Zur Ausgabe
Artikel 9 / 85

»Feuer und Flamme für diesen Staat«

Der Tod eines Frankfurter Demonstranten löste eine Welle der Gewalt aus Helm auf zur Randale: Plündernd und Steine werfend zogen fast eine Woche lang Schläger und vermummte Anarchos durch die Straßen westdeutscher Städte. Ein toter Demonstrant in Frankfurt wurde zum Vorwand für Gewalttäter, ihren Aggressionen freien Lauf zu lassen und der Polizei blutige Straßenschlachten zu liefern - die richtige Szenerie für konservative Ordnungshüter, Furcht vor der Demonstrationsfreiheit zu schüren. *
aus DER SPIEGEL 41/1985

Im schmucklosen Saal des Bürgerhauses im Frankfurter Stadtteil Gallus bereiteten die hessischen Nationaldemokraten vorletzten Samstag eine Wahlversammlung vor. Über dem Podium, auf dem vor mehr als zwanzig Jahren Frankfurter Richter den ersten Auschwitz-Prozeß verhandelten, befestigten NPD-Aktivisten ihr Spruchband: »Wir sind die Kraft, die Ordnung schafft.«

Nebenan, im Hof der Günderrode-Schule, bei Musik und Kinderspielen, feierten Sozialdemokraten und Grüne, Kommunisten, Kurden und Autonome eine »Fete gegen Ausländerfeindlichkeit« und Rechtsradikale. Als die ersten NPD-Wahlkämpfer, von Polizeibeamten eskortiert, zum Tagungslokal kamen, tönte es »Nazis raus« und »Deutsche Polizisten schützen die Faschisten«.

Einige der rund 500 Protestler wurden handgreiflich. Sie rissen zwei Beamten die Helme vom Kopf, schmissen Farbbeutel und Stinkbomben - Wurfgeschosse, die den Frankfurter Polizisten Sonntag für Sonntag an der Flughafen-Startbahn West entgegenfliegen.

Auch das ein gewohntes Bild: Nach Ende der Demonstration rotteten sich »vermehrt vermummte Personen« (Polizeibericht) zusammen. Wasserwerfer spritzten, um die Mengen zu zerstreuen.

Dann nahm die Szene gespenstische Züge an. Auf der Kreuzung Hufnagelstraße/Frankenallee, von Polizei-Scheinwerfern hell erleuchtet, blieb einer allein und völlig durchnäßt stehen: Günter Sare, 36, Schlosser aus dem Arbeiterviertel Gallus und stellvertretender Leiter des Jugendzentrums Bockenheim.

Ein Wasserwerfer richtete seinen Strahl auf Sare, ein zweiter rollte um die Ecke zur Verstärkung - »Wawe 9«, ein gigantischer 26-Tonner, von Demonstranten wegen seiner 16-bar-Wasserkraft als »Goliath« gefürchtet. Sare, berichteten Augenzeugen später, wurde von der Wucht eines Wasserstrahls umgeworfen und von »Wawe 9« überrollt.

Er lag auf dem Asphalt und »hat noch ein paarmal geschnauft«, erinnert sich die Sanitäterin Regina Maletzki, »so eine Schnappatmung, die nicht mehr ausreicht, um den Sauerstoffbedarf zu decken«.

Der Notarztwagen traf 20 Minuten nach dem Zwischenfall ein. Eine halbe Stunde später war Günter Sare tot.

Die Polizei sprach von einem »Verkehrsunfall mit tödlichen Verletzungen«. Kriminaltechniker fanden später am Wasserwerfer »Blutanhaftungen am hinteren Zwillingsreifen rechts und Teilen der Achse«.

Ein erster Obduktionsbefund ergab, wie es zu den tödlichen Verletzungen des Sozialarbeiters gekommen war: durch »Überrollen im Brustbereich und massive, stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf von der rechten Seite her«.

Minuten nach dem tödlichen Zwischenfall brannten unweit des Hauses Gallus, wo NPD-Chef Martin Mußgnug noch auf das »studierte Gesockse« draußen schimpfte, die ersten Bauwagen. Schaufensterscheiben klirrten. Bei der nahen »Frankfurter Allgemeinen« ging die Eingangstür zu Bruch, eine Brandbombe setzte das Ersatzteillager von Daimler-Benz in Flammen.

So war es, Anfang der Woche, Nacht für Nacht. Mit dem Schlachtruf »Feuer und Flamme für diesen Staat« fielen 300 _(Unmittelbar vor dem tödlichen ) _(Zwischenfall im Frankfurter ) _(Gallus-Viertel am 28. September. )

Streetfighter in das Frankfurter Bahnhofsviertel ein, zertrümmerten Hunderte von Schaufenstern, plünderten einen Juwelierladen, räumten einen Lebensmittelladen und eine Kaffeefiliale aus. Wer sich nächtens auf die Straße wagte, sah sich an Szenen aus Birmingham und Brixton erinnert, wie sie das Fernsehen letzthin geliefert hatte.

Die Welle der Gewalt schwappte auf Hamburg und Berlin über und, von Erlangen bis Oldenburg, in die Provinz. Chaoten bestimmten das Bild, Punks und Rocker mischten mit, Anarchos und Autonome traten an in ihren schwarzen Kampfanzügen, Halstuch vor dem Gesicht - Helm auf zur Randale.

Vor der Frankfurter Paulskirche, einst Stätte demokratischer Streitlust zwischen liberalem Bürgertum und linken Revolutionären, skandierten 2000 aufgewiegelte Demonstranten: »Rächt den Tod von Sare.«

Doch der tote Demonstrant war für jene, die plündernd und Steine schmeißend durch die Geschäftsstraßen zogen, allenfalls ein Alibi. »Sie berauschen sich an diesem Sterben«, schrieb die »Süddeutsche Zeitung« über die Motive der Gewalttäter, »um ihrem eigenen Leben ein wenig mehr Dampf zu machen« - so, als hätten sie auf ein »willkürliches Opfer« gewartet, um der »eigenen Willkür und Brutalität« den Schein einer Berechtigung zu verleihen.

Die Krawallserie, die seit einer Woche in der Bundesrepublik abläuft, hat kaum mit politischem Aufbegehren zu tun. Die Gewalt derer, die gegen die »betonierte Ordnung« anrennen, kann sich in jeder Stadt aus jedem beliebigen Anlaß entladen; sie ist allenfalls Ausdruck einer krisenanfälligen Wohlstandsgesellschaft,

die jene aussortiert, die Anpassung verweigern oder im Alltag versagen.

Wie gut die Krawallmacher, zumindest in Frankfurt, für die vermeintlich spontanen Wutausbrüche gerüstet waren, zeigte das Waffenarsenal, das die Polizei bei den Festgenommenen fand: Schlagstöcke, Krähenfüße, feststehende Messer, Feuerwerkskörper, Benzinkanister, Schraubenschlüssel und eine »Signalpistole Kaliber 8 Millimeter«.

Unter den 255 militanten Störern, die eingekesselt und vorübergehend festgenommen wurden, fand die Polizei viele »alte Bekannte«, die an der Startbahn West seit Jahren mit Stahlkugeln schießen. »Die tauchen immer auf«, sagt der hessische Polizeigewerkschafter Hansgeorg Koppmann, »wenn die Demo rum ist und es Zoff gibt« - kleine Gruppen, die von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet sind, szenenbekannt als »Schwarzer Block«.

Daß die Ausschreitungen im Gallusviertel ihren Anfang nahmen, ist kein Zufall. Im Arbeiterviertel mit 34 Prozent Ausländer- und hohem Arbeitslosenanteil, am Main auch »Kamerun« genannt, sind die sozialen Konflikte schärfer ausgeprägt als anderswo. Längst hat sich dort eine Subkultur entwickelt, in der »Anarchie« und »direkte Aktionen« propagiert werden.

Schlosser Sare war im Gallus zu Hause, ließ seit Jahren keine Demonstration aus. »Von Studenten, die immer nur schwätzen«, berichten Freunde, »wollte er nichts wissen.«

Wie der Schlosser unter die Räder des Wasserwerfers geriet, darüber gab es vergangene Woche von den Beteiligten widersprüchliche Versionen. Der Mediziner Andreas Bohm, der Erste Hilfe leistete, sah angeblich, wie der kleinere

der Wasserwerfer den Demonstranten Sare »regelrecht hetzte« und »Goliath« anschließend »auf ihn losfuhr«.

Die Besatzung des Wasserwerfers schweigt. Kommandant und Fahrer von »Wawe 9« sagten letzte Woche bei den Ermittlungen lediglich, Sare »nicht verfolgt und gejagt« zu haben. Detaillierte Angaben wollen beide erst später machen. Oberstaatsanwalt Reinhard Rochus: »Wir sind voll auf andere Zeugenaussagen angewiesen.«

Um zu dokumentieren, daß die Beamten im angemessenen Tempo ihren Einsatz fuhren, bezifferte die Polizeiführung die Einsatzgeschwindigkeit des Wasserwerfers auf »18 km/h«, laut Fahrtenschreiber. Doch der war, so Rochus, noch gar nicht ausgewertet: »Wo die das herhaben, wissen wir nicht.«

Ein Ingenieurbüro in Worms, für den TÜV Rheinland tätig, fand auf der Meßscheibe laut Rochus »keine Anhaltspunkte« für das Tempo. Die Staatsanwälte sandten das Gerät zur Auswertung an die Herstellerfirma Kienzle in den Schwarzwald. Die ermittelte schließlich am vergangenen Freitag für den Moment des Überfahrens »23 Stundenkilometer« - sehr schnell für einen Wasserwerfer (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 26).

Auch die von der Polizei noch am Tattag verbreitete Version, Sare sei wahrscheinlich vom Stein eines Demonstranten niedergestreckt worden, entlarvte die Staatsanwaltschaft alsbald als vorschnelle Schutzbehauptung. Rochus: »Dafür gibt es keine Beweise.«

Weil der Frankfurter Gerichtsmediziner Hans-Friedrich Brettel nach Ansicht der Mutter Sares bei der Obduktion zuviel Aufmerksamkeit darauf verwendet habe, Beweise für die Richtigkeit der Polizeiversion zu suchen, obduzierte am Freitag der Hamburger Gerichtsmediziner Werner Janssen die Leiche auf Anordnung des Amtsgerichts abermals.

Hessens Grüne, die derzeit mit der SPD über eine Regierungsbeteiligung verhandeln, verprellten mit Spontanaktionen und Schuldzuweisungen den künftigen Partner. Erst sagten sie eine Koalitionsverhandlung ab, dann fanden sie es, in einer öffentlichen Erklärung, »mehr als zweifelhaft, ob Günter Sare nicht absichtlich überfahren wurde«.

Wie es zum Tod des Demonstranten kam, will Hessens Innenminister Horst Winterstein jetzt von Günther Erkel klären lassen, dem früheren Staatssekretär im Bonner Justizministerium. »Die Zuständigkeit der Justiz für die strafrechtliche Aufklärung«, so der Minister, »bleibt davon unberührt.«

In den Mittelpunkt der Ermittlungen wird womöglich »Wawe 9«-Kommandant Winfried Reichert, 38, rücken, der die Justiz schon früher beschäftigt hat. Dem Polizeihauptwachtmeister wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, in Falschgeldhandel verwickelt gewesen zu sein. Er war angeklagt, 1979 in seiner Freizeit als privater Leibwächter mit seiner Waffe mehrfach die Übergabe von Blüten im Wert von 5,5 Millionen Dollar gesichert zu haben. Die Fälscher wurden zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, Reichert ging straffrei aus.

Gegen den Waffensammler mußte die Frankfurter Staatsanwaltschaft auch nach einer Startbahn-Demonstration ermitteln: Der Polizist habe Protestierer zusammengeschlagen. Das Verfahren wurde eingestellt, weil vor Gericht, wie so oft, »Aussage gegen Aussage stand«.

Reicherts draufgängerisches Vorleben hinderte Hessens Polizeiführung nicht, ihm die Ausbildung der Wasserwerfer-Besatzungen und die Führung von »Goliath« anzuvertrauen. Mangel an Umsicht, polizeiliche Übergriffe und Versuche, Fehlverhalten von Beamten zu vertuschen, sind an der Tagesordnung in Frankfurt.

Andererseits ist die Staatsanwaltschaft über lasche polizeiliche Ermittlungen verstimmt. Mit Unverständnis registrierten Beobachter des Raub- und Brandzuges das Verhalten der Polizei, die trotz zahlreicher Festnahmen mit einer einzigen Ausnahme keine strafrechtlichen Ermittlungen einleitete.

Dabei gibt das neue Demonstrationsrecht genug Handhabe, Krawalltäter zu belangen. Denn wer sich vermummt »in einer Menschenmenge« bewegt, aus der »Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen« begangen werden, kann mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft werden.

Zwar schmeißt jeder Gewalttäter vor der Festnahme Masken, Mollies und Messer weg, aber die sonst allgegenwärtigen Videokameras der Polizei könnten die Entmummungsbeweise liefern. Die Frankfurter Beamten versuchten indes gar nicht erst, solche Beweise zu sammeln. Der Vorsitzende der hessischen Kriminalbeamten, Hans Beurenmeister, klagte dennoch wahrheitswidrig, die Polizei sei von Gesetzgeber und Justiz »zum Nichtstun gezwungen«.

Schon früher hat die Frankfurter Polizeiführung versucht, mit ungewöhnlicher Taktik die Stimmung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Als Ende August eine Hundertschaft Randalierer, diesmal aus Anlaß der Proteste gegen Südafrikas Rassenpolitik, zerstörend durchs Bankenviertel zog, schaute die Polizei untätig zu und ließ die Vermummten gewähren.

Polizeisprecher Hans Neitzel erklärte die Zurückhaltung so: »Schließlich müssen wir das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts beachten, wonach bei einem Einschreiten die Interessen der überwiegenden Mehrheit der friedlichen Demonstranten berücksichtigt werden müssen.« Der Polizist argumentierte gezielt an der Sache vorbei: Die Karlsruher Richter hatten eindeutig klargestellt, daß unfriedliche Demonstrationen überhaupt keinen Schutz durch die Versammlungsfreiheit genießen.

Nachgiebigkeit gegenüber drohender Gewalt bei Demonstrationen, so mutmaßte schon die »Frankfurter Rundschau«, zeigten die Polizei-Verantwortlichen ganz bewußt: »um endlich nachweisen zu können, daß man mit dieser Art von Demonstrationsrecht nicht zurechtkommt«.

Die nächste Probe aufs Exempel steht für die Frankfurter Polizei Anfang dieser Woche aus: Da wird Günter Sare zu Grabe getragen. Und alle werden kommen.

Unmittelbar vor dem tödlichen Zwischenfall im FrankfurterGallus-Viertel am 28. September.

Zur Ausgabe
Artikel 9 / 85
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren