BERUFSKRANKHEIT Feuerfresser vergessen
Ist eine Krankheit, die nach fachärztlichem Urteil zweifelsfrei durch den Beruf verursacht wurde, von der Unfallversicherung auch dann als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn sie nicht in der bundesamtlichen Liste der Berufskrankheiten aufgeführt ist? Mit dieser grundsätzlichen Frage wird sich das Sozialgericht Augsburg demnächst beschäftigen müssen.
Das Verfahren vor dem Gericht, dessen Kammern erst vor wenigen Wochen ihre Arbeit aufgenommen haben, hat eine Vorgeschichte, die fast ein Jahr alt ist.
Vor einem Jahr nämlich gab es in der Bundesrepublik noch drei Artisten, die ihr Geld damit verdienten, daß sie nicht nur Feuer spuckten, sondern auch Feuer schluckten. Heute bestreiten nur mehr zwei durch Feuerfressen ihren Lebensunterhalt. Dem dritten Feuerfresser, Bernhard Neumair vom Circus Barum in Einbeck (Niedersachsen), der als einer der »Vier Asitas« auftrat, war schon im Frühjahr
*) Vorsitzender und drei Mitglieder des Verwaltungsrats der Städtischen Girokasse. 1953 ob seines beschwerlichen Gewerbes buchstäblich die Luft ausgegangen.
Bernhard Neumair suchte damals Hilfe in der Chirurgischen Universitäts-Klinik Heidelberg. Dort konstatierte man: Bronchialcarcinom im Bereich der rechten Lungenwurzel, kurz: Lungenkrebs. Hervorgerufen, so gutachteten die Heidelberger Chirurgen, durch häufiges Einatmen von Benzoldämpfen bei der Ausübung des Feuerfresser-Berufs.
Aber helfen konnte man dem Bernhard Neumair nicht mehr; am 26. Mai 1953 starb er an den Folgen des Lungenkrebses.
Nun hatte Bernhard Neumair, schon vor 25 Jahren vom Circus Barum als Feuerfresser engagiert, zeit seines anstrengenden und gefährlichen Artistenlebens regelmäßig - wie auch der Zirkus selbst als Arbeitgeber - den gesetzlich vorgeschriebenen Beitrag für die Unfallversicherung gezahlt. Und zwar an die für Artisten zuständige Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Fremdenverkehr.
Bei dieser Berufsgenossenschaft also beantragte Frau Laura Neumair, die Witwe des Bernhard Neumair, eine Hinterbliebenen-Entschädigung. Von der Heidelberger Klinik über den Zusammenhang der Krankheit ihres Mannes mit seinem Beruf unterrichtet, war die Witwe Laura Neumair fest davon überzeugt, daß die Berufsgenossenschaft das Gutachten einer Universitäts-Klinik respektieren und ihr eine Witwenrente zubilligen werde. Zumal Bernhard Neumair und der Circus Barum doch Jahr für Jahr pünktlich ihre Versicherungs-Beiträge gezahlt hatten.
Indes, die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Fremdenverkehr lehnte den Antrag ab. Sie bezweifelte zwar nicht, daß der Lungenkrebs des Verstorbenen »eine Auswirkung seiner beruflichen Tätigkeit sein kann«. Aber: »... nur sehen wir, da der Gesetzgeber keine entsprechende Handhabe gibt, keine Möglichkeit, Leistungen zu gewähren.«
Mit dem »Gesetzgeber« meinte die Berufsgenossenschaft die »Liste der Berufskrankheiten nach der Fünften Verordnung (des Bundesarbeitsministeriums) über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 26. Juli 1952«.
Nach den Ziffern 17 und 18 jener Liste zählt nämlich Krebs nur dann als Berufskrankheit, wenn es sich handelt um:
* Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderung durch Ruß, Paraffin, Teer, Anthrazen, Pech und ähnliche Stoffe;
* Krebs oder andere Neubildungen sowie Schleimhautveränderungen der Harnwege durch aromatische Amine*).
»Diese Voraussetzung«, so beschied die Berufsgenossenschaft den Antrag der Witwe Laura Neumair, »trifft bei Ihrem Ehemann nicht zu, da er an einem Lungenkrebs verstorben ist... so daß eine Entschädigungspflicht für die Berufsgenossenschaft nicht besteht... wenn auch nach dem ärztlichen Gutachten anzunehmen ist, daß der Lungenkrebs ihres Ehemannes durch seine Berufstätigkeit entstanden ist...«
Sagt der Geschäftsführer Hoppé von der Tourneeleitung des Circus Barum: »Als die Berufskrankheiten festgestellt... wurden, hat man am grünen Tisch vergessen, an die Feuerschlucker zu denken... ist die Zeit vorgeschritten und hat technische Neuerungen gebracht, und so muß eben die Liste der Berufskrankheiten ergänzt werden! Aber das Feuerfressen ist eine alte Sache, und darum mußten die Herren auch an diese Berufskrankheit denken!«
Nun ist die Liste der Berufskrankheiten selbstverständlich laufend ergänzt worden, zuletzt am 16. Dezember 1936, am 29. Januar 1943 und am 26. Juli 1952. Manche Krankheit, über deren ursächlichen Zusammenhang mit der Ausübung eines bestimmten Berufes heute keinerlei Zweifel mehr bestehen, wurde erst verhältnismäßig spät in die Liste aufgenommen. So war beispielsweise auch die Staublungenerkrankung (Silikose) Anfang der dreißiger Jahre noch nicht als Berufskrankheit anerkannt.
Ob nun aber der Bundesarbeitsminister bei einer Neufassung der Liste ausgerechnet die gefahrvolle Arbeit der restlichen beiden Feuerfresser berücksichtigen wird, das bleibt trotz aller amtlichen Bereitschaft, die Liste immer wieder zu ergänzen, durchaus fraglich.
Das Risiko der Anspruchsberechtigten wäre vermutlich zu groß, wenn es auch nicht groß genug ist, um den Versicherungszwang für feuerfressende Artisten aufzuheben. Zirkus-Geschäftsführer Hoppé: »Wenn auf der einen Seite eine zwangsweise Mitgliedschaft erforderlich ist, müssen auf der anderen Seite auch die Leistungen vorhanden sein.«
*) Abkömmlinge des Ammoniaks in Verbindung mit einem Benzolring. Beispielsweise Anilin und Butterfarbstoff.