei des Reichsführers den Erfolg, »wurde mit der SS-Nummer 313914 und mit Wirkung vom 9. 11. 1938 als SS-Mann in die Schutzstaffel aufgenommen und zum SS-Hauptsturmführer befördert unter gleichzeitiger Ernennung zum SS-Führer beim Stab des SS-Hauptamtes.« Heinsen stand danach das Recht zu, »Sig-Runen« an der Uniform der Ordnungspolizei zu tragen.

Dann, in den Kriegsjahren 1942/43, diente der derart doppelt Dekorierte tatsächlich in Frankreich -- unter der Feldpostnummer 168 34 S -- als »Befehlshaber der Ordnungspolizei im Bereich des Militärbefehlshabers Frankreich, Außenstelle Poitiers«. Und im Sommer 1943, als er Unter Feldpostnummer 144 13 Kein »Einsatzkommando der Ordnungspolizei Toulouse« übernommen hatte, war es das SS-Personalamt, dem er »die ... im Staatskrankenhaus in Berlin erfolgte Geburt einer Tochter«, dem »dritten Kind und zweiten Kriegskind«, meldete.

Auch die von Richter Heinsen erwähnte Dienstgradangleichung fand in jener Zeit statt. Nach seiner Beförderung zum Major der Gendarmerie ließ Heinrich Himmler am 21. Januar 1942 wissen, daß Heinsen »in Angleichung an den Polizeidienstgrad« rückwirkend »zum SS-Sturmbannführer« ernannt worden sei. Garniert »war diese frohe Botschaft mit der späteren Verleihung des SS-Ehrendegens und Totenkopf rings -Präsente für treue Dienste.

Und auch später kümmerte sich der Reichsführer persönlich um den Bauernsproß. Ende 1943 nämlich, nach Heinsens Delegierung zu einer Waffenschule bei Dresden, sah sich ein 55- und Polizeigericht in Dresden genötigt, den Offizier »wegen unerlaubter Entfernung« und »militärischen Ungehorsams« zu einer »Gefängnisstrafe von neun Monaten »und Ausschluß aus der SS« zu verurteilen. Ein Heinsen-Bekannter zum SPIEGEL: »Da ging es um Amouren mit einer Französin.« Doch dieses Urteil trat so, dank Himmler, nicht in Kraft.

Denn von seiner Feldkammandostelle aus verfügte »der Gerichtsherr« höchstpersönlich, daß die Strafe auf sechs Monate zu reduzieren sei und »die erkannte Ehrenstrafe des Ausschlusses aus der SS in Wegfall kommt«. Dem Verurteilten werde, so Himmler, »sofort Gelegenheit zur Bewährung gegeben« -- laut Aktenvermerk in der »SS-Sturmbrigade Dirlewanger«.

Himmlers Gnadenerweis nach solch menschlichen Feindkontakten hingegen vermochte Heinsen Jahre später, als er schon Richter in Berlin war, nicht mehr nachzuvollziehen. Dort hatte, im Jahre 1952, der NS-Verfolgte Dietrich Derz aus Entschädigungs-Gründen um die gerichtliche Aufhebung eines Feldurteils aus dem Jahre 1941 (zehn Monate Gefängnis) nachgesucht -- vergebens.

Der Ablehnungsbeschluß, der die Militärgerichtsentscheidung nachträglich bestätigte und auch Richter Heinsens Unterschrift trägt, wird vor allem damit begründet, daß der Antragsteller in Kriegszeiten entgegen entsprechender Befehle »in der Gesellschaft russischer Zivilisten angetroffen wurde«. Das Delikt: Derz hatte nach eigener. Darstellung »einem älteren russischen Ehepaar mehrmals Lebensmittel gegeben« und sich »mit ihm unterhalten«.

Daß Heinsen indes Jahre später als Vorsitzender eines Schwurgerichts wegen Doppelmordes gegen Derz zu Gericht saß (Indizien-Urteil: lebenslange Haft), war ein Zufall, den freilich letzte Woche die Berliner Sektion der Liga für Menschenrechte zum Anlaß nahm, Heinsen nachträglich als »befangen« zu bezeichnen und überdies seine Beurlaubung zu fordern,

Berlins Justizsenator Korber hat diese Vorwürfe einstweilen zurückgewiesen. Bezüglich der Vergangenheit Heinsens hingegen hat er, wie er dem SPIEGEL mitteilte, »ein großes Interesse daran, allen Hinweisen, die etwas Neues ergeben könnten«, nachzugehen.

Freilich, auch für die Mutmaßurig, Heinsen habe sich lediglich als opportunistischer Karrierist durch die NS-Zeit laviert, gibt es Indizien. In seinem Lebenslauf für die SS formulierte Heinsen beispielsweise 1938 unbefangen: »Politisch habe ich mich vor 1933 nicht betätigt. Es liegt das in meiner ganzen Erziehung begründet. Wer aus bäuerlichen Verhältnissen stammt, wird sich -- abgesehen von seinem Beruf -- Zeit seines Lebens für landwirtschaftliche Dinge interessieren.«

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