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Artikel 30 / 90

NIEDERSACHSEN Fern vom Gesetz

aus DER SPIEGEL 17/1965

Der Heilige Stuhl korrigierte sich. Er änderte in seinem Konkordat mit dem Land Niedersachsen einen Passus, den er zuvor mit Mühe gegenüber seinem weltlichen Partner durchgesetzt hatte.

Der Vertrag war zu dieser Zeit schon von Papst Paul VI. gebilligt und von den Unterhändlern, dem Apostolischen Nuntius Corrado Bafile (Bad Godesberg) und dem Kultusminister Hans Mühlenfeld (Hannover), unterzeichnet ("paraphiert") worden. Der Text wurde trotzdem noch geändert.

Dann erst signierte Bafile den Vertrag zum zweiten Male, nun in feierlicher Sitzung gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Georg Diederichs.

Den Abgeordneten des Niedersächsischen Landtags liegt in dieser Woche zu Hannover an der Leine das Konkordat zur ersten Lesung vor; sie erfuhren bislang nicht, daß der Text nicht mehr ganz der alte ist.

Die Parlamentarier wissen nur, daß sie die jetzige Fassung lediglich annehmen oder ablehnen können. Ändern darf der Landtag den Entwurf nicht mehr, auch wenn den Parlamentariern an der Leine die im Verkehr zwischen Nuntiatur und Kultusministerium »SPIEGEL-Änderung« genannte Korrektur an der heikelsten Stelle des Konkordats nicht ausreichend erscheinen sollte.

Der SPIEGEL hatte (in Nr. 8/1965) eine Vereinbarung im »abschließenden Sitzungsprotokoll« bekanntgemacht: Schulen, an denen mehr als 80 Prozent der Kinder katholisch sind, sollen künftig nur noch de jure christliche Gemeinschafts-, de facto aber katholische Konfessionsschulen sein. Eine der Folgen: Auch die evangelische Kinder-Minderheit an diesen Schulen kann künftig gezwungen werden, katholische Schulbücher zu benutzen.

Und eine weitere, ebenso brisante Neuerung: »Die Pflege katholischen religiösen Brauchtums« an solchen Schulen sei künftig frei; einzige Einschränkung: Es dürften »die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden«.

In der Apostolischen Nuntiatur zu Bad Godesberg war nicht unbekannt, wie allergisch die Öffentlichkeit sogar im katholischen Bayern 1964 reagiert hatte, als dort ein spezielles katholisches Lesebuch eingeführt wurde (SPIEGEL 23/1964). An einer ähnlichen Affäre sollte das Konkordat mit dem überwiegend evangelisch besiedelten Niedersachsen nicht scheitern.

Nuntius Bafile glaubte allerdings, eine gefälligere Formulierung, die in der Sache nichts ändert, werde genügen:

-Nach der ersten Fassung durften nur durch religiöses Brauchtum »die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt« werden. Nun bezieht sich die »gebührende Rücksichtnahme auf die Empfindungen Andersdenkender« auch auf die Wahl der Lehrbücher.

- Weitere neue Einschränkung: Katholische Bücher dürfen nur »aus der Liste der zugelassenen Schulbücher« gewählt werden.

Doch Bafiles neue und alte Einschränkungen sind in Niedersachsen bereits seit langem für alle Schulen geltendes Recht. Auch an katholischen Konfessionsschulen mit ausschließlich katholischer Schülerschaft dürfen nur diejenigen katholischen Bücher benutzt werden, die laut Liste des Ministeriums zugelassen sind. Und für alle Schulen Niedersachsens gilt ohnehin Paragraph 2 des Schulgesetzes: »... In Erziehung und Unterricht ist auf die Empfindungen Andersdenkender Rücksicht zu nehmen.«

Bafile und Mühlenfeld waren ursprünglich übereingekommen, das niedersächsische Parlament über das Schlußprotokoll mit seinen prokatholischen Buch- und Brauchtums-Klauseln frühestens nach der ersten Lesung und der grundsätzlichen Billigung des Konkordats zu informieren. Es wurde sogar erwogen, das Schlußprotokoll dem Landtag überhaupt nicht vorzulegen und nur die Fraktionsvorsitzenden diskret zu unterrichten.

Dabei enthält dieses Schlußprotokoll mit seiner 20-Prozent-Rechnung den gravierendsten Verstoß gegen das Prinzip der christlichen Gemeinschaftsschule, das 1954 im niedersächsischen Schulgesetz verwirklicht wurde.

Das Gesetz löste damals den bis heute stürmischsten bundesdeutschen Schul-Kampf aus: Zehntausende von Katholiken marschierten zu Kundgebungen auf und forderten mehr Rechte für katholische Konfessionsschulen.

Um Frieden mit der katholischen Kirche zu schließen, ließen sich die Niedersachsen auf Verhandlungen mit dem Vatikan ein. Zunächst ging es um einen Vertrag, dann einigte man sich auf ein unkündbares Konkordat und schließlich auch noch auf eine Revision des Schulgesetzes.

Bis 1954 hatte es in Niedersachsen zahlreiche katholische und evangelische Konfessionsschulen gegeben, die als einzige Schulen am Orte auch von andersgläubigen Minderheiten besucht werden mußten.

Katholischen Lehrern, die an solchen Schulen auch evangelische Kinder unterrichteten, stand es frei, in welchem Maße sie die Leitsätze ihrer Kirche für die Tätigkeit an Konfessionsschulen beachteten.

Nach den Richtlinien der deutschen katholischen Bischöfe ist die Aufgabe der katholischen Erziehung ah diesen Schulen »nicht in den Religionsstunden allein zu lösen. Auch alle anderen Fächer haben wichtige Aufgaben im Dienste der religiösen Erziehung zu erfüllen«.

Überdies böten an den Konfessionsschulen »der Gesamtunterricht und das ganze Schulleben... vielfach Möglichkeiten zu religiöser Betrachtung und Besinnung«. Als Beispiele für katholisches Brauchtum, das an den Schulen gepflegt werden solle, nannten die Bischöfe unter anderem: »Schulgebet und -gottesdienst, Segnung der Schüler bei Schulaufnahme und Entlassung ... Reisesegen zum Ferienanfang, Ausdruck des kirchlichen Festgedankens in Spiel und Feier, Namenstagsfeier als Heiligengedächtnis.«

Zahlreiche niedersächsische katholische Lehrer an katholischen, Schulen mit evangelischen Minderheiten waren tolerant genug, diese kirchlichen Richtlinien für staatliche katholische Schulen nur in geringem Maße anzuwenden.

Daß aber überhaupt nichtkatholische Kinder an solchen Schulen, wenn sie die einzigen Schulen am Ort sind, gegen den Willen ihrer Eltern mehr oder minder katholisch (oder umgekehrt katholische Kinder in evangelischen Schulen evangelisch) erzogen und an fremde religiöse Sitten gewöhnt werden, gefährdet nach Ansicht angesehener deutscher Rechtsgelehrter die Glaubensfreiheit:

- Erwin Stein, Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe: »Der gegen den Willen bekenntnisfremder Eltern staatlich erzwungene Besuch einer Bekenntnisschule durch ihre Kinder (muß) die Glaubens- und Gewissensfreiheit beeinträchtigen.«

- Herbert Krüger, Professor für öffentliches Recht an der Universität Hamburg: »Schulzwang und Bekenntnisschule schließen sich aus.«

1954 zog man in Niedersachsen die Konsequenzen: Durch das neue Schulgesetz wurden alle Konfessionsschulen, soweit sie einzige Schulen am Orte waren, christliche Gemeinschaftsschulen. Kein einziges evangelisches oder katholisches Kind war fortan noch gezwungen, eine Schule der anderen Konfession zu besuchen. Katholische und evangelische Konfessionsschulen durften nur zusätzlich zu den allen Christenkindern und Ungetauften zugänglichen Gemeinschaftsschulen errichtet werden**.

Nur diese Lösung, so erklärte der damalige Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf im Landtag, sei »mit der gebotenen und geforderten Toleranz gegenüber der Minderheit« zu vereinbaren.

Sogar als die Bundesregierung den niedersächsischen Trend zur Gemeinsamkeit vor dem Bundesverfassungsgericht als Verstoß gegen das Reichskonkordat (Artikel 23: »Die Beibehaltung und Neueinrichtung katholischer Bekenntnisschulen bleibt gewährleistet...") anprangerte, verteidigte die hannoversche Landesregierung die Rechte der Minderheiten energisch.

Der damalige niedersächsische Kultus-Staatssekretär Koch verwies in Karlsruhe auf das Elternrecht, Kinder vom Religionsunterricht befreien zu lassen. Koch: »Wenn nun der Unterricht in allen Fächern religiös und konfessionell gebunden ist, dann müßte man den Eltern die Möglichkeit geben, eine Freistellung von allen Fächern zu beantragen. Und das ist andererseits wieder unvereinbar mit dem Schulzwang.«

Die niedersächsische Landesregierung berief sich sogar auf die im Grundgesetz (Artikel 4) garantierte Glaubensfreiheit: »Konfessionsfremde Kinder, deren Urteilsfähigkeit noch nicht entwickelt ist«, dürften nicht »über den Schulzwang des Staates genötigt werden, mit dem Lehrstoff der Schule zugleich die Glaubensgehalte eines ihnen fremden Bekenntnisses aufzunehmen«. Und: »Wenn Glaubensfreiheit noch einen Sinn haben soll, dann ist diese Feststellung unantastbar.«

»Auch eine überwältigende Mehrheit der Erziehungsberechtigten«, so belehrte das hannoversche Kabinett die mit dem Heiligen Stuhl verbündete Bundesregierung, »kann den Schutz, den eine beliebig geringe Minderheit in Artikel 4 Grundgesetz findet, nicht gegenstandslos machen.«

Das Bundesverfassungsgericht erklärte zwar Konfessionsschulen als einzige Schulen am Orte nicht für verfassungswidrig, lehnte den Antrag der Bundesregierung aber trotzdem ab: Die Bundesländer sind verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, die Schul-Artikel des Reichskonkordats einzuhalten.

Als aber die in Karlsruhe siegreichen Niedersachsen mit dem Apostolischen Nuntius Bafile über ein Konkordat verhandelten, ging es nicht mehr um den Schutz jeder »beliebig geringen Minderheit«. Nun wurde nur noch über Prozente verhandelt.

Der dem Parteibuch nach liberale Mühlenfeld und sein SPD-Amtsvorgänger Voigt, der sich einst als Schöpfer des Schulgesetzes hatte feiern lassen, erwiesen sich nur einige Zeit lang als »sturmfest und erdverwachsen« (Niedersachsenlied). Dann stimmten sie Bafiles 20-Prozent-Klausel zu.

Wenn das Konkordat vom Landtag gebilligt und alsdann ratifiziert wird, könnte der Staat in Konflikte über das Ausmaß der Konfessionalisierung an den staatlichen 20-Prozent-Schulen nur noch im äußersten Fall eingreifen. In der Regel würden sie, soweit an diesen Schulen überhaupt einzelne evangelische Lehrer tätig sind, in den Kollegien und im übrigen von den evangelischen Eltern mit eifernden katholischen Lehrern ausgetragen werden müssen.

Den Minderheiten, vom Staat kaum noch geschützt, bliebe nur die Hoffnung, daß die Mehrheit der katholischen Lehrer von den Möglichkeiten keinen Gebrauch machen wird.

Im niedersächsischen Kultusministerium mißt man dem Minderheiten-Problem offenbar keine Bedeutung mehr bei. Es wurde dort bis heute nicht einmal festgestellt, wieviel nichtkatholische Kinder von der prokatholischen Regelung im Konkordat betroffen sind.

Es sind, wie der SPIEGEL ermittelte, 1853 an 190 Schulen:

- im Regierungsbezirk Hannover, Kreis

Grafschaft Hoya, 16 Kinder an zwei Schulen;

- im Regierungsbezirk Hildesheim:

Kreis Hildesheim-Marienburg 272 an 15 Schulen und im Kreis Duderstadt 205 an 21 Schulen;

- im Regierungsbezirk Osnabrück:

Kreis Äschendorf-Hümmling 203 an 35 Schulen, Kreis Bersenbrück 154 an 20 Schulen, Kreis Grafschaft Bentheim drei an zwei Schulen, Kreis Lingen 263 an 35 Schulen, Kreis Melle 51 an zwei Schulen, Kreis Meppen 474 Schüler an 45 Schulen, Landkreis Osnabrück 212 an 13 Schulen.

Die weitaus meisten dieser Schulen (154 von 190) liegen in der Diözese des Osnabrücker Bischofs Helmut Hermann Wittler, zu der auch der Kreis Grafschaft Hoya gehört. Doch Wittler hat sich bislang nicht darüber geäußert, wie katholisch die evangelischen Kinder an diesen Schulen erzogen werden sollen.

Vor zwei Jahren noch erklärte der Osnabrücker Bischof über die katholische Schule: »Wir zwingen diese Form keinem auf, der sie für seine Kinder ablehnt.«

Von dem Tage an, an dem das Konkordat in Kraft treten würde, gelte dieser Satz für 1376 nichtkatholische Kinder in der Diözese Helmut Hermann Wittlers nicht mehr.

** Ausgenommen von dieser Neuerung blieb der Landesteil Oldenburg, in dem noch heute ausschließlich Konfessionsschulen bestehen.

Konkordats-Unterzeichnung in Hannover*: Freiheit in Prozenten

* Am 26. Februar 1965 durch Nuntius Bafile und Ministerpräsident Diederichs. 2. v. links:

Bischof Wittler (Osnabrück).

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