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RAUMFAHRT APOLLO 11 Fesseln gesprengt

aus DER SPIEGEL 29/1969

Es ist der 16. Juli, 5.29 Uhr. Im Morgengrauen dröhnt der Lautsprecher-Countdown über die Wüste: Fünf, vier, drei, zwei, eins ... Dann zuckt der Lichtblitz auf.

»Was war das?« fragt die Amerikanerin Georgia Green ihren Schwager, der neben ihr am Steuer sitzt. Das Auto gerät ins Schleudern, fährt in den Straßengraben. »Was ist los?« sucht Mrs. H. E. Wieselmann, 250 Kilometer von dem Ereignis entfernt, bei einer Zeitungsredaktion zu erfahren; sie hat gesehen, wie »die Sonne aufging und wieder unterging«.

Es war, am 16. Juli 1945, der Feuerball, von dem es heißt, er habe die Welt verändert - die erste amerikanische Atombombe, gezündet über der Wüste von Alamogordo, New Mexico.

Am Mittwoch dieser Woche, auf den Tag genau 24 Jahre nach jenem Ereignis, wird wieder ein grell gleißender Feuersturm entfacht werden, wird abermals die Erde kilometerweit erzittern: wenn sich die größte je von Menschen erbaute Maschine aus ihren stählernen Fesseln löst.

Der Glutball über Alamogordo revolutionierte die Kriegstechnik und eröffnete der menschlichen Zivilisation Aussicht auf eine neue Energiequelle. Der orange-gelbe Flammenstrahl der Rakete, die über der Halbinsel Florida aufsteigen wird, markiert eine neue, vielleicht noch bedeutsamere Zeitenwende. Der Mensch, Gefangener der Erde seit Entstehung seiner Spezies, wagt den ersten Schritt in die Unendlichkeit des Universums.

Einige hundert Wissenschaftler, Techniker und. Wachmänner waren Augenzeugen, als im letzten Weltkriegsjahr Amerika seine Atombombe testete. Drei Millionen Zuschauer werden auf Cape Kennedy zugegen sein, wenn am Mittwoch um 9.32 Uhr amerikanischer, 14.32 Uhr mitteleuropäischer Zeit Raumschiffkommandant Neil Alden Armstrong, 38, Raumschiffpilot Michael Collins, 38, und Mondlandefährenpilot Edwin E. Aldrin Jr., 39, zum achttägigen Raumflug starten (siehe Graphik).

Eine Milliarde Menschen wird, vier Tage nach dem Start, zusehen, wenn zum erstenmal zwei Menschen - Armstrong und Aldrin - ihren Fuß auf einen fremden Himmelskörper setzen, lautlos (denn auf dem lufthüllenlosen Mond pflanzt sich kein Schall fort) und für die Ewigkeit (denn weder Wind noch Wetter werden ihre Fußspuren je verwischen).

»Wer sich von diesem Menschheitsereignis nicht beeindrucken läßt«, schrieb das britische Wochenblatt »Spectator«, »hat schon zugelassen, daß der Fernsehschirm seine Phantasie ersetzt.«

Im Zeitalter der 625-Zeilen-Norm droht ein Ereignis, das der britische Wissenschaftsautor Arthur C. Clarke eine »zweite kopernikanische Wende« genannt hat, auf handliches Bildröhrenformat zu schrumpfen (siehe Seite 114). »Wie weit ist der Mond entfernt?« fragte das US-Nachrichtenmagazin »Newsweek« und antwortete: »Genauso weit wie Vietnam - an der gegenüberliegenden Wand des Wohnzimmers«.

Die Männer, die das Menschheits-Abenteuer wagen - es sind ausgelesene Exemplare eines Menschentyps, für den zweckmäßiger Haarschnitt, Fitness des Körpers und des Gehirns wichtiger sind als das Charisma des Helden.

Sie sagen »roger« statt »yes«, »corrrect« statt »right« und »negative« statt »no«. Beim Anblick des Universums fallen ihnen Vokabeln ein wie »pretty« oder »beautiful«, und wenn etwas schiefgeht, entschlüpft ihnen (so den Astronauten Cernan und Stafford bei Apollo 10) ein »goddam« oder ein »son of a bitch« ins Mikrophon, an dem die Welt teilhat - zum Ärger amerikanischer Kleriker (Larry Poland, Präsident einer Bibelvereinigung in Miami: »Sie tragen die Sprache der Gosse zum Mond").

Es gibt nicht den Einheitstyp der Astronauten, sondern Temperamente. Aldrin, Oberst der Luftwaffe, hatte nur einmal hochfliegenden Puls: als er (bei Gemini 12) eine Botschaft an die Veteranen des US-Militärs verlas; sonst: hochgradig körpertrainiert, hundertprozentig diszipliniert. Collins hingegen, gebürtig aus Rom, gilt eher als kosmischer Weltenbummler, als raumfahrender Playboy-Typ. Armstrong hinwiederum, so heißt es in Houston, ist ein wenig unglücklich über sein jungenhaftes Aussehen und darüber, daß er zweimal Pech hatte (er ließ eines der Schwebefahrzeuge zum Mondlandetraining abstürzen und hatte Steuerprobleme bei Gemini 8); Nasa-Psychologen hoffen, daß die Landung auf dem Mond ihn »etwas entspannt«.

Kleinmut und Zweifel, so freilich steht es nun, begleiten die drei Männer bei ihrem Aufbruch ins All. Die Zahl der Raumfahrt-Gläubigen, die Floridas Starttürme als »die Kathedralen einer neuen Weltanschauung« (US-Wissenschaftsautor Edwin Diamond) und den Mondbahnhof auf dem Cape als »den Apollo-Tempel unserer Tage« (Joseph F. Shea, Nasa-Manager in Houston) rühmen, ist nicht eben groß.

Die Zahl der Kritiker hat zugenommen, die das amerikanische Mondabenteuer - Gesamtkosten: annähernd 100 Milliarden Mark - als gigantische Geldverschwendung einstufen, als technisches Zirkusunternehmen, das nichts dazu beitrage, die wahren Menschheitsaufgaben zu lösen: Beseitigung von Hunger, Krieg und sozialem Unfrieden.

»Es ist möglich«, schrieb das Nachrichtenmagazin »Time«, »den Mond über den Dächern von Harlem und Watts aufgehen zu sehen und nur Bitterkeit zu empfinden angesichts des Milliardenaufwands und der ungeheuren Anstrengung, die kein einziges Menschenleben verbessert, keine einzige Wohnstatt in den Gettos dieser Welt verändert hat.«

Unter der Überschrift »Die Sucht nach dem Mond« schrieb Theo Sommer in der »Zeit": »Der Ausflug ins All bedarf, altmodisch ausgedrückt, der Rechtfertigung durch gute Werke auf Erden.« Eine Befangenheit von der Art, die der Karlsruher Professor Karl Steinbuch »hinterweltlerisch« nannte, ein gewisses Schaudern vor der modernen Technologie (die von manchen Kulturkritikern dann »Hybris« genannt wird) mag sich hinter solchen Einwänden verbergen - vor allem aber das ehrenwerte Unbehagen darüber, daß es in dieser Welt leichter ist, drei Menschen zum Mond zu schießen als die Slums der Metropolen zu sanieren oder die Vergiftung von Luft und Wasser aufzuhalten.

»Wenn einer der Amerikaner, die auf dem Mond landen, ein Farbiger wäre«, schrieb ein kalifornischer Journalist, »wären die 24 Milliarden Dollar, die es gekostet hat, vertretbar.«

Aber die Raumfahrt-Gegner lassen außer acht, daß neun Zehntel des Aufwands nicht im All verpuffen oder verglühen, sondern auf Erden investiert wurden; daß zeitweilig mehr als 400 000 Amerikaner, die am Apollo-Projekt mitarbeiteten, Miete und Auto davon finanzierten; daß Dutzende von Städten in Amerikas armem Süden dadurch ihre Sozialstruktur verbessern konnten (in Huntsville entstand durchschnittlich jede Woche ein neuer Klassenraum); daß sich für die Slum-Sanierung einer einzigen Großstadt schwerer Kongreß-Mehrheiten erlangen lassen als für Mond- oder Marsflüge - und daß am Ende das gesamte Unternehmen »Landung auf dem Mond« den US-Steuerzahler weniger gekostet hat als ein Jahr Krieg in Vietnam.

Was nützt uns der Mond? Die Phantasie der Lebenden ist überfordert, wenn es auszudenken gilt, welche Konsequenzen der Vorstoß ins Unendliche nach sich ziehen wird, gegen den die Entdeckungsreisen eines Kolumbus, Magellan oder Vasco da Gama in ihren Auswirkungen fast bescheiden anmuten könnten; der vielleicht gar vergleichbar scheint jenem Sprung der terrestrischen Evolution vor Jahrmillionen, als zum erstenmal Lebewesen vom Wasser aufs Festland vordrangen, um ihren Lebensraum zu erweitern.

Der Erdtrabant, die Manager der Raumfahrt haben das wieder und wieder betont, ist nur erste Zwischenstation, erstes Trainingsfeld auf dem Weg des Menschen in die Fernen des Kosmos.

»Bringen Sie mir ein Stück Mond«, sagte der amerikanische Chemie-Nobelpreisträger Harold C. Urey, »und ich werde Ihnen sagen, wie unser Sonnensystem entstanden ist.« Die 27 Kilogramm Mondboden, die das Apollo-11-Team von der Zweimal-400 000-Kilometer-Reise durchs All mitbringen soll, werden (gemessen an den bisherigen Gesamtkosten für das Projekt Apollo) eine Million mal mit Gold aufzuwiegen sein - für die Wissenschaft vom Universum sind sie von unschätzbarem Wert. Doch das allein könnte den Aufwand für einen bemannten Flug zum Mond kaum rechtfertigen.

»Was nützt uns ein Baby?« antwortete Michael Faraday, der Erfinder des Elektromotors, als er nach dem Nutzen seiner Erfindung gefragt wurde; sie war der Beginn der Elektrotechnik. Welchen Nutzen versprach im Jahre 1927 Lindberghs Transatlantik-Flug? 42 Jahre später überquerten täglich 15 000 Menschen den Atlantik auf dem Luftweg.

Fernen Generationen wird die 36 Stockwerke hohe, 3100 Tonnen schwere Mondmaschine, die drei Männer zum erdnächsten Himmelsziel tragen kann, vergleichbar scheinen dem Einbaum, mit dem vor Jahrtausenden zum erstenmal Menschen ins offene Meer sich vorwagten, um die nächstgelegene Insel anzusteuern - mit welchem Nutzen?

Der Einbaum des heraufdämmernden Raumfahrtzeitalters ist aus millimeterdünnem Blech gefertigt. Mit seiner geballten Schubkraft von 155 Millionen Pferdestärken - das entspricht etwa der gesammelten Antriebsleistung von 500 atomgetriebenen Flugzeugträgern - vermag er eine Last von 140 Tonnen, soviel wie eine vollbetankte, vollbesetzte Boeing 707, geradenwegs in den Himmel zu heben (in eine Erdumlaufbahn). Und die Verläßlichkeit dieses hochkomplizierten Ungetüms beziffern die Nasa-Techniker mit 99,9999 Prozent.

Das heißt: Für die mehr als zehn Millionen Einzelteile, die bei dem kirchturmhohen Mondgefährt sinnvoll zusammenwirken müssen, hätte eine Zuverlässigkeit von nur 99,9 Prozent bedeutet, daß während eines Mondflugs immerhin 10 000 Einzelteile defekt werden könnten; bei einer Quote von 99,99 Prozent wären es 1000 Komponenten. Das aber schien den Nasa-Technikern unvertretbar.

Eine Zuverlässigkeit mit vier Neunen hinter dem Komma, wie sie statt dessen nun verlangt (und bei den bisherigen Apollo-Flügen übertroffen) wurde, bedeutet dementsprechend, daß maximal zehn der über zehn Millionen Einzelteile unvollkommen funktionieren dürfen.

Übertrüge man diesen noch nie zuvor in der Geschichte der Technik realisierten Zuverlässigkeitsgrad auf die Automobilindustrie, so dürfte ein Auto mit seinen rund 13 000 Einzelteilen durchschnittlich erst nach 100 Jahren Laufzeit den ersten Defekt zeigen. Das gibt einen Begriff von dem, was die Techniker der Raumfahrt (unter dem Protest mancher Kulturkritiker) als ihre »Philosophie« bezeichnen.

»It's technically sweet«, die technische Aufgabe sei verführerisch, ja unwiderstehlich gewesen, erklärte der amerikanische Physiker Robert Oppenheimer, als die moralische Berechtigung der Atombomben-Entwicklung zur Debatte stand. Die Faszination angesichts einer nahezu unlösbar scheinenden technischen Herausforderung - in der Raumfahrt-Technik scheint sie eher angezeigt. Die technischen Probleme, die das Apollo-Programm stellte, waren ungleich größer - und ungleich brillanter wurden sie gelöst: innerhalb einer Zeitspanne von knapp einem Jahrzehnt.

Im Frühjahr 1961, als John F. Kennedy die zielsetzende »Moonward ho!«-Entscheidung ("Noch in diesem Jahrzehnt einen Amerikaner auf den Mond und zurück") bekanntgab, hatte gerade Alan Shepard einen ersten Raumhüpfer gewagt (Flugdauer: 15 Minuten, überflogene Distanz: 480 Kilometer). Von den Raketen, die damals in den USA erprobt wurden, versagte oder explodierte noch jede zweite.

Amerikas Selbstbewußtsein als führende Technik-Nation war angeschlagen, seit im Herbst 1957 das Fiepsen der ersten beiden russischen Sputniks (84 und 508 Kilogramm) bedrohliche Raketen-Überlegenheit der Sowjets signalisierte. Als Monate später die ersten US-Satelliten Explorer 1 (15 Kilogramm) und Vanguard 1 (1,5 Kilogramm) folgten, konnte Nikita Chruschtschow höhnen, dies seien doch »nur Pampelmusen« im All.

Aber es kam noch schlimmer. Am 12. April 1961, fünf Tage vor dem Schweinebucht-Debakel, schickten die Sowjets ihren ersten Kosmonauten, Jurij Gagarin, in 89 Minuten einmal um die Erde. In jenen Schocktagen, so erinnerte sich später Edward C. Welsh, Regierungsberater in Raumfahrtfragen, lief der damalige Vizepräsident Lyndon B. Johnson im Weißen Haus umher und fragte einen einflußreichen Kongreßabgeordneten nach dem anderen: »Sind Sie dafür, daß die USA eine zweitrangige Nation wird, oder sind Sie für diesen Plan?«

Der Plan - bemannte Raumfahrt einschließlich Landung auf dem Mond - war von einem Beratergremium des Präsidenten ausgearbeitet worden und sah bis zur Erreichung des ehrgeizigen Ziels Kosten in Höhe von 20 bis 40 Milliarden Dollar vor. Die Schätzung wurde erstaunlicherweise eingehalten (tatsächlicher Aufwand: 24 Milliarden Dollar).

Ob Kennedys Entscheidung damals eine Art Kniescheiben-Reflex auf den propagandistischen Erfolg der Sowjets, ein zwanghafter Gegenzug im Kalten Krieg oder Bestandteil seiner »New Frontier«-Vision war, die das Land »nach acht schläfrigen Eisenhower-Jahren« ("Newsweek") wieder in Bewegung bringen sollte, ist umstritten.

Ganz sicher war Kennedy seiner Sache nicht. Sein Wissenschaftsberater, Jerome B. Wiesner, berichtete später, der Präsident habe einmal, als ihn die Presse wegen mangelnder Unterstützung des Meerwasserentsalzungs-Programms tadelte, in fast klagendem Ton zu ihm, Wiesner, gesagt: »Ich habe all das Geld für Ihre Raumfahrt hergegeben.«

Die Raum-Planung, auf die sich Kennedy stützen konnte, stammte von einem Kernteam einiger tausend Wissenschaftler, die sich damals in Amerika mit Raumfahrt befaßten. Zu ihnen zählte auch jene Schiffsladung Spezialisten, die bei Kriegsende ihre V-2-Schießstände in Peenemünde verlassen und sich den Amerikanern ausgeliefert hatten: Raketen-Pionier und Raumfahrtträumer Wernher von Braun mit seiner Mannschaft.

Einige Jahre langweilten sich die Männer aus Peenemünde in einem entlegenen Camp in Texas. Erst Mitte der fünfziger Jahre, als die Bedrohung des amerikanischen Festlands durch sowjetische Raketen offenkundig wurde, kam das Von-Braun-Team zum Zuge. Und fortan trug der Westpreuße mit den wasserblauen Augen, der als »Büttenredner der Raumfahrt« (wie ihn Kollegen nannten) unermüdlich in Schülerversammlungen und Kongreßausschüssen für seine Vision geworben hatte, nicht unerheblich dazu bei, Amerikas Politiker davon zu überzeugen, daß ein bemannter Flug zum Mond als erster Schritt lohnend und realisierbar sei.

Zu einer Zeit freilich, da Amerikas Raketen maximal 164 Tonnen Schub, also ein Zwanzigstel der Antriebskraft entfalteten, die für den Flug zum erdnächsten Himmelsziel vonnöten ist, mußte fast als technischer Größenwahn anmuten, was Raumfahrt-Propheten wie Wernher von Braun vorschlugen und mit 100 Milliarden Mark Steuergeldern honoriert haben wollten.

Als die US-Raumfahrtbehörde Nasa Ende 1961, ein halbes Jahr nach Kennedys Marschbefehl, Zwischenbilanz zog, stand eine wenig ermutigende Zahl unterm Strich: 10 000 Einzelfragen mußten beantwortet oder entschieden werden, wenn das Projekt einer Mondlandung mit Aussicht auf Erfolg in Gang gesetzt werden sollte.

Niemand wußte beispielsweise,

▷ ob Menschen überhaupt imstande wären, acht Tage und länger im Zustand der Schwerelosigkeit im All zu überleben und dabei auch noch körperliche Arbeit zu verrichten;

▷ ob nicht Meteoriten-Schauer im All das Raumschiff schon beim Anflug auf den Mond wie ein Küchensieb durchlöchern würden;

▷ ob auf Erden ein Material zu finden oder herzustellen sei, das ein Raumschiff beim 4000 Stundenkilometer schnellen Wiedereintritt in die irdische Lufthülle gegen Temperaturen bis zu 2750 Celsiusgraden abschirmen könnte ...

- und in dieser Weise fort und fort. Selbst die grundlegende Frage, nach welchem Rangierplan man am ehesten zum Mond gelangen könnte, war noch Ende 1961 unbeantwortet: ob im Direktschuß (dies der kostspieligste Weg), ob durch nachträgliches Auftanken eines Mondgefährts in der Erdumlaufbahn oder mit Rendezvous-Manövern in der Mondkreisbahn (wie es nun geschieht).

Die Vorstellungen vieler Raumfahrttechniker waren damals noch nicht weit entfernt von düsteren Vorahnungen, wie sie sechs Jahre zuvor der Wissenschaftsredakteur des Nachrichtenmagazins »Time«, Jonathan N. Leonard, als Meinung der Experten wiedergegeben hatte: Die Idee, mehrere Triebwerke, jedes mannshoch, in einer Rakete zu bündeln, grenze nach allem technischen Verstand »an Wahnsinn«. Menschen in dauernder Schwerelosigkeit müßten als hilflose Wesen, »wie schwer Nervenkranke« agieren.

Auch müsse man sich darauf gefaßt machen, daß in den ersten Jahren der Raumfahrt »nicht selten Raumschiffe spurlos verschwinden, wie einst im 16. Jahrhundert so manches Segelschiff, das auf den Weltmeeren verschollen blieb«; ihre Radiosignale, meinte Leonard, »werden plötzlich aufhören, vielleicht mitten in einem Satz. Der scharfe Knall einer Schockwelle im Innern des Raumfahrzeugs könnte das letzte sein, was über den Sender kommt ... Man wird Gebete sprechen für die Seelen der Mannschaft. Und das durchlöcherte Wrack wird für Millionen Jahre durchs All rasen, bis es am Ende in die Sonne stürzt«.

Noch 1963 hielt die »New York Herald Tribune« keineswegs für ausgeschlossen, daß Menschen, die auf dem Mond landen, »vor den Augen der Weltöffentlichkeit in metertiefem Staub versinken«.

Die Weichen für die Technik des Mondflugs wurden gestellt, noch ehe solche Befürchtungen durch die Serie der ferngesteuerten Erkundungsflüge (Ranger, Surveyor, Lunar Orbiter) widerlegt waren. Und manche der Entscheidungen kamen auf fast abenteuerliche Weise zustande: flüchtig skizziert auf einem Stück Notizpapier - und dann mit dem Mut der Besessenheit verfochten gegen die Mächtigen des Planungsstabes.

So war es mit der Idee des Außenseiters John Houbolt, damals Mitarbeiter des Langley-Forschungsinstituts der Nasa, für den ein Kollege später die Glückwunschformel fand: »Sie sind der einzige mir bekannte Amerikaner, der seiner Nation 20 Milliarden Dollar erspart hat.«

Wenn am kommenden Sonntag die spinnenbeinige Mondlandefähre mit ihren vier Tellerfüßen und der neunsprossigen Ausstiegsleiter auf dem Mondboden aufsetzt, wird sie in ihren skurrilen Umrissen verblüffend jenem Entwurf ähnlich sehen, den Houbolt 1961 auf ein Stück Papier kritzelte.

Niemand, Wernher von Braun eingeschlossen, hatte anfangs von diesem Vorschlag etwas wissen wollen (Houbolt: »Ich hatte das Wort 'verrückt' nie vorher in meinem Leben so oft gehört wie in jenen Wochen und Monaten").

Inzwischen aber weiß jeder in der Nasa, daß Houbolts Landefähren-Konzept Amerikas Marsch zum Mond nicht nur entschieden verbilligt, sondern auch - gegenüber allen anderen damals diskutierten Möglichkeiten - um wenigstens zwei Jahre verkürzt hat.

Und wie John Houbolt im Langley Research Center, so saßen einige zehntausend Wissenschaftler und Techniker überall im Land und brüteten über Detailfragen, beispielsweise:

▷ wie man verhindern könnte, daß die Mondrakete in den viereinhalb Monaten, die für den Zusammenbau und die Prüfung aller Systeme nötig sind, von Regen und Salzwind angenagt wird (Antwort: indem man sie in einer 160 Meter hohen Montagehalle aufeinandertürmt und dann mitsamt Wartungsturm auf einem eigens dafür konstruierten Super-Raupenschlepper an den Startplatz karrt, siehe Titelbild);

▷ wie sich im Innern des Raumanzugs trotz wechselnder physischer Belastung gleichbleibende Temperatur erreichen ließe (Antwort: durch Einbau eines wasserdurchströmten Kühlschlangennetzes in die Unterwäsche);

▷ wie sich der bei Testläufen von Raketen-Triebwerken auftretende Lärm auf die in einigen Kilometern Umkreis wohnende Bevölkerung auswirken würde (es wurde in Huntsville, Alabama, ein Lautsprecher installiert, der probeweise den Lärm von acht Millionen Hi-Fi-Superlautsprechern abstrahlte);

▷ wie zu verhüten wäre, daß im Zustand der Schwerelosigkeit Brotkrümel durch das Raumschiff in das Labyrinth der elektronischen Kleinstbauteile schweben könnten - Horror-Vision der Nasa-Techniker, seit Astronaut John W. Young (Gemini 3) unerlaubterweise ein Wurstbrot mit an Bord nahm (Lösung des Problems: Die Brotwürfel der Astronauten-Nahrung, auf einen halben Millimeter und ein zehntel Gramm genau vermessen, werden mit einer Lackschicht überzogen).

Ein besonderer Typ von Eierköpfen und vorurteilslosen Ingenieuren war für solche Aufgaben nötig - von anderem Schlag als die infarktbedrohte, graumelierte Managergeneration, die in Europa (wie kürzlich der OECD-Report ergab) noch weithin die Führungspositionen besetzt hält.

Das Durchschnittsalter der Nasa-Manager liegt zwischen 35 und 45 Jahren, das der Mathematiker und Techniker, die für die Flugbahnberechnung beim Projekt Apollo verantwortlich zeichnen, etwas unter 23 Jahren.

Die Wissenschaftlerin des Massachusetts Institute of Technology, die das elektronische Leit- und Navigationssystem für das Apollo-Raumschiff konzipierte, tat es mit 24 Jahren. Die Flight Directors, die im Kontrollzentrum Houston für jeweils eine achtstündige Schicht das »weiße«, »goldene« und »schwarze« Team der Flugkontrolleure kommandieren, sind Anfang Dreißig - und sie sind allesamt schon Veteranen, seit 1965, seit Beginn des Gemini-Programms, im Amt.

Nur unter dem Druck des von Präsident Kennedy gesetzten Zeitziels, nur im mitreißenden Schwung eines »crash program« war es möglich, die zehntausend Detailfragen zu lösen - anfangs mit einem nicht unbedenklichen Hang zum Aufwendigen, technisch Komplizierten, später mit dem Bemühen, jedes System möglichst einfach und überschaubar zu gestalten.

Am erstaunlichsten aber bleibt die organisatorische Leistung, die sich hinter Amerikas Mondprogramm verbirgt: Es galt, alle Verästelungen und Terminplanungen eines technischen Mammutunternehmens zu koordinieren, an dem zeitweilig mehr als 20 000 Lieferfirmen und dazu noch einige hundert wissenschaftliche Institute und Behörden mitarbeiteten.

Wie Lichtsignale und Glockenzeichen an einem Spielautomaten kamen in den Computerbatterien der Management-Zentrale Huntsville Erfolgs- und Alarmmeldungen an - über das Eintreffen einer kompletten Raketenstufe auf dem Cape ebenso wie etwa über Verzögerungen bei einem Kleinbauteil für kurshaltende Kreiselsysteme oder über Qualitätsprobleme bei der Erschmelzung neuer Glassorten für die Sichtfenster der Raumkapsel.

Und Monat für Monat wurden auch die Wissenslücken geschlossen, die in den ersten Jahren des Apollo-Programms die Ingenieure noch hatten zweifeln lassen, ob ihre Entwürfe überhaupt brauchbar wären.

Schritt für Schritt erkundeten Robot-Spähfahrzeuge und Astronauten den Weltraum im Umkreis der Erde:

▷ Satelliten mit Meßpaddeln, die bis zu einer Fläche von 230 Quadratmetern im All ausgeklappt wurden, klärten die Häufigkeit von Meteoriteneinfall. Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeitsmathematiker rechnen bei jedem 1000. Raumflug mit einem Treffer, der zum Abbrechen der Mission zwingen würde (wobei der Besatzung Zeit bliebe, sich in ihren Raumanzügen gegen den Druckabfall im Raumschiff zu schützen).

▷ Sechs bemannte Flüge mit der Mini-Raumkapsel Mercury in den Jahren 1961 bis 1963 brachten den Beweis, daß der Mensch die Belastungen von Start, Landung und Schwerelosigkeit ertragen kann.

▷ Insgesamt 1939 Flugstunden in den Zwei-Mann-Raumschiffen vom Typ Gemini reichten hin, alle beim Raumflug notwendigen Manöver zu erproben: Rendezvous im All, Langzeitreisen bis zu zwei Wochen, Verlassen der Raumkapsel und körperliche Arbeit, freischwebend im All; das erfolgreiche Gemini-Programm verhalf den USA zum entscheidenden Vorsprung gegenüber den Sowjets (siehe Graphik Seiten 102 und 103).

»Das Risiko eines Astronauten«, so hatte Kennedy-Berater Welsh schon 1961 Zweifler zu besänftigen versucht, »ist kleiner als das Risiko einer Flugzeugbesatzung, die bei schlechtem Wetter von Washington nach Los Angeles fliegt.« Die (zu jener Zeit gewiß kühne) Prognose wurde bislang durch den tatsächlich erreichten Sicherheitsgrad noch übertroffen - jedenfalls im Raum-Programm der Amerikaner.

Nur ein Mensch starb bisher beim Einsatz im Weltraum - der Russe Wladimir Komarow, dessen Sojus-Raumschiff sich (im April 1967) bei der Rückkehr zur Erde in den Fallschirmleinen verfing.

Der einzige schwerwiegende Rückschlag, den das amerikanische Mondprogramm erlitten hat, ereignete sich am Boden: als 1967 drei Astronauten beim Training in einer Apollo-Raumkapsel verbrannten (mutmaßliche Ursache: Kurzschluß in einem Kabelschacht). »Das mag den Leuten ins Bewußtsein rücken«, sagte damals William E. Allen, Präsident des Luft- und Raumfahrtkonzerns Boeing, »daß dies nicht das Geschäft von Schneidern oder Schustern ist, was wir hier betreiben.«

»Wie in einem Goldfisch-Aquarium« (so umschrieb es der Schweizer Wissenschaftsautor Georg Gerster) betrieben die Amerikaner ihren Aufbruch in den Weltraum: vor den Augen der Weltöffentlichkeit, ohne Geheimnistuerei. Und die Erfolge überraschten - bislang selbst die Optimisten.

Ursprünglich, so Wernher von Brauns Planung, hatten die ersten zehn Saturn-V-Raketen unbemannt ins All geschickt werden sollen, »bevor wir genug Mut fassen würden, einen Mann in die Nase dieser Riesenrakete zu setzen« (von Braun).

Dann aber konnte dieser Schritt schon mit dem dritten Saturn-V-Start unternommen werden: Das wahrhaft ingeniöse, eigens für das Mondprogramm entwickelte Konzept von raffiniert gestaffeltem, großenteils automatisiertem »Checkout« (Prüfung der Systeme) und das Prinzip der vielfachen »Redundancy« (Verdoppelung oder Verdreifachung fast aller lebenswichtigen Systeme) hatten sich bewährt.

Spätestens hier wurde deutlich, daß Computertechnik und Raumfahrt zusammengehören wie einst Telegraph und Eisenbahn, Fahrstuhl und Wolkenkratzerbau.

Nur mit Hochleistungs-Computern war es möglich, das vielfältig versponnene Adern- und Nervengeflecht im Innern der Raumprojektile mit vernünftigem Zeitaufwand zu testen und betriebsklar zu machen. »Ohne Automatisierung der Prüfvorgänge«, erläuterte Henry Paul, Chef der Abteilung Checkout und Programmierung in der Saturn-Montagehalle, »blieben unsere Vögel flügellahm auf der Startrampe hocken.«

Bei der Saturn-Mondrakete beispielsweise überwachen von Beginn der Endmontage an mehrere Gruppen von Computern simultan jeden Schritt des Zusammenbaus. Ein spezieller, übergeordneter Rechner überwacht die Reihenfolge und Prioritäten der einzelnen Prüfprogramme und kontrolliert ständig die Vertrauenswürdigkeit des ganzen Systems, seine eigene nicht ausgenommen.

Insgesamt geben 4000 Meßstellen an Rakete und Raumschiff kontinuierlich Nachricht über deren Funktionszustand. Allein die Telemetrie, die elektronische Fernübermittlung von Daten während des Fluges, wäre theoretisch in der Lage, innerhalb von 30 Sekunden den kompletten Inhalt der Bibel zu übermitteln.

Computer, die an jedem Tag eines Apollo-Fluges 80 Milliarden Berechnungen ausführen, bilden das Nervenzentrum jenes weltumspannenden Netzes von Bahnverfolgungsstationen, an dem 4000 Mann in 17 Bodenstationen, auf vier Schiffen und in acht Flugzeugen mitarbeiten (SPIEGEL 23/1969).

Die empfindsamsten Sinnesorgane dieses Nachrichtensystems sind schalenförmige Parabol-Antennen von 64 Meter Durchmesser, wie sie im kalifornischen Goldstone und im australischen Canberra stationiert sind. Ihre hochgradige Sensibilität und ihre Fähigkeit, die wichtigen Signale von kosmischem Störrauschen zu unterscheiden, lassen sich mit einem Vergleich veranschaulichen: Man denke sich ein Auge, das - bei hellem Sonnenschein - das Aufleuchten einer Taschenlampe in 500 Kilometer Entfernung wahrnimmt.

Die Goldstone-Antenne in Kalifornien wird, wenn alles gutgeht, um 7.17 Uhr mitteleuropäischer Zeit am kommenden Montag auch jene Fernseh-Bilder einfangen, wie sie auf Erden (außer in Science-fiction) phantastischer, skurriler und atemraubender nicht vorzustellen sind: Zwei Männer, vermummt in weiße Raumanzüge und goldglitzernde Raumhelme, tappen über bröckliges Geröll, schaufeln Proben davon in kleine Säcke und installieren wissenschaftliche Geräte - auf einem fremden Himmelskörper, drei Raumreisetage von »der guten alten Erde« (Astronaut Borman) entfernt.

Armstrong und Aldrin, photographierend und Souvenirs sammelnd wie Touristen, werden es leichter haben als Entdecker in früheren Jahrhunderten. Columbus segelte 3000 Meilen auf unbekanntem Kurs, mit ungewissem Ziel; als er zurückkam, wußte er nicht, wo er gewesen war.

Die Konquistadoren des Jahres 1969 haben jeden Quadratmeter ihres lunaren Landeplatzes schon vorher als Bildprojektion im Trainings-Simulator sich einprägen können - mehr als 100 000 Photos von der Mondoberfläche sind während der letzten Jahre von Robotern erdwärts gefunkt oder von den Apollo-8- und Apollo-10-Astronauten aufgenommen worden.

Vier Tage, fünf Stunden und 42 Minuten nach dem Start von der Erde werden Armstrong und Aldrin mit ihrer Mondlandefähre (Rufname: »Adler") - während der dritte Mann im Apollo-Raumschiff ("Columbia") weiter um den Mond kreist - zum entscheidenden Manöver ansetzen, das bislang nicht erprobt wurde: Vermittels eines feinstimmig regulierbaren Brems-Gasstrahls senkt sich die »Adler«-Fähre über die letzten 15 Kilometer behutsam auf den Mondboden. Radargeräte melden ständig die geringer werdende Flughöhe. In der letzten Anflugphase registrieren 1,7 Meter lange Fühler an den Tellertatzen der Landefähre den Kontakt mit dem Mondboden und signalisieren den Moment, in dem das Triebwerk abgeschaltet werden muß.

Nach dem Aufsetzen sollen die beiden Astronauten noch fast zehn Stunden in der verschlossenen Fähre zubringen, ehe sie aussteigen. Zwei Stunden werden sie damit zu tun haben, alle Bordsysteme zu überprüfen. Anschließend sollen sie, nach dem Willen der Nasa-Planer, einen Imbiß nehmen.

»Die Burschen haben eiserne Nerven«, kritisierte M. C. Smith, Verpflegungsbeauftragter im Raumfahrtzentrum Houston, diesen Teil des Flugplanes, »aber sie wären keine Menschen, wenn sie in dieser Lage Appetit hätten.«

Doch damit nicht genug: Nach dem Imbiß sollen Armstrong und Aldrin, zusammengekauert auf dem engen Boden des Landegefährts, vier Stunden schlafen, notfalls mit Hilfe einiger Seconal-Tabletten. Dann sollen sie noch mal essen (eine Stunde) und sich auf den Ausstieg vorbereiten (zwei Stunden).

Als erster wird Neil Armstrong Mondboden betreten. Ohne sich lange zu besinnen, wird er mit einem langgestielten Säckchen zwei Pfund loses Gesteinsmaterial und Staub einsammeln und in eine Beintasche über dem linken Knie seines Raumanzuges verstauen. Für den Fall, daß die Mission vorzeitig abgebrochen werden müßte, wäre auf diese Weise wenigstens eine Prise des begehrten Mondmaterials mit auf dem Rückweg zur Erde.

Erst dann kommen nacheinander eine Kamera, Mondfährenpilot Aldrin, eine Fernsehkamera und drei wissenschaftliche Apparaturen zum Vorschein:

▷ ein Segel aus Aluminium-Folie, das wie eine Filmleinwand entrollt wird und während des Aufenthalts der Astronauten die sogenannten Sonnenwinde einfangen soll - auf Erden erhofft man sich von diesem Experiment Aufschluß über die Zusammensetzung der von der Sonne weggeschleuderten Gasströme und damit auch über den Ursprung des Sonnensystems;

▷ ein hochempfindliches Seismometer, das auf dem Mond verbleibt und zwei Jahre lang jede Erschütterung der Mondoberfläche, sei es durch lunare Vulkantätigkeit oder durch Meteoriteneinschlag, messen und zur Erde melden soll;

▷ ein auf der Erde 35 Kilogramm, auf dem Mond (wegen der dort um fünf Sechstel geringeren Schwerkraft) nur sechs Kilogramm schweres Spiegelgerät - es wird von der Erde entsandte Laserstrahlen so exakt reflektieren, daß sich die Entfernung Erde-Mond auf 15 Zentimeter genau wird bestimmen lassen.

Genaugenommen ist die Mondlande-Mission Apollo 11 erst der letzte Schritt im Test- und Trainingsprogramm für Raumschiff und Astronauten. Gleichwohl wird die wissenschaftliche Ausbeute beispiellos sein: Mehr als 100 Forschungsinstitute in Amerika, 20 weitere in acht außeramerikanischen Ländern (vier davon in der Bundesrepublik) werden die 27 Kilogramm Lunar-Gestein untersuchen, die bei der ersten Mond-Expedition abfallen sollen (siehe Interview Seite 105).

Weitere neun bemannte Mondflüge sind bis Ende 1972 vorgesehen - Raketen und Raumfahrzeuge dafür sind schon im Bau oder bereits fertig. Und bei jedem Einsatz soll die wissenschaftliche Ausrüstung reichhaltiger, der Aufenthalt auf dem Mond ausgedehnter werden.

Die Astronauten werden das Magnetfeld des Trabanten untersuchen, den Wärmestrom aus dem Mondinnern messen, ein Netz von Mondbebenstationen errichten, Sonnenwinde und kosmische Strahlung beobachten und Granaten aus einem Mörser verschießen, um die elastischen Eigenschaften des Mondgesteins zu bestimmen.

Von 1971 an sollen sie auch Hilfsfahrzeuge mit an Bord haben, Mond-Jeeps, die Ausflüge in die weitere Umgebung des Landeplatzes ermöglichen. Einer dieser skurrilen Mond-Klimmer wird - von der Erde aus ferngesteuert - zu einer einjährigen, tausend Kilometer weiten Robot-Reise über die lunare Kraterlandschaft starten.

Daß Amerikas Raumfahrttechnik im Augenblick ihres größten Triumphes - angesichts der bevorstehenden Mondlandung - zugleich mit Sorge in die Zukunft blicken müsse, ist allenthalben Thema heftiger Debatten in der amerikanischen Öffentlichkeit.

Der gegenwärtige Chef des bemannten US-Raumfahrtprogramms George E. Mueller verwies auf Schätzungen, nach denen die Sowjets rund 50 Prozent mehr Geld für die Raumfahrt aufwenden als die Amerikaner. Und der Schweizer Journalist Gerster ließ sich von seinen Gesprächspartnern in Houston und Washington berichten, das derzeit geplante »Apollo-Anwendungsprogramm« (AAP) - Bau einer Drei-Mann-Raumstation unter Verwendung einer ausgebrannten Saturn-Stufe - sei eher als »Apollo-Abfallprogramm« zu bezeichnen:"Krümel von Apollo werden zu einer kleinen Raumstation verbacken« (Gerster).

Aber solche Kassandra-Sprüche sind zu einem Gutteil Zweckpessimismus, wie er zur Lockerung der öffentlichen Hand in den Vereinigten Staaten nötig ist. Im fiskalischen Vakuum enden wird allem Anschein nach die amerikanische Raumfahrt nicht.

Zwar ist das US-Raumfahrtbudget von seiner Rekordhöhe im Jahre 1965 (21 Milliarden Mark) auf knapp 16 Milliarden für das kommende Jahr geschrumpft. Zwar hat sich die Zahl der am zivilen Raumfahrt-Business Beteiligten (400 000 waren es 1965) auf weniger als die Hälfte vermindert.

Aber ein Großteil des Milliarden-Etats in den vergangenen Jahren ist für den Aufbau von Bodeneinrichtungen - Testständen, Abschußrampen, Kontrollzentren, Computerausrüstung im Bewußtsein der Öffentlichkeit - verwendet worden, die als Betriebskapital auch künftig zu Buch schlagen werden.

Ebenso war ein großer Teil des 400 000-Mann-Heeres gleichsam der Stoßtrupp der Investitionsphase. Es scheint, als ob die Raumfahrtplaner zufrieden wären, wenn sie die gegenwärtig beschäftigte Kernmannschaft von rund 200 000 hochqualifizierten Ingenieuren und Technikern beisammenhalten könnten. Das aber ließe sich - so die Schätzungen der Nasa - schon bewerkstelligen, wenn für die Zukunft ein halbes Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts (das entspräche einem Zwanzigstel des US-Militärbudgets) für Raumfahrt verfügbar bliebe.

Die propagandistische Notwendigkeit, der Nation ein Ziel zu setzen, hat Landung auf dem Mond fast schon als Endpunkt des kosmischen Aufbruchs erscheinen lassen, statt als erstes, bescheidenes Etappenziel. In den Köpfen der Nasa-Planer hingegen haben die Raum-Programme für die siebziger und achtziger Jahre schon recht klare Umrisse gewonnen. Vieles davon ist im Stadium der Reißbrettplanung, manches schon im Bau.

Das Grandhotel in der Erdumlaufbahn, das der Hilton-Konzern vorschlug, mag vorerst Utopie bleiben. Ausflüge zu fernen Sonnensystemen oder Galaxien, bei denen die Reisenden nach vielleicht 35jähriger Flugzeit die Erde um 210 Jahre gealtert wiederfänden, werden wohl dem nächsten Jahrtausend vorbehalten bleiben.

(Das mit Einsteins Relativitätstheorie zusammenhängende Problem des unterschiedlichen Alterns auf Erden und an Bord eines Raumschiffes ist freilich auch in der Frühphase der Raumfahrt schon akut: Astronaut Armstrong hat bei seinen Gemini-Flügen in den Jahren 1965/66, wie Nasa-Mathematiker berechneten, insgesamt 13 Mikrosekunden, Astronaut Collins 90 Mikrosekunden, Aldrin gar 120 Mikrosekunden persönliche Lebenszeit gewonnen**.)

Ein bemannter Flug zum Mars ist für 1986 geplant - genauer gesagt: für die Zeit vom 1. Mai 1986 bis 25. Juli 1987. Die Entwicklung des Atom-Antriebs, der dafür gebraucht wird, ist mit ermutigenden Ergebnissen seit zehn Jahren vorangetrieben worden; und bei der letzten Etat-Debatte räumte der US-Kongreß diesem Programm (Projektname: »Nerva") sogar ein höheres Budget ein, als die Nasa verlangt hatte.

Noch konkretere Pläne haben die Nasa-Manager für die siebziger Jahre (wenn Europas Raumfahrttechniker womöglich noch immer damit beschäftigt sein werden, den Fehler in der dritten, deutschen Stufe ihrer Rakete aufzudecken). Zwei Großprojekte sind bislang in der unbemannten Raumfahrt vorgesehen:

▷ weiche Landung von zwei Instrumentenkapseln auf dem Mars für das Jahr 1973;

▷ eine »Grand Tour« zur Erkundung der erdfernen Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun in den Jahren nach 1976. Dann nämlich bietet sich die astronomisch seltene Gelegenheit, alle genannten Planeten mit einem einzigen Streifschuß aufzusuchen, nach Art eines flachen Steines, der über das Wasser hüpft. Auf diese Weise ließe sich in neun Jahren ein Spähprogramm bewältigen, das bei ungünstigerer Konstellation mindestens 30 Jahre in Anspruch nähme (die nächste Chance für eine »Grand Tour« wäre erst wieder im Jahre 2155).

»Think big« scheint auch in der bemannten Raumfahrt das Motto für die nächstliegenden Vorhaben. Abgesehen von einer kleinen ständigen Wissenschaftler-Station auf dem Mond, sind vorgesehen:

▷ bis 1975 Bau einer erdumkreisenden Raumstation für zwölf Mann Besatzung, die mindestens zehn Jahre lang (mit wechselnder Mannschaft) im All bleiben soll;

▷ in den darauffolgenden Jahren Vergrößerung dieser Station durch Ankoppeln weiterer Bauelemente, so daß schließlich 100 Menschen darin Platz finden.

Entgegen den ursprünglichen Vorstellungen wird die bemannte Raumfahrt relativ wenig militärische Bedeutung haben. Photo- und Funkaufklärung lassen sich durch automatische Satelliten weniger aufwendig und mit größtem Nutzen zuwege bringen. Und Raumschiffe oder gar Mondstationen als Abschußrampen für Atombomben sind deswegen nicht sinnvoll, weil die Warnzeiten auf Erden ungleich länger wären als bei U-Boot- oder Interkontinentalraketen.

Andererseits dürfte der ökonomische Nutzen, der sich mit ziviler Raumfahrt wird erzielen lassen, nach aller bisherigen Erfahrung so beträchtlich sein, daß er den Milliarden-Aufwand mehr als aufwiegt.

Durchschnittlich an jedem 5. Tag startete 1968 in den Vereinigten Staaten eine Rakete in den Weltraum. 4000 Objekte - Satelliten, Sonden und Raumschiffe - haben Amerikaner und Sowjets in den vergangenen zwölf Jahren ins All geschossen; 1700 davon sind noch auf ihren Raum-Bahnen.

Längst sind Postämter am Himmel, sind Fernmelde- und Fernsehsatelliten zur Routine und gewinnbringend geworden (Miet-Einnahmen der amerikanischen Comsat-Organisation 1968: 120 Millionen Mark). Das aber ist nur ein Anfang:

▷ 800 Millionen Dollar jährlich könnten allein Landwirtschaft und Bauwirtschaft in den Vereinigten Staaten sparen, wenn - wie von den Wettersatelliten zu erhoffen ist - eine verläßliche Wetterprognose für zwei bis drei Tage möglich wird (so eine Schätzung der amerikanischen Akademie der Wissenschaften).

▷ Eine Steigerung der US-Landwirtschaftserträge um 300 Prozent wäre erreichbar, wenn durch exakte Satellitenbeobachtung der Erde die richtigen Zeitpunkte für Aussaat und Ernte sowie Menge und Art der zu verwendenden Düngemittel zur Erde gemeldet würden (so eine Berechnung der amerikanischen Firma Bendix Aerospace).

▷ Vorläufig unberechenbar sind die Gewinne, die Satelliten oder bemannte Raumstationen erbringen würden, wenn sie irdische Bodenschätze aufspüren, Waldbrände und Schädlingsbefall von Kulturen rechtzeitig melden, Eisberg- und Unwetterwarnung perfektionieren würden.

Die weidlich zitierte Teflon-Bratpfanne muß nicht länger herhalten, wenn es nachzuweisen gilt, welchen Nutzen die Raumfahrttechnik beiläufig abgeworfen hat. 2750 Entwicklungen und Patente aus dem Raumfahrtprogramm hat die Nasa der Industrie zur Auswertung überlassen.

Nicht zu bemessen ist der Wert des Raumfahrtprogramms als »Speerspitze des technischen Fortschritts« (Nasa-Slogan), als Stimulans für Wissenschaft und Ingenieurskunst außerhalb des Mondunternehmens.

Und einigermaßen müßig erscheint auch die Diskussion, ob das für den Mondschuß aufgewendete Geld nicht besser für Schulen und Universitäten, Krankenhäuser und Altersheime hätte ausgegeben werden sollen. Sicher ist: Für die Sanierung von Negerslums hätte der amerikanische Kongreß keine 24 Milliarden Dollar bewilligt.

Aber noch aus einem anderen Grunde ist anzuzweifeln, was der Physik-Nobelpreisträger Max Born, 86, über Raumfahrttechnik einmal gesagt hat: »Ein Triumph des Verstandes, aber ein tragisches Versagen der Vernunft.«

Der amerikanische Philosoph Lewis Mumford, 73, sekundierte ihm kürzlich: Raumfahrt sei »eine kolossale Perversion von Energie, Denkkraft und anderen kostbaren menschlichen Fähigkeiten«, sei »der raffinierte Versuch, den Wirklichkeiten dieser Erde zu entkommen.«

Auch das genaue Gegenteil könnte sich erweisen. Ob es sich um Ernährungsprobleme oder um Städteplanung, um die Reinhaltung von Luftraum und Gewässern oder um die Erschließung der Weltmeere handeln mag - »fraglos sind viele solcher Aufgaben erst lösbar geworden, seit der Staat die Wissenschaft damit beauftragen kann, innerhalb einer gegebenen Frist die Probleme zu bewältigen, wie sie eine Reise ins All aufgibt« (so der Mathematiker und Wissenschaftsjournalist Thomas von Randow in der »Zeit"). Satelliten etwa, die zur Überwachung von Anbauflächen und zum Aufspüren von Bodenschätzen eingesetzt werden, könnten schon eine erste Hilfe gegen Umweltzerstörung und Mangel auf der Erde sein.

Die Frage, ob Raumfahrt hinter irdische Aufgaben höherer Priorität zurückzutreten habe, scheint in der Tat falsch gestellt. »Unsere Nation ist reich genug«, so formulierte der amerikanische Chemie-Nobelpreisträger Harold C. Urey, »daß wir, wenn Raumfahrt und andere Technikvorhaben gegeneinander stünden, uns gewiß beides leisten könnten.«

»Eine exzellent funktionierende, wohlorganisierte Maschine zur Lösung von Problemen, gleich welcher Art«, so bezeichnete einer der Ingenieure im Raumflugzentrum Huntsville, Alabama, das Institut, in dem er arbeitet.

Fraglich scheint indes, ob Politiker der ausgehenden sechziger Jahre schon willens und fähig sind, sich solchen Instrumentariums zu bedienen - auch wenn es die einzige Antwort auf die Probleme des nachindustriellen Zeitalters wäre.

Drei Wochen vor dem Start zum Mond, als sich Neil Armstrong, Edwin Aldrin und Michael Collins einem letzten Trainingsprogramm unterzogen, entbrannte auf den Korridoren des Kongreßgebäudes in Washington ein Streit.

Zu der Frage, welche ersten Worte Astronaut Armstrong sprechen soll, wenn er seinen Fuß auf den Erdtrabanten setzt, entwickelten das US-Außenministerium ("Etwas Internationales, etwa: Der Mond gehört der Menschheit"), das Innenministerium ("Etwas Werbewirksames, vielleicht: Sollte man nicht einen Nationalpark auf dem Mond errichten?") und die Kongreß-Fraktionsführer ("Etwas richtig Patriotisches") je eigene Vorstellungen.

Die Frage, welche Flagge Armstrong auf dem Mond hissen wird, ist durch Kongreßmehrheit entschieden worden.

Die Bewilligung des Nasa-Budgets für das Haushaltsjahr 1970 wurde geknüpft an die Bedingung, daß Amerikas Mondfahrer nicht »diese Spinnenflagge der Vereinten Nationen« (so der republikanische Kongreßabgeordnete Richard Rondebush) aufpflanzen, sondern das Sternenbanner.

* Mondrakete Saturn V auf dem Weg zum Startplatz. ** In einem rasch bewegten Raumschiff laufen die Uhren (und die Altersprozesse) langsamer als auf Erden. Entfernt sich das Raumschiff jedoch aus dem Schwerefeld eines Himmelskörpers, verrinnt die Zeit schneller. Durch diese Überlagerung von Zeitdehnung und Zeitverkürzung ist es zu erklären, daß bei der bevorstehenden Mondreise die Astronauten zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr 300 Mikrosekunden (Millionstelsekunden) mehr gealtert sein werden als die auf der Erde zurückgebliebene Menschheit.

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