Fenster zur Welt
Der Ground Zero ist ein Loch, das von Tag zu Tag unergründlicher wird. Jede Idee für ein Mahnmal, jeder Entwurf, jeder Architekt scheint von diesem Loch geschluckt zu werden. Das Loch scheint nicht füllbar. Die New Yorker gehen an der leeren Stelle im Herzen ihrer Stadt inzwischen vorbei, wie die Berliner in den vergangenen zehn Jahren am Palast der Republik vorbeigingen. Gedankenlos. Mit der Zeit vergisst man, worum es ursprünglich ging. Nur noch Touristen stehen am Zaun und schauen ehrfürchtig in die Grube.
Ein paar Meilen weiter nördlich aber ist in der vorigen Woche ein Gedenkplatz entstanden, der zeigen kann, wie man mit großen historischen Einschlägen umgeht. In der Lafayette Street Nummer 417 machte das Restaurant »Colors« auf, das von »Windows on the World«-Mitarbeitern betrieben wird, die den 11. September überlebt haben.
»Windows on the World« war das Restaurant auf der Spitze des Nordturms des World Trade Center, 73 der dort Beschäftigten starben hier. Kellner, Köche, Bartender, Hilfskräfte, die Frühschicht. Die Spätschicht blieb übrig, das Personal für ein halbes Restaurant, das es nicht mehr gibt.
Sie haben in den letzten Jahren eine Kooperative gegründet, Geld gesammelt und sich ein neues Restaurant gebaut.
»Colors« ist die erste Restaurantkooperative New Yorks, aber man merkt es nicht gleich. Es liegt gut, in NoHo, der längst wieder schicken Gegend North of Houston Street, neben dem Public Theater, ein gestreckter, sanft beleuchteter Raum mit einer langen Bar und weißgedeckten Tischen. An den Wänden des Art-déco-Saals sieht man eine stilisierte Weltkarte, in der Speisekarte findet man gedämpfte Jakobsmuscheln für 27 Dollar, das Steak kostet 28 und der kongolesische Seafood-Teller 33 Dollar.
Es scheint allerdings mehr Beschäftigte zu geben als in anderen New Yorker Restaurants, und sie sehen auch ein bisschen anders aus. An der Tür steht eine uralte schwarze Empfangsdame, in der Garderobe kämpfen zwei mittelalte kleine Männer mit den Mänteln, und meine Bestellung nimmt ein Mexikaner entgegen, der in anderen New Yorker Restaurants dieser Preisklasse normalerweise nur das Wasser bringt, wenn er nicht ganz in der Küche versteckt wird. Er spricht noch ein bisschen leise. Im »Colors« verdient er genauso viel wie der Chefkellner Magdi Labib, der sich elegant durch den Raum bewegt. Das ist die Idee. Eine der Ideen.
Chefkellner Magdi Labib ist 51, er wurde in Kairo geboren und kam mit 17 Jahren nach Amerika. Er arbeitete sich durch die New Yorker Restaurants und schaffte es 1996 ganz nach oben. Er wurde Chefkellner von »Windows on the World«. Labib verdiente weit mehr als 100 000 Dollar im Jahr. Am 11. September 2001 hatte er Spätschicht. Die begann um 16.30 Uhr nachmittags. Er fuhr gar nicht erst los. Labib blieb ein Jahr zu Hause. Er setzte sich vor den Fernseher, weinte um seine Freunde und Kollegen und soff.
Ein Jahr lang weinte er, trank und sah fern. Dann fing er in einem Steakhouse in Midtown wieder an zu kellnern und entwickelte zusammen mit der gemeinnützigen Organisation Restaurant Opportunities Center (ROC), die die Gastronomiearbeiter New Yorks unterstützt, die Idee für »Colors«. Das Restaurant sollte nicht nur an den 11. September erinnern, es sollte auch ein gerechter Arbeitsplatz für die unterbezahlten New Yorker Gastronomiebeschäftigten sein.
Das war eine ganze Menge und eine Zeit lang sah es so aus, als würde »Colors« unter der symbolischen Last zusammenbrechen. Die Mitglieder der Kooperative stritten über die Preisklasse ihres Restaurants, über die Lage und darüber, wie man ihre toten Kollegen im Gastraum würdigen kann. Es ist nicht einfach, auf den 11. September zu reagieren. Es ist auch nicht einfach, zu teilen. Magdi Labib wird bei »Colors« nicht mal die Hälfte von dem verdienen, was er in anderen Restaurants verdienen könnte. Aber er will es so. Er will, dass »Colors« nur der Beginn ist. Er will, dass es bald viele New Yorker Restaurants gibt, die ihren Beschäftigten gehören.
Im vorigen Jahr bildete er seine Kollegen in einem Schulungszentrum des ROC aus und sammelte zusammen mit dem Center die 2,2 Millionen Dollar, die man braucht, um ein gutes Restaurant in Manhattan zu eröffnen. 500 000 Dollar kommen von einer italienischen Kooperative, der Rest von verschiedenen privaten Investoren. Sie fanden den Platz in NoHo und richteten ihn ein, jeder der 50 Beschäftigten arbeitete 100 Stunden unbezahlt, die Eröffnung von »Colors« wurde immer wieder verschoben.
Jetzt ist es da. Ein Statement, zunächst. Es ist voll, aber die Gäste sehen noch aus wie Demonstranten. Eher gutwillig als hungrig. Ein Vertreter der italienischen Bruderkooperative ist hier, und zwischen Tischen springt eine junge engagierte Anwältin der Organisation ROC hin und her und erzählt mit leuchtenden Augen davon, wie die »Colors«-Idee New York erfassen wird.
Die Ausbeutung muss aufhören. Alle sind gleich. Menschen aus 22 verschiedenen Ländern arbeiten hier, jeder hat sein Lieblingsgericht beigesteuert. Ist das nicht eine wunderbare Schlussfolgerung aus dem 11. September? Sicher. In New York aber überlebt man nicht als Denkmal, »Colors« schafft es nur, wenn das Essen gut ist. Es ist gut. Es gibt Ziegencurry, Seebarsch, Tofu, Kürbisrisotto, Steak und Käsekuchen. Die Karte mischt Amerika mit der Welt. Das ist die Idee, vielleicht die wichtigste.
Es gibt keinen Erinnerungsschrein für die 73 ums Leben gekommenen Köche und Kellner des World Trade Center. Sie haben bis zum Schluss darüber geredet, sagt Chefkellner Labib, sich aber dagegen entschieden. Ihr Restaurant soll das Leben feiern. Sie tragen die toten Kollegen vom »Windows on the World« im Herzen, sagt er.
»Colors« will nicht zurückschlagen wie die Planer des Ground Zero. Das Restaurant liegt im Erdgeschoss und hat kein einziges Fenster. ALEXANDER OSANG