Fischzug im Datensee
Das Siegel der Pentagon-Behörde drückte präzise aus, worum es ging: Von der Spitze einer Pyramide blickt ein allsehendes Auge auf den Globus herab. Die einzig offene Frage: Handelt es sich um das Auge Gottes oder das von Vizeadmiral a. D. John Poindexter?
Der einstige Sicherheitsberater des Präsidenten Ronald Reagan war 2003 Chef des Büros für Informationssammlung und wälzte gigantische Pläne. Auf den mächtigen Computern seines Ministeriums wollte er Software arbeiten lassen, die in kürzester Zeit »viele Petabytes« analysieren könnte.
Nun reicht schon ein Petabyte aus, um über jeden der 6,4 Milliarden Erdbewohner etwa 40 Seiten Informationen abzuspeichern, und in einem solchen Ozean von Daten wollte Poindexter nach Terroristen fischen. Die Vernetzung aller möglichen Datenbestände, Kreditkartentransaktionen ebenso wie Einwanderungsregister, Gesundheitsinformationen, Führerscheinkarten oder die Passagierlisten von Fluglinien sollte bei entsprechender Kalibrierung der Informationen dafür sorgen, dass die Regierung rechtzeitig auf Verdächtige aufmerksam wird, die möglicherweise einen Anschlag planen.
Weil aber die Amerikaner empfindlich sind, wenn ihre Geheimdienste nicht nur auswärtige Verdächtige ins Visier nehmen, sondern ihre eigenen Lebens- und Konsumgewohnheiten, gab es einen kurzen, aber gewaltigen Aufschrei, und der Kongress schloss die Behörde. Poindexters Fazit: »Nur weil etwas kontrovers ist, heißt das noch lange nicht, dass man es sich nicht anschauen sollte.«
Das scheint seit je das Motto der US-Regierung gewesen zu sein, denn Poindexters Datenverarbeiter waren wohl nicht die Einzigen gewesen, die sich auf solche Fischzüge spezialisiert hatten. »Data mining« war auch die Hauptbeschäftigung einer anderen Pentagon-Truppe, die sich »Able Danger« nannte, von deren hochgeheimer Existenz nicht einmal der heutige Chef wusste. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gestand vorige Woche: »Ich hatte keine Ahnung.«
Den Datenfischern von Able Danger scheint allerdings ein spektakuläres Kunststück gelungen zu sein. Im September 2000, also genau ein Jahr vor den Anschlägen und noch zur Amtszeit von Bill Clinton, soll die Spezialeinheit eine mögliche Qaida-Zelle identifiziert haben, die offenbar aus vier Mitgliedern bestand: den späteren Hijackern Chalid al-Midhar und Nawaf al-Hamsi, die der CIA schon Anfang 2000 bei einem Geheimtreffen aufgefallen waren - sowie Mohammed Atta und Marwan al-Shehhi, jenen Hamburger Todespiloten, die am 11. September 2001 ihre entführten Maschinen in das World Trade Center steuerten.
Die nur allzu präzise Enttarnung, von einem republikanischen Kongressabgeord-
neten enthüllt, ist eine Sensation: Bislang galt etwa der Ägypter Atta vor seinem Anschlag als völlig unbeschriebenes Blatt - als einer jener »Schläfer«, die zuvor nie aufgefallen waren und die deswegen besonders gefährlich sind.
Bei allen drei Einreisen in die USA war Atta der US-Einwanderungsbehörde erfolgreich durch die Maschen geschlüpft. Dabei haben die Beamten einen weit größeren Zugriff auf Daten als etwa deutsche Grenzer - doch im Vergleich zu dem, was die Pentagon-Spezialeinheit an Daten rastern kann, nimmt sich ihr Zugriffspotential bescheiden aus. »Starlight« und »In-Spire« nennen sich zwei der Programme, mit denen die Militärs Informationen abgleichen, auf Unstimmigkeiten überprüfen und so Verdächtige herausfiltern.
Mit diesen Programmen, die nur die US-Geheimdienste und ausgewählte Sicherheitsbehörden nutzen dürfen, »erhalten wir einen tiefen Einblick in das, was auf den ersten Blick wie einzelne Informationsstückchen erscheint«, lobt Sicherheitsexperte John Petersen. »Durch die Computertechnologie geben wir den Details einen Sinn.« Programme wie Starlight erlauben aber auch die Überwachung von Personen, indem die Standorte von Telefonen nachvollzogen und mit Erkenntnissen etwa aus dem Einsatz von Kreditkarten kombiniert werden.
Nun entbrennt in den USA erneut eine Diskussion darüber, wie engmaschig der Staat die Netze auswerfen darf, um seine Bürger vor Terroristen zu schützen. Verteidigungsminister Rumsfeld muss sich eine Menge Fragen gefallen lassen: Dank welcher Dateien kamen die Auswerter ausgerechnet auf Atta und Shehhi? Und warum gab die Armee ihr Wissen nicht an das FBI oder die CIA weiter?
Zumindest auf die letzte Frage gibt es eine schlüssige Antwort. Im Herbst 2000 legten die Pentagon-Analytiker ihren Vorgesetzten eine Materialsammlung vor, darunter auch das Passbild Attas, das der Student seinem Visumsantrag beigelegt hatte. Die Auswerter baten, die Dokumente an das FBI weiterzureichen. Doch die Hausjuristen des Verteidigungsministeriums untersagten die Weitergabe. Sie fürchteten Ärger um eine mögliche Verletzung von Datenschutzvorschriften.
HANS HOYNG, HOLGER STARK
* Unten: auf einem Überwachungsvideo des Flughafens Portland, Maine, am 11. September 2001.