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VERKEHR Feuer am Dach

Muß tonnenweise Salz gestreut werden, wenn Eis und Schnee die Straßen glätten?
aus DER SPIEGEL 6/1981

Mit großformatigen Anzeigen in der Lokalpresse, illustriert mit einer schneeschippenden Maus, appellierte das Stadtreinigungsamt an die »lieben Lübecker Bürger«, auf »Geh- und Radwegen« fortan kein Salz mehr zu streuen: »Helfen Sie mit, unsere Bäume zu retten!«

Per Faltblatt an alle Haushalte warnte das Fuhramt von Hannover vor winterlichen Umweltgefahren: Weil Nebenstraßen nicht mehr gesalzen würden, müsse hier »bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt mit Glätte gerechnet werden«. In Hamburg verbot das Parlament sogar mit einem Gesetz das Salzstreuen auf öffentlichen Gehwegen.

So aufs Glatteis geführt fühlen sich gegenwärtig die Bewohner zahlreicher westdeutscher Städte und Kommunen, die vornehmlich eines wollen -- heil durch den Winter kommen.

Seit es wieder kalt im Lande und glatt auf den Straßen ist, erhitzen sich die Gemüter über die offenbar nicht abstumpfende Frage nach Sinn und Schaden des tonnenweisen Einsatzes von Streusalz. Und wenn es dann mal kracht, wird's schnell todernst. Stirbt einer auf glitschiger Gasse im Verkehr, steht vornehmlich für Springer-Zeitungen der »eigentlich Schuldige« schnell fest -- er ist »unter jenen Politikern zu suchen, die lieber den Baum geschützt wissen als den Menschen« ("Norderstedter Zeitung").

Der Streit um Schuld und Schutz auf glatten Straßen hat sich zugespitzt, seit immer mehr Städte einen Weg weg vom Salz suchen. Zu gewichtig erscheinen den Verantwortlichen mittlerweile die Einwände, die gegen einen bedenkenlosen Einsatz des Streumittels vorgebracht werden.

Es sind vornehmlich Argumente des Umweltschutzes, die den Straßenreinigern ihr Geschäft versalzen. Seit vor gut 15 Jahren das Streugut als Allheilmittel gegen Eis und Schnee in den Rundumeinsatz kam, häufen sich die Klagen über die schädlichen Nebenwirkungen des Streustoffs. So sterben beispielsweise nach unterschiedlichen Schätzungen 20 000 bis über 100 000 Straßenbäume jährlich an Salz.

Denn das Natriumchlorid, Hauptbestandteil des Siede- und Streusalzes, wirkt nicht nur, wie erwünscht, auf der Straße durch Herabsetzung des Gefrierpunktes von Wasser; es baut sich danach nicht ab und löst sich nicht einfach auf. Es wird im Boden gespeichert, gespalten in Natrium- und Chlorionen. Die Natriumteilchen verdrängen andere für das Pflanzenwachstum wichtige Stoffe, machen den Boden nährstoffarm und trocknen ihn aus.

Das Salz aber dringt auch in die Pflanzen ein und wirkt dort verheerend. Die Chloride gelangen beispielsweise in die Blätter von Bäumen, zerstören das Zellgleichgewicht und führen dazu, daß schon im Sommer das Laub fällt. Erst stirbt das Blatt, dann der Baum -- dem Salz, so scheint's, ist kaum ein Kraut gewachsen.

Längst belegen Forschungsergebnisse den Zusammenhang zwischen Baumsterben und Salz, in den Städten ebenso wie entlang von Fernstraßen. »Meist wurden und werden diese Ausfälle gar nicht als Salzschäden erkannt«, meint Fritz-Helmut Evers von der badenwürttembergischen Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt, »sondern auf Trockenheit, Blitz oder Parasitenbefall zurückgeführt.«

Das Streumittel Salz aber richtet neben ökologischen auch unmeßbaren ökonomischen Schaden an. So mußten bereits Trinkwasserquellen, nahe von Autobahnen gelegen, wegen überhöhter Salzfracht geschlossen werden. Und auch bei Fundamenten und Brücken, beim Straßenbelag wie Autoblech ist der Salzfraß kaum zu stoppen.

Erst neuerdings zeigt solches Wissen auch Wirkung. Wurden vor zehn Jahren rund 400 000 Tonnen Salz auf westdeutschen Straßen abgeladen und im Winter 1978/79 schon mehr als zwei Millionen Tonnen, so geht der Trend jetzt offenbar in die andere Richtung. »Es scheint«, meint Rupert Müller vom ADAC Rheinland, »als gäbe es hier eine Tendenzwende, als würde nicht mehr auf Teufel komm raus gestreut.«

Mal wird das Streumittel mit Schlackengranulat versetzt, wie in Berlin, mal mit Sand gemischt, wie in Ludwigshafen, und vielerorts wird Wasser beigegeben, um Salz zu sparen.

Auch die Steuerung der Streufahrzeuge wurde verbessert, so daß nicht mehr maß- und ziellos das Taumittel auf die Straßen kommt. »Vor sieben S.66 Jahren wurden noch 40 Gramm Salz pro Quadratmeter gestreut«, weiß Professor Karl Krell von der Bundesanstalt für Straßenwesen in Köln, »jetzt sind es in der Regel weniger als 20 Gramm.«

In Kiel etwa werden statt 40 Gramm Salz pro Quadratmeter nur noch 15 Gramm verteilt; in Hamburg und Hannover wird das Taumittel in Nebenstraßen in der Regel gar nicht mehr gestreut. Buchholz in der Nordheide will diesen Winter nur noch zehn Prozent, Koblenz 50 Prozent Salz auf die Straßen bringen -- »nur noch dünn gestreut«, sagt Hans Konrad, Chef des Stadtreinigungsamtes, »um den Schmieres wegzubringen«.

Überdies laufen in mehreren Städten Versuche, Schnee und Eis allein mit Sand oder Splitt beizukommen; harnstoffhaltige Präparate werden als Salzersatz getestet, ebenso ein neuer Straßenbelag, dem Kalziumchlorid als Taumittel untergemischt wurde. Und mitunter bleiben, versuchsweise, auch mal ganze Straßenzüge ungestreut, wie in Hamburg-Eimsbüttel oder, wie es da schon heißt, in Eisbüttel.

Bislang freilich scheint noch kein hinreichender Ersatzstoff für das Salz gefunden. Und so sind sich denn auch Praktiker einig und meinen, wie Alois Peter vom Stuttgarter Stadtreinigungsamt: »Am Salz führt kein Weg vorbei.«

Dafür sorgen schon die Gerichte, die bei einem Schadensfall auf glatter Straße häufig »sehr scharf«, so Hermann Schmitz von der Forschungsabteilung Winterdienst der Bundesanstalt für Straßenwesen in Inzell, die Streupflicht der Behörden überprüfen. Wird da ein Mangel erkannt, sagt Schmitz, »ist Feuer am Dach«.

Um das Haftungsrisiko zu mindern, wird von den Straßenmeistern lieber gleich und möglichst noch ein bißchen mehr Salz auf die Straßen gebracht als erforderlich. Und sogar Gemeinden, die jahrelang das Salz in ihren Säcken ließen, streuen nun wieder, wie Hochdorf im Landkreis Eßlingen.

Im Dezember schlitterte ein Personenwagen auf freier Strecke gegen einen Kinderwagen und verletzte einen zweijährigen Jungen tödlich. Die »Bild«-Zeitung entfachte eine Kampagne gegen die Salz-Sparer, die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Kommune, und der baden-württembergische Gemeindeversicherungsverein meidet künftig jeden Schleuderkurs -- keine Haftpflicht ohne Salz.

So bleiben wohl auch künftig nur wenige Gemeinden im bayrischen Oberland salzfrei, ausschließlich aus Gründen der winterlichen Romantik.

Anderswo verändert sich unterdessen die Vegetation am Straßenrand weiter, wie im Salz an der Autobahn bei Kassel. Dort entdeckten Botaniker schon reine Meeresküstenpflanzen -- Strandnelken.

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