Spiegel des 20. Jahrhunderts Fitneß: Reich der Unfreiheit?
Von Hans Halter
Als der Mensch das Auto erfunden hatte, die Rolltreppe und den Fahrstuhl, verloren seine Muskeln an Kontur, etwa der Bizeps am Oberarm und der Glutaeus maximus, der den Po rundet. Ein Desaster? Scheint so.
Jedenfalls sind Millionen Deutsche Tag um Tag damit beschäftigt, ihre Muskeln wieder in Form zu bringen, am liebsten im Fitneßstudio. Davon gibt es derzeit gut 5500, und die Fitneßbranche geht laut »Handelsblatt« »vorsichtig davon aus, daß es im Jahre 2000 rund fünf Millionen« zahlende Fitneß-Fighter geben wird, eher mehr.
Sie stampfen und schwitzen, dehnen und drücken, beschleunigen den Puls auf 13o pro Minute, notfalls gar auf 180. Es ist ein Kampf des Menschen gegen das Eisen der Fitneßmaschinen. Solche Leibesertüchtigung soll gesund sein, soll dem Körper die Spannkraft eines Panthers geben.
Viele herkömmliche Sportvereine - die Turner und die Leichtathleten vor allem - sind sauer, daß der Trend vom Turnvater Jahn zur Aerobic-Schönheit Jane Fonda gelaufen ist, vom Waldläufer Nurmi zum Laufband mit elektronischer Herz-Kreislauf-Kontrolle (wie auf der Intensivstation). Läßt sich das Blatt wenden? Wohl kaum, denn jedweder Sport ist immer auch ein Kind der Mode.
Früher gab es Synchron-Gymnastik mit Hunderten von Teilnehmern; man rannte dreibeinig um die Wette, ritt ein Pferd zuschanden oder prügelte sich ohne Boxhandschuhe. Zu jenen Zeiten galt Sport noch als Zerstreuung, als schönste Nebensache der Welt. Dann wurde das Gesundheitsargument dem sportlichen Spiel beigegeben, wenig später noch die Idee, Sport mache den Leib schön, schlank und sexy; kurzum: fit. Seither boomt das Gewerbe. Gedreht wird ein großes Rad.
Dabei stützt sich die Grundannahme, Leibesertüchtigung im Fitneßstil sei gesund, keineswegs auf Beweise - sie ist eher Glaubenssache. Statistisch gesehen leben sportliche Menschen nicht länger als unsportliche. Dem deutschen Sportmediziner Richard Rost verdankt die Wissenschaft eine Aufklärung en détail: »Sportler leben nicht länger, sie sterben nur gesünder.«
Ob »sportliche Bewegung, vernünftig betrieben«, wirklich die »beste Medizin« ist, wie das der Deutsche Sport Bund behauptet, mag man glauben oder nicht. Hundertjährige haben sich oft lebenslang bewegt, aber Sport stets gemieden. Wahrscheinlich lassen sich gesunde Organe durch Fitneßübungen nicht länger leistungsfähig halten, oft im Gegenteil.
Sehr wackelig ist etwa die Behauptung, ein gesundes Herz verlange nach Sport. Kann sein, kann nicht sein. Die Statistiken widersprechen sich. Mit Sicherheit ist Leistungs-, gar Hochleistungssport dem hohlen Muskel Herz schädlich. Es wird immer größer ("Ochsenherz") und gerät aus dem Takt. Das nennt der Sportarzt dann gern ein »Sportlerherz«, meist hat er selber eines und redet sich sein eigenes Ende schön.
Wer seine Haut im Solarium bräunen läßt und im Fitneßstudio modisch gedreßt erscheint, dem geht es meist weder um die Knorpel noch um den Herzmuskel, geschweige die Lebenserwartung. Fitneß soll helfen, das Übergewicht hintan zu halten und die sexuelle Attraktivität zu bewahren, besser noch: zu mehren. Deshalb versprechen die Hollywood-Schönheiten, Vorturnerinnen der neuen Mode, ungeniert: »Sie werden mehr Spaß an der Liebe haben.« Das wäre ja was.
Sigmund Freud, den - unsportlichen - Entdecker des Unbewußten, hat vor Jahrzehnten die gegenteilige Sorge bedrückt. »Bekanntlich«, so schrieb er, »bedient sich die moderne Kulturerziehung des Sports im großen Umfang, um die Jugend von der Sexualbetätigung abzulenken.«
Mag sein, daß dies zu wilhelminischen Zeiten und auch in den Wehrsportlagern des - unsportlichen - Adolf Hitler so war, heute gilt offenbar: Der straffe Bizeps und ein halbkugeliger Glutaeus maximus sollen die Partnerfindung oder auch den Sexualgenuß steigern. Viele Fitneßcenter sind zugleich Partnermärkte, Freud würde große Augen machen.
Und auch der dicke und unsportliche Theodor W. Adorno, führender Soziologe der »Frankfurter Schule« und 1969 nur 65 Jahre alt gestorben, müßte sich wohl korrigieren. Der Gelehrte hielt »Fitneß für die Arbeit« für den »geheimen Zweck des Sports«.
Beim Thema Leibesübungen kam der Denker mächtig in Schwung: »Der moderne Sport, so ließe sich sagen, sucht dem Leib einen Teil der Funktionen zurückzugeben, welche ihm die Maschine entzogen hat. Aber er sucht es, um die Menschen zur Bedienung der Maschine um so unerbittlicher einzuschieben.« Logische Schlußfolgerung: »Er ähnelt den Leib tendenziell selber der Maschine an.« Darum gehöre der Sport »in das Reich der Unfreiheit, wo immer man ihn auch organisiert«.
Diese Analyse werden die Fitneßjünger komisch finden. Wer einen Frisbee-Finger (Hautabschürfungen an der Wurfhand) hat, einen Bowling-Ellenbogen oder den Jogger-Nippel (Entzündung der Brustwarze durch Sportbekleidung), wem die Knie schlackern oder der Schädel brummt, der geht zu seinem Orthopäden. Dort ist bereits jeder zweite Patient ein lädierter Sportsfreund.