ENGLAND Finger am Abzug
Dem liberalen »Guardian« schien ein Schritt zur einseitigen atomaren Abrüstung verwirklicht, die patriotische »Daily Mail« hingegen litt unter einer schauerlichen Vision: »Während die Männer im Kreml brüllen vor Lachen, bemühen sich unsere Nato-Partner angestrengt, ihre Verlegenheit und ihr Mitleid zu verbergen« -- Mitleid mit Britanniens atomarer Abschreckung.
Die nämlich war in der vergangenen Woche weitgehend lahmgelegt -- per Streik. Denn die 183 000 von der Regierung beschäftigten Arbeiter. darunter auch ziviles Wartungspersonal der Streitkräfte, hatten sich mit taktischem Kalkül den strategischen U-Boot-Stützpunkt Faslane an der Mündung des schottischen Flusses Clyde ausgesucht. um ihrer Forderung nach mehr Lohn Nachdruck zu verleihen.
Nachdem die Gewerkschaften das Regierungsangebot auf zehn Prozent Zuschlag abgelehnt hatten, weigerten sich die 500 Dockarbeiter in Faslane,
Mit einem Schlag waren damit drei Viertel von Englands strategischer U-Boot-Flotte außer Gefecht gesetzt: Da zwei weitere Polaris-U-Boote in dem Marine-Stützpunkt Rosyth überholt werden und deshalb nicht einsatzbereit sind, die »Revenge« nicht auslaufen konnte, kreuzte nur noch das vierte strategische U-Boot, die »Resolution«, im Atlantik -- bereits seit zwei Monaten unter Wasser und reif für die Ablösung durch die bestreikte »Revenge«.
Die strategischen U-Boote (Stückpreis während ihrer Bauzeit 1964 bis 1969 etwa 500 Millionen Mark), deren Einsatz und Wartung jährlich etwa 400 Millionen Mark kostet (1.3 Prozent des gesamten Verteidigungs-Budgets), waren damit, so ein Marine-Offizier, »kaum noch einen Shilling wert«.
Dennoch weigerten sich die kriegerischen Dockarbeiter, auch nur auf einen befristeten Waffenstillstand einzugehen, und lehnten jede Verantwortung für die verminderte Verteidigungsbereitschaft Englands ab: »Nicht wir, sondern die Regierung gefährdet die Sicherheit von Britannien!« erklärte um Diamond, Sprecher der Gewerkschaft in Faslane.
Am vergangenen Mittwoch morgen entschloß sich die Admiralität deshalb zu einem Kommando-Unternehmen. Sie sperrte den Stützpunkt für Zivilarbeiter und ließ die Raketen von einer Sondereinheit auf die »Revenge« schaffen.
Dieser »Streikbruch« freilich führte nur zu einer Eskalation des Kleinkriegs zwischen der Marine und ihren aufsässigen Arbeitern: Die Werker beschlossen, für Mittwoch, den 2. August, zunächst einen eintägigen Warnstreik aller 183 000 »Verteidigungsarbeiter« auszurufen.
Denn dem eintägigen Warnstreik soll später ein Massenstreik folgen, wenn die Regierung nicht doch noch nachgibt. Ein solcher Streik würde, lang genug durchgehalten, die gesamten Streitkräfte des Vereinigten Königreiches außer Gefecht setzen: die Feuerwehr auf den Flughäfen der Roval Air Force. die Wartung der Kampfflugzeuge und der Panzer, die Produktion in den königlichen Waffenfabriken und die Logistik aller Waffengattungen.
Doch trotz der erwarteten Schäden fällt es der gewerkschaftsnahen Labour-Regierung von um Callaghan schwer, den Streikenden nachzugehen. Denn die Forderung der Verteidigungsarbeiter kommt zum ungünstigsten Zeitpunkt: Soeben hat Callaghan in einem Weißbuch mitgeteilt, (laß er im kommenden Lohnjahr einseitig und gegen den erklärten Willen des Gewerkschaftsbundes Lohnerhöhungen von maximal nur fünf Prozent genehmigen will.
Ein Tarifabschluß von über zehn Prozent wäre ein Signal, das die restriktive Lohnpolitik der Regierung für die nächsten zwölf Monate bereits jetzt lächerlich machen würde.
Jim Callaghan steht deshalb in dieser Woche vor der Frage, was er höher bewerten soll: die Glaubwürdigkeit seiner Lohnpolitik oder die äußere Sicherheit seines Landes, und vor allem, wie die »Daily Mail« fragte, wer bei den Atomraketen der »Polaris«-U-Boote »den Finger am Abzug hat« -- Gewerkschaften oder Regierung.